Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

03/12

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Und wo bleibt der Klassenkampf?
Anmerkungen zur Behandlung der Krise durch die SIB
von Karl-Heinz Schubert

In seiner Untersuchung  der aktuellen Wirtschaftskrise "Finanzmarktkrise - Mythos und Wirklichkeit" resümiert Guenther Sandleben:

Auf den ersten Blick waren es die besonders schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten, die der Krise ein solches Attribut geben konnten. Unsere Analyse wies jedoch nach, dass solche Verwerfungen bei aller Heftigkeit doch nur eine Folgeerscheinung der Überproduktionskrise waren. Die Kreditkrise war nicht mehr als eine Konsequenz der Absatzkrise, die anfangs beschränkt war auf den US-Häusermarkt, später dann alle großen Produktionszweige des Weltmarktes erfasste, wodurch die entsprechenden Kredite, die das nun stockende Geschäft einst finanziert hatten, faul wurden. Das Zentrum solcher Kreditgeschäfte, Banken, Geld- und Kapitalmärkte, musste zwangsläufig erschüttert werden.“ (S.87)

Im Vergleich zu diesem klar definierten Untersuchungsergebnis scheint das SIB-Papier „Casino oder Überakkumulation?“  mit seinen 13 Thesen einer klaren Antwort auf die selbst gestellte Frage auszuweichen. Nach endlos langen Beschreibungen der Krise und ihrer Bekämpfung durch die bürgerliche Politik, wie sie im Wirtschaftsteil jeder gutbürgerlichen Zeitungen nachzulesen sind, ergänzt durch Polemiken gegen „ReformistInnen“ und „GradualistInnen“(1), heißt es im Abschnitt 11 „Gestützt, getrieben oder dominiert?" ein wenig mager:

„'Krisen-Kapitalismus' trifft das Problem nicht, denn der Kapitalismus ist erstens mehr als 'Krise' und zweitens hatten frühere Krisen ja gerade einen anderen Charakter als die heutigen. Bei der „Finanzaristokratie“ geht es um die handelnden Akteure und 'Blasen-Kapitalismus' ist zwar noch am dichtesten an der Sache, klingt aber zu medizinisch, irgendwie nach „Blasenentzündung“. Nach heftiger Debatte in der SIB (auch hier gibt es eine Mehrheits- und Minderheitsposition) haben wir uns für finanzmarktgetriebener Kapitalismus entschieden.“ [Unterstreichung von mir] (2)

Für die so genannte SIB-Minderheitsposition stellt sich der Sachverhalt in ihren „Minderheitsvotum zum SIB-Papier“ dagegen folgendermaßen dar:

„'Der Kapitalismus' oder 'die Realwirtschaft' wird nicht etwa von den Finanzmärkten schikaniert oder tyrannisiert, sondern Industrie und Handel stützen sich auf die Finanzmärkte, die Finanzbranche reagiert auf Anforderungen von Handel und Industrie.“(3)

Daher bezeichnet die SIB-Minderheit diesen Zusammenhang als finanzmarktgestützten Kapitalismus“, um daran anschließend der Frage nach dem tendenziellen Fall der Profitrate nachzugehen, einer Tendenz, die aus der Akkumulation – d.h. der Verwertung des Werts/Mehrwerts gesetzmäßig erwächst. Die Minderheit glaubt offensichtlich, mit reiner Rhetorik vor der Beschäftigung mit diesem Problem ausweichen zu können:

Und die entscheidende Frage lautet: Warum sollte das Kapital jemals v durch c ersetzen, wenn dadurch die Profitrate sinkt (also das Sinken von v nicht durch ein Steigen der Mehrwertrate kompensiert wird), oder gar v auf Null fallen lassen, was in Tat gleichbedeutend mit einem Ende des Kapitalismus wäre (da keine profitable Produktion mehr möglich wäre)?! Die bisherigen VerteidigerInnen des Gesetzes haben keinen Zwangsmechanismus benennen können, der das Kapital zwingen würde, sich dermaßen selbstschädigend zu verhalten; und auch im Papier der Mehrheit können wir keine Benennung eines solchen Zwangsmechanismus erkennen.“

und beweist damit nur, dass sie das Gesetz der tendenziellen (!) Falls der Profitrate überhaupt nicht begriffen hat.

Dies zeigt sich schon rein sprachlich, indem dem Kapital ein „Zwangsmechanismus“ gegenüber gestellt wird, der scheinbar durch die Konkurrenz von außen wirkt, wo es sich stattdessen um eine innere Entwicklungslogik der Kapitalverwertung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene handelt. Es werden sozusagen die äußeren Zwänge, denen das einzelne Kapitals unterworfen ist, auf die Produktion und Reproduktion des Gesamtkapitals projiziert (4).

Doch zunächst ein Rechenbeispiel (5):

Konstantes Kapital Variables Kapital Organische Zusammensetzung des Kapitals Rate des Mehrwerts Masse des Mehrwerts bzw. Profits Profitrate

c

v

c : v

m'

m = m'v
             m
    p'  = --------- x 100
            c + v
50 100 0,5:1 100% 100 66,6%
100 110 03:1 100% 110 52,4%
200 120 1,7:1 100% 120 373%
300 130 2,3:1 100% 130 30,2%
400 140 2,8:1 100% 140 26,0%

Dazu vermerkt Karl Marx:

„So einfach das Gesetz nach den bisherigen Entwicklungen erscheint, sowenig ist es aller bisherigen Ökonomie gelungen..., es zu entdecken. Sie sah das Phänomen und quälte sich in widersprechenden Versuchen ab, es zu deuten. Bei der großen Wichtigkeit aber, die dies Gesetz für die kapitalistische Produktion hat, kann man sagen, daß es das Mysterium bildet, um dessen Lösung sich die ganze politische Ökonomie seit Adam Smith dreht, und daß der Unterschied zwischen den verschiednen Schulen seit A.Smith in den verschiednen Versuchen zu seiner Lösung besteht. Erwägt man aber andrerseits, daß die bisherige politische Ökonomie um den Unterschied von konstantem und variablem Kapital zwar herumtappte, ihn aber nie bestimmt zu formulieren verstand; daß sie den Mehrwert nie getrennt vom Profit und den Profit überhaupt nie rein, im Unterschied von seinen verschiednen gegeneinander verselbständigten Bestandteilen - wie industrieller Profit, kommerzieller Profit, Zins, Grundrente - darstellte; daß sie nie gründlich die Verschiedenheit in der organischen Zusammensetzung des Kapitals, daher ebensowenig die Bildung der allgemeinen Profitrate analysiert hat - so hört es auf, rätselhaft zu sein, daß ihr die Lösung dieses Rätsels nie gelang." (MEW, Bd. 25, S. 223f.)

Schließlich handelt das Einzelkapital nicht nach den in der obigen Frage der SIB-Minderheit angedeuteten vermeidlich vernünftigen Einsichten, da die empirische Kenntnis von c + v + m für die Profitmacherei schlicht überflüssig ist. Dazu Guenther Sandleben trefflich in der Fußnote 82 seiner Untersuchung:

Das konstante Kapital erscheint im Warenwert nur wieder, weil der entsprechende Wert zuvor schon da war und von der konkret nützlichen Arbeit auf den Arbeitsgegenstand übertragen wurde. V+M sind hingegen neu produzierte Werte. Aber dieser Unterschied ver­schwindet, sobald wir den oberflächlichen Standpunkt eines Einzelkapitals einnehmen. In seiner Kostenrechnung stellen sich diese Wertbestandteile als Kostpreis (im Sinne von Selbstkosten) plus Profitaufschlag dar. Wie Marx herausfand, werden die inneren Wertverhältnisse hauptsächlich durch drei Umstände mystifiziert: Erstens durch die Kategorie des Kostpreises, worin die beiden verschiedenen Wertbestandteile, nämlich der von der Arbeit übertragene Wert der Produktionsmittel und der von der Arbeit neu geschaffene Wert unterschiedslos zusammengebracht sind. Die Quelle des Neuwerts, also die Arbeit, und damit die Quelle des Mehrwerts, die unbezahlte Mehrarbeit sind ausgelöscht. An die Stelle des Unterschieds von konstantem und variablem Kapital tritt der von zirkulierendem und fixem Kapital. Eine zweite Quelle der My­stifikation bildet der Kostpreis dadurch, dass er Teile des Mehrwerts in vorausgesetzte Kostengrößen verwandelt, wie den zu zahlenden Zins, Mietkosten, Pacht, Steuern etc. Drittens ist der verbleibende Mehrwert dadurch mystifiziert, dass er scheinbar aus allen Teilen des Kapitals zu entspringen scheint, also auch aus dem konstanten Kapital. Zudem weisen die Profite je nach Unternehmen eine unterschiedliche Höhe auf, so dass sich die erfolgreicheren Unternehmer einbilden können, dass ihr besonderes Geschick zumindest einen Teil des Überschusses hervorgebracht hat. Solche Mystifikationen hat Marx zu Beginn des dritten Bandes des Kapitals entwickelt und die Vermittlung hergestellt zwischen den verborgenen Wertkategorien und den erscheinenden Kostengrößen.“ (S.93)

Wer nun glaubt, dass die Beschäftigung mit dem tendenziellen Fall der Profitrate eine mehr akademische Frage sei, der sollte bedenken, dass wenn das Kapital die Schlussfolgerungen aus der Marxschen Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie durch seine handelnden Subjekte bewusstlos exekutiert, die Folgen für die lohnarbeitenden bzw. von Lohnarbeit ausgeschlossenen Massen, verheerend sind – um im Folgenden dies anhand einiger Beispiele zu zeigen.

a) auf der Ebene des Verkaufs der Ware Arbeitskraft

  • Überflüssigmachen von LohnarbeiterInnen
     
  • Erhöhung des Ausbeutungsgrades der Lohnarbeit
    • durch Steigerung des absoluten Mehrwert z.B. durch Verlängerung des Arbeitstages
    • durch Steigerung des relativen Mehrwerts durch Leistungsverdichtung
       
  • Herabsetzung des Lohnes unter den Wert der Ware Arbeitskraft
    • durch Ausweitung von Leiharbeit und Beschäftigung mittels Werkverträgen und Scheinselbständigkeit
    • durch Umwandlung von „Normal“arbeitsverhältnissen in Teilzeitbeschäftigung
    • durch Einsatz von Zwangsarbeit vermittelst Hartz IV
Gerade die Herabsetzung des Arbeitslohns unter seinen Wert ist nach Marx „eine der bedeutendsten Ursachen, die die Tendenz zum Fall der Profitrate aufhalten“. (MEW 25, 245)

b) auf gesamtgesellschaftlicher Ebene

  • Verkleinerung des Revenuefonds (Anteil an der jährlichen Mehrwertmasse) der proletarischen Klasse
    • z.B. durch eine entsprechende Finanz- und Steuerpolitik
    • z.B. durch Senkung von staatlichen Infrastrukturausgaben (Bildung und Erziehung, soziale und medizinische Einrichtungen)
    • z.B. durch Reprivatisierungen und Kapitalisierung von Staatsfunktionen
    • z.B. durch Erhöhung der täglichen Reproduktionskosten im Bereich Wohnen/Verkehr durch Begünstigung von Investoren und Kappung von hinderlich Regulierungen zu deren Gunsten
    • z.B. durch Erhöhung der staatlichen Ausgaben für die Repressionsapparate Militär und Polizei
       
  • durch Konzentration und Monopolisierung
  • durch Verschmelzung von produktivem Kapital mit Finanzkapital
  • durch Kapitalexport sowie Verlagerung von Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer
  • durch Krieg
Oder anders: Was die Abwälzung der Krise auf die lohnabhängigen Massen heute konkret heißt, hier in der BRD sowie in der EU und dies betrachtet im Kontext der ökonomischen Zusammenhänge des Weltmarktgeschehens gehört ebenso in ein "Krisenpapier" wie die Darlegung von Stockungen, Entwertungen und Umgruppierungen auf der Kapitalseite.  Zu dieser "Leerstelle"  erklärt die SIB-Mehrheit erfreulicherweise bescheiden am Ende ihrer langen Ausführungen selbstkritisch :

„Wir sind nicht so vermessen, zu glauben mit dieser Wortmeldung einen „fertigen“ Krisenbegriff abgeliefert zu haben – es handelt sich um einen ersten Diskussionsbeitrag mit vielen Leerstellen und Unzulänglichkeiten. Das gilt insbesondere für den ausschließlich „klassenzentrierten“ Blick auf die Krise. Ob und wenn ja warum Frauen und Nicht-Weiße besonders von der Krise betroffen sind, welche politischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen wären usw. – das wird in diesem Beitrag überhaupt nicht erörtert. Statt dem mit ein paar wohlfeilen und politisch-korrekten Sätzen „abzuhelfen“, bekennen wir uns lieber offen zu diesem Defizit, um gegebenenfalls zu dieser Frage noch mal nachzulegen.“ (Unterstreichungen von mir)

Da gibt es offensichtlich keine Differenz zwischen SIB-Mehrheit und -minderheit. Vielmehr versucht die Minderheit , gleich im 1. Abschnitt ihres Papier im Kapitel "Zur politischen Lage und den politischen Aufgaben" in "dieser Frage noch mal nachzulegen". Es wird zunächst ganz allgemein festgestellt:

"Unsere aktuellen Aktionslosungen und Taktiken, müssen wir aber aus einer Analyse heutiger kapitalistischer Gesellschaftsformationen gewinnen."

Wie das gehen soll, stellt sich die SIB-Minderheit sodann folgendermaßen und leider auch nicht konkreter vor:

"Es geht darum, möglichst erfolgreich Kampferfahrungen sammeln und dadurch Selbstvertrauen als Lohnabhängige zu gewinnen; es geht darum, Vertrauen für RevolutionärInnen bei den Massen durch konstruktive, wenn auch nicht unkritische, Beteiligung auch an reformerischen Kämpfen gewinnen; es geht darum, anhand von Bewegungs-/Protest-Anlässen, die systematischen Zusammenhänge und Ursachen der in den Bewegungen und Protesten thematisierten einzelnen Phänomene/Symptome sowie die systematischen Reformgrenzen aufzeigen, und dadurch für die Notwendigkeit einer Revolution zu argumentieren."

In dieser Allgemeinheit handelt es sich allerdings um Aufgabenstellungen, wie sie unabhängig vom aktuellen Zustand des Kapitalismus immer richtig sind. Die Schwierigkeit beginnt freilich dort, wo die Spezifika des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Etappe der Krisenentwicklung  herauszuarbeiten wären(6). Da reicht es auch nicht aus, wenn SIB-Mehrheit und -Minderheit behaupten:

 „Der Kapitalismus des 21.Jahrhunderts ist dreifach schwer angeschlagen. Wir erleben nicht nur eine ökonomisch / soziale und eine ökologische Krise, sondern auch eine der Legitimation und der Repräsentation“.

Unbeschadet dessen, dass die allgemeine Krise (politisch, ökonomisch, ideologisch) zum (Spät-)Kapitalismus gehört wie Ebbe und Flut zur Nordseeküste gehören und der Kapitalismus von daher zyklisch immer "schwer angeschlagen" ist, kommt es doch gerade doch darauf an, herauszuarbeiten, ob es dem Proletariat gelingt, in der Krise zu kämpfen und vor allem mit welchen Perspektiven. Diesbezüglich nur zu verkünden, mensch würde auch an reformistischen Kämpfen teilnehmen wollen, ist ein wenig dünn, wenn das selbst gesteckte SIB-Ziel ihres Krisenpapiers lautet:

"Also fangen wir endlich an, offen und ernsthaft über revolutionäre Organisierung zu reden – nicht als Selbstzweck, sondern um unsere konzeptionellen Lücken zu schließen."

Vielmehr bedarf es an der Stelle von volkswirtschaftlichen Betrachtungen über derzeitige bürgerliche „Krisenbearbeitung“ einer auf den Klassenkampf bezogenen Analyse der Maßnahmen, die die Kapitalseite ergreift, um den Kapitalverwertungsstau auf den eigenen Grundlagen (der Verwertungslogik) zu überwinden. Dabei wären die Haupt- und Nebenwidersprüche herauszuarbeiten, die vom Standpunkt des Proletariats in diesem gegenwärtigen Krisenprozess Wirkung erlangen, um seine politischen und ökonomischen Interventionen und die antikapitalistische Organisierung voranzubringen.

Eine solche klassenpolitisch orientierte Untersuchung müsste konkret aufzeigen, wie sich die "Krisenbearbeitung"  z.B. in der BRD auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für die proletarische Klasse auswirkt.  Dabei ginge es z.B. um folgende Fragen: Mit welchen Methoden versucht die herrschende Klasse aktuell, den Revenuefonds des Proletariats zu ihren Gunsten zu verkleinern? Zu welchen Kämpfen neigen die Betroffenen von sich aus gegen diesen Sozialraub? Durch welche eigenen materiellen Interessen, durch welche Erfahrungen(7)  und mit welchen ideologischen Botschaften werden die LohnarbeiterInnen dennoch gebunden, ihre Aktionslosungen ausschließlich in der Logik des kapitalistischen Geschäftsbetriebes zu formulieren?  Welches ist gesamtgesellschaftlich der gegenwärtige Hauptwiderspruch, auf dessen Grundlage sich die Klasse trotz ihrer differierenden Teilinteressen z.B. gegen Rentenalterverlängerung, HartzIV-Zwangsarbeit, Eindämmung der Staatsschulden durch die Rasierung von sozialen Versorgungseinrichtungen, Finanzierung von Kriegspolitik und Kapitalvernichtung usw. zusammenschließen könnte.?

Und weiter: Welche Teilbereichskämpfe werden gegen Verschlechterungen in Schule, (außerbetrieblicher) Ausbildung und Studium geführt? Sind nur die Auszubildenden aktiv oder kämpfen auch dort Beschäftigte für sich und/oder gemeinsam mit SchülerInnen und StudentInnen? An wen werden die Forderungen adressiert? Entstehen nur Staatsverdrossenheit oder auch Ansätze von Einsichten in den strukturellen Zusammenhang Staat, Kapital & Krise?

Im Hinblick auf Klassenkämpfe im Stadtteil unter Krisenbedingungen ist hier mit Bezugnahme auf Claus Offes Thesen zum Konflikt zwischen erweiterter Reproduktion des Kapitals und einfacher Reproduktion der Arbeitskraft:

"In allen hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften, auch und gerade in denjenigen, die sich mit dem Begriff des 'Wohlfahrtsstaates' schmücken, treffen wir heute die Situation an, daß die (in der Regel) steigenden Realeinkommen hinter den ebenfalls wachsenden gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft dauernd zurückzubleiben drohen und sie immer nur zeitweise einholen, wobei also von einer Erhöhung des Wohlstandes im definierten Sinne (Teilhabe an Gütern und Leistungen, die nicht nur der Bereitstellung und Erhaltung von Arbeitskraft unter geltenden technischen, organisatorischen und kulturell-ideologischen Kriterien dienen) keine Rede sein kann. Wir haben es also mit einem doppelten Sachverhalt zu tun. Die objektiv erforderten gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft steigen; und die Reallohnerhöhungen vermögen die gestiegenen Reproduktionskosten allenfalls einzuholen, nicht aber im Sinne wachsenden 'Wohlstandes' zu überbieten. Beide Sachverhalte lassen sich direkt in Beziehung setzen zu den Mechanismen kapitalistischer Verwertung bzw. zu den Strategien eines Staatsapparates, dessen primäre Funktion die Erhaltung dieser Mechanismen ist."

festzuhalten, dass die Stadtteilkämpfe von ihrer Stoßrichtung her einen Doppelcharakter haben. Zum einen findet in Bezug auf die sich permanent erhöhenden Wohnmieten eine Verteuerung der Ware Arbeitskraft statt, die in der Krise, in der es zu den oben genannten betrieblichen Entwertungen der Ware Arbeitskraft kommt, schwer durch Betriebskämpfe umgesetzt werden kann. Zum andern werden die gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu einem Kostenfaktor, von dem sich das Kapital aus den Abgabezwängen der staatlichen Regulierung zurückzieht, sei es durch Druck auf den "Gesetzgeber", sei es durch Insolvenz.

Werfen wir nun ein Blick auf die  "Betriebsebene", der unmittelbaren Frontstellung von Lohnarbeit und Kapital: Da verwundert es nicht, dass aufgrund der BRD-Klassenstruktur die Arbeitskämpfe in den klassischen Industriebereichen rückläufig erscheinen, während im Dienstleistungssektor und im Handel immer häufiger Kämpfe von Beschäftigten geführt werden, die ihrerseits nur auf wenig historisch vermittelte Kampferfahrung zurückgreifen können und auch nicht über Jahrzehnte alte gewerkschaftliche Konfliktregelungsstrukturen und -mechanismen nach dem Betriebsverfassungsgesetz kennen, wobei Letzteres kein Nachteil für eine klassenkämpferische Politik sein muss.

Wirtschaftszweige (BRD 2010)
 

Beschäftigte

Getränkeherstellung 75.639
Herstellung von Papier, Pappe und Waren daraus 131.847
Herst. v. Druckerzeugn.; Vervielfältigung v. bespielten
Ton-/Bild-/Datenträgern
199.330
Maschinenbau 967.040
Energieversorgung 245.755
Wasserversorgung 40.051
Sammlung, Behandlung und Beseitigung von Abfällen; Rückgewinnung 163.395
Einzelhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen) 2.841.456
Landverkehr und Transport in Rohrfernleitungen 610.981
Informationsdienstleistungen 66.534
Erbringung von Finanzdienstleistungen 674.307
Verwaltung und Führung von Unternehmen und Betrieben; Unternehmensberatung 453.516
Erbring. v. wirtschaftl. DL für Unternehmen u. Privatpersonen a. n. g. 316.676
Öffentliche Verwaltung, Verteidigung; Sozialversicherung 1.758.269
Gesundheitswesen 2.335.765
Heime (ohne Erholungs- und Ferienheime) 921.078
Kreative, künstlerische und unterhaltende Tätigkeiten 78.414
Erbringung von sonstigen überwiegend persönlichen Dienstleistungen 454.197

Zahlenquelle: Bundesagentur für Arbeit Mai 2011

 

Die Streikstatistik der letzten beiden Jahrzehnte zeigt, dass in der BRD trotz allgemein niedriger Streikbereitschaft gemessen an den EU-Nachbarstaaten, und trotz des Ausbruchs der  Krise 2008 die Streikaktivitäten nicht völlig zusammenbrachen, sondern sich in Richtung 2003/4 zurückentwickelten.


Zahlenquelle: Bundesagentur für Arbeit Mai 2011

Die Hans-Böckler-Stiftung vermerkt über die Streikentwicklung 2008/9:

"Etwa 420.000 Beschäftigte haben sich 2009 an Arbeitskämpfen beteiligt. Das sind etwa eine Million Streikende weniger als im Jahr 2008, in dem es große Warnstreiks in der Metallindustrie gab. Auch die Zahl der Ausfalltage durch Streiks war 2009 niedriger als im Vorjahr. WSI-Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch rechnet mit knapp 400.000 Tagen - nach rund 540.000 Tagen 2008. Trotz dieses Rückgangs hat sich der seit einigen Jahren zu beobachtende Trend zu konfliktreichen Tarifrunden auch im Wirtschaftskrisenjahr 2009 fortgesetzt - die Zahl der Streiks blieb auf dem Niveau des Vorjahres. Das lag vor allem an etlichen Konflikten um Haustarifverträge, resümiert Dribbusch. "Diese Form von heftigen Arbeitskämpfen entsteht häufig, wenn Arbeitgeber versuchen, aus dem Tarifsystem auszusteigen", hat der Experte beobachtet .... Auffallend ist nach der WSI-Analyse, dass die größten Arbeitskämpfe 2009 im Dienstleistungsbereich stattfanden, der lediglich indirekt von der Wirtschaftskrise erfasst war. Dies gilt für die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst der Länder wie auch für die umfangreichen Streiks bei den Kitas und den Ausstand in der Gebäudereinigungsbranche."

Im Vordergrund der Arbeitskämpfe standen 2010 weiterhin Firmen- und Haustarifverträge im Dienstleistungssektor. So brauchte es z.B. 97 Streiktage, bevor die Beschäftigten der MZ-Service GmbH des Medizinischen Zentrums der Städteregion Aachen einen Tarifvertrag durchsetzen konnten. (Quelle: WSI-Arbeitskampfbilanz 2010).

Ein spezieller Grund für den Rückgang dürfte für 2010 darin zu suchen sein, dass in der Metall- und Elektroindustrie die Belegschaften von den Gewerkschaftsführungen ausschließlich auf Verhandlungslösungen ohne Arbeitskampf orientiert wurden, um wegen der Wirtschaftskrise angeblich drohende Massenentlassungen zu verhindern. Aktiv setzte sich die IG Metall für die Herabsetzung des Lohnes in Kooperation mit der Bundesregierung und den Arbeitgebern mittels Kurzarbeit ein. Die Wut der KollegInnen kanalisierte sie weg von den betrieblichen Kämpfen hin zu Straßendemos. Die IG Metall gab an, sie habe in ihrem Organisationsbereich mit 2.200 Aktionen, 1,5 Millionen Menschen erreicht habe, wovon insgesamt über 200.000 Menschen an Gewerkschaftsdemonstrationen teilgenommen haben sollen (Quelle: Fanny Zeise, Halbherziger Herbst).

Eine weitere auf die LohnarbeiterInnen krisenabwälzende  Maßnahme war die massenhafte Ausweitung von "Arbeitnehmerüberlassung" sprich Leiharbeit und 2011 ihre Verrechtlichung  incl. der Festlegung eines Dumpinglohnes von 7,89 € im Westen und 7,01 € im Osten.(8)

Fazit

In dieser Ausgabe des TREND wird ein aktueller Artikel zur Tarifpolitik unter Krisenbedingungen zweitveröffentlicht, weil er deutlich macht, dass der (ökonomische) Klassenkampf an der Krisenentwicklung orientiert sein muss. Andererseits affirmiert dieser Artikel weitestgehend die sozialpartnerschaftliche Praxis des DGB. Diese Widersprüchlichkeit, die symptomatisch für eine reformistische Alltagspolitik ist, die konzeptionell die kapitalistische Verteilungslogik nicht hinter sich lässt, wäre bildlich das Einfallstor für eine Politik, die sich die Aufhebung des Kapitalismus auf ihre Fahnen geschrieben hat. Dazu ist jedoch zweierlei notwendig: Erstens die Entwicklung von Aktionslosungen, denen eine Krisenanalyse zugrunde liegt, die Daten und Fakten aus der Perspektive der Abwälzung der Krise aufs Proletariat enthält, was Aussagen über den subjektiven Faktor einschließt. Zweitens um diesen Klassenstandpunkt überhaupt einnehmen zu können, ist wiederum vorausgesetzt eine Krisentheorie, die Überproduktion bzw. Unterkonsumption als beständige Folge der kapitalistischen Akkumulation versteht und dabei die Disproportionalitäten zwischen Abt.I (Produktionsgüter) und Abt.II  (Konsumgüter) des kapitalistischen Reproduktionszusammenhangs im Auge behält.

Von diesen Voraussetzungen sind die beiden SIB-Papiere mehr als ein stückweit entfernt. Sie begünstigen daher in der Praxis eine Kampagnenpolitik, von der die Gruppe Wildcat in ihrer Wildcat-Sommernummer 2011 zu recht feststellte:

"Aber eine Linke, die soziale Kämpfe nur noch als (von ihr ausgelöste) Kampagnen denken kann, ist nicht »radikal«; denn das hieße, die Sache von den Wurzeln her zu denken, nicht von der Medienwirksamkeit aus.“

Anmerkungen:

1) Unbeschadet der Tatsache, dass ich die Unterscheidung zwischen Reformismus und Gradualismus bei der SIB nicht teile, käme es bei einer Untersuchung der aktuellen Krise darauf an herauszuarbeiten, warum bestimmte Fraktionen der proletarischen Klasse sich zur Artikulation ihrer spezifischen Interessen der politischen Kräfte des Reformismus/Gradualismus bedienen. Weder mit einer Verratstheorie noch mit einer Manipulationstheorie dürfte es möglich sein, dieses Phänomen zu erfassen, vor allen Dingen dann nicht, wenn bestimmte soziale Milieus der proletarischen Klasse sogar im christdemokratischen oder im grün-alternativen bzw. Piratenspektrum angesiedelt sind.

2) Es muss also festgehalten werden, dass bei der SIB nicht etwa Untersuchungen analytischer und/oder empirischer Natur die Arbeit am Begriff "finanzmarktgetriebener Kapitalismus" bestimmten, sondern ein Meinungsabgleich. Die SIBlerInnen nennen daher ihr Papier auch eine "Wortmeldung". Was jedoch fehlt - sei es als Vorwort, Nachwort oder Fußnote, warum es heute politisch richtig und notwendig ist "Wortmeldungen" abzugeben, ansonsten diese theoretischen Bemühungen einen leicht pädagogischen Touch bekommen, wenn es zudem am Ende heißt: "Also fangen wir endlich an, offen und ernsthaft über revolutionäre Organisierung zu reden – nicht als Selbstzweck, sondern um unsere konzeptionellen Lücken zu schließen."

3) Es ist nur wenig zielführend für das Verständnis der Rolle des Finanzkapitals, wenn ausschließlich von Industrie und Handel die Rede ist, aber die heute in der BRD maßgeblichen quantitativen Kapitalverwertungsstrukturveränderungen in Gestalt des  Dienstleistungssektors keine Erwähnung finden.

4) Ich mutmaße, dass die fehlende Dialektik das Ergebnis eines bestimmten Verständnisses der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ist, wo anstelle des dialektischen Materialismus eine systemische Betrachtung getreten ist. Eine Sichtweise, die seit Michael Heinrichs Arbeiten zur Ökonomiekritik (Stichwort "monetäre Werttheorie") in der BRD-Linken zur vorherrschenden wurde.

5) Politische Ökonomie Kapitalismus, Anschauungsmaterial Berlin 1972, S. 53

6) Diese Spezifika ergeben sich aus der zyklischen Kapitalbewegung selber, wie sie Paul Mattick folgendermaßen beschreibt:

"Die kapitalistische Prosperität hängt von der sich fortwährend beschleunigenden Akkumulation ab und diese von der sich vergrößernden Mehrwertmasse. Das Kapital kann nicht stillstehen, ohne damit die Krise hervorzurufen. Jede Gleichgewichtslage, d. h. jede Situation, in der die Produktion nicht die Konsumtion übertrifft, ist eine Krisensituation, eine Stagnation, die durch Mehrwertvermehrung beseitigt werden muß, um nicht zum Zerfall des Systems zu führen. So wie die Tendenz der fallenden Profitrate selbst bei steigender realer Profitrate in latenter Form gegeben ist, so ist die Krise schon in jeder Prosperität unsichtbar eingeschlossen. Aber wie jede andere Disproportionalität des Systems kann auch die zwischen Mehrwert und Akkumulation nur durch die unkoordinierten Marktvorgänge, nur durch die Gewalt der Krise den Akkumulationsnotwendigkeiten entsprechend verändert werden. Es handelt sich hier nicht um die Wiederherstellung einer verlorenen Gleichgewichtslage in bezug auf Produktion und Konsumtion, sondern um die Wiederherstellung der Disproportionalität, die die >Proportionalität< von Mehrwert und Akkumulation zum Inhalt hat.
Muß, nach Marx, die reale Krise aus der kapitalistischen Produktion, der Konkurrenz und dem Kredit erklärt werden, so ist sie der Akkumulation zuzuschreiben, da diese der Sinn der Produktion ist. Durch Konkurrenz und Kredit findet sie ihre Beschleunigung, aber auch ihre zunehmende Krisenanfälligkeit, da die steigenden Mehrwertansprüche durch die Tendenz der fallenden Profitrate, und trotz der Entwicklung der Produktivität der Arbeit, einen tatsächlichen erreichten Mehrwert überschreiten können. Ließe sich an diesem Punkt der Überakkumulation der Mehrwert nicht weiter vergrößern, so träte der Zustand ein, der sich aus der Analyse einer ununterbrochenen, sich nur auf den Produktionsprozeß beziehenden Kapitalakkumulation ergab, in der diese zum Zusammenbruch führt. Da sich dieser Prozeß jedoch als Reproduktionsprozeß eines aus vielen Kapitalen bestehenden Gesamtkapitals abspielt, der Mehrwert weiterhin nur zum Teil akkumuliert wird, ergibt sich nicht nur eine Verlangsamung des Akkumulationsprozesses, sondern auch die Möglichkeit fortwährender Strukturveränderungen des Kapitals, die den Gesamtmehrwert des Kapitals auf Kosten vieler Einzelkapitale und mittels höherer Ausbeutungsraten der weiteren Akkumulation anzupassen vermögen. In diesem Sinne ist die Überproduktion von Kapital nur eine vorübergehende, obwohl die Tendenz zur Überakkumulation permanent gegeben ist." 
Paul Mattick: Krisen und Krisentheorien, Ffm 1974, S.72f

7) In dem Interview zum Krisenpapier der ARAB betonen die GenossInnen, dass der Reformismus des bundesdeutschen Proletariats auch in seiner geschichtlichen Entwicklung begriffen werden muss:

"Das lag neben der Sozialpartner_innenschaft, von der ich eben schon sprach, vor allem auch daran, dass die Kontinuität zur „alten“ kommunistischen Arbeiter_innenbewegung der Weimarer Republik durch den Faschismus gebrochen wurde.

8) Die Konkurrenz unter den ArbeiterInnen abzubauen, war von jeher eines der ersten Anliegen der organisierten ArbeiterInnenbewegung, was davon aktuell in Sachen Leiharbeit noch übrig geblieben ist, lässt sich sehr gut auf der entsprechenden Labournet-Seite nachlesen.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor.