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Aus: Neues Deutschland, 7.Aug.98

Hunger und Design-Frass

von Robert Kurz

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Vom Essen zu reden, gilt unter den Besserverdienenden nur dann nicht als unfein, wenn es um Edelkneipen und Gourmet-Schnaeppchen geht. Der ordinaere Hunger der Armut dagegen ist unanstaendig, aber er breitet sich aus, zusammen mit dem Siegeszug der Weltmarktwirtschaft. Das herrschende Bewusstsein will diese mehr als peinliche Tatsache schlichtweg nicht wahrhaben.

Eine derart elementare Fehlleistung des angeblich "alternativlosen" kapitalistischen Systems wird sich allerdings kaum dauerhaft verdraengen lassen. Nicht nur der Katastrophen-Kontinent Afrika liefert immer neue Schreckensbilder von Kindern, die zum Skelett abgemagert sind, und von sterbenden Saeuglingen, die vergeblich an der vertrocknenden Brust ihrer Mutter saugen. An diese Szenen hat sich die marktwirtschaftliche Welt gewoehnt, sie verlieren sogar ihren Unterhaltungswert. Aber das Gespenst des Hungers erscheint selbst dort wieder, wo es fuer immer ausgetrieben schien. Bergarbeiter und ihre Familien in der Ukraine oder Sibirien, Rentner in Maskau, Strassenkinder in ganz Osteuropa hungern heute ebenso wie grosse Teile der Bevoelkerung in Lateinamerika oder Suedostasien. Weltweit sterben nach UNICEF-Angeben jedes Jahr mehr als sieben Millionen Kinder an Nahrungsmangel. Das groesste neoliberale "Erfolgsmodell" ist inzwischen die globale Verallgemeinerung der Armenkueche. Sogar in die industriellen westlichen Zentren ist der Hunger zurueckgekehrt. Auch wenn mindestens ein Familienmitglied Arbeit hat, befinden sich heute in den USA aufgrund der buchstaeblichen Hungerloehne 30 Millionen Menschen in einer "unsicheren Nahrungsmittelsituation". 26 Millionen davon sind jeden Monat auf oeffentliche Speisungen oder private Lebensmittelgeschenke angewiesen; mehr als 4 Millionen Erwachsene hungern dauernd oder zeitweise; 11 Millionen Kinder sind unterernaehrt in einem Land, das Spielzeugautos auf den Mars schiesst; in fast einer Million Haushalte gibt es oft tagelang nichts zu essen. Dabei handelt es sich nicht um Greuelpropaganda, sondern um Angeben des Landwirtschaftsminsteriums der USA und von Wohltaetigkeitsorganisationen wie "Second Harvest".

Auch der angeblich soziale "rheinische Kapitalismus" der BRD laesst es ungeruehrt zu, dass (nach zuverlaessigen Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes) immer mehr Kinder aus verarmten Familien hungern muessen oder wegen schlechter Ernaehrung krank werden. Aus Stadtvierteln mit hoher Arbeitslosigkeit berichten Erzieher, dass am Monatsende nicht selten kleine Jungen und Maedchen im Kindergarten ohnmaechtig werden, weil sie wegen Geldmangel der Eltern weder Fruehstueck noch Mittagessen bekommen haben. In vielen Schulen ist es ueblich geworden, dass hungernde Kinder ihre besser gestellten Mitschueler um das Pausenbrot anbetteln.

All diese Ungeheuerlichkeiten sind Resultate betriebswirtschaftlicher Rationalitaet: Selbst das elementarste Lebensbeduerfnis gilt nur unter dem Vorbehalt, dass seine Befriedigung der Gewinnmaximierung dient und aus der rentablen Vernutzung von Arbeitskraft folgt. Wenn nicht, werden bestenfalls Notrationen und Almosen zugeteilt, obwohl mit den vorhandenen Produktivkraeften alle mehr als reichlich ernaehrt werden koennten. Dieselbe perverse Logik bringt aber nicht nur massenhaft neuen Hunger als Produkt des Ueberflusses selbst hervor, sondern verschlechtert auch die Qualitaet der Lebensmittel. Darueber kann die bunte und nur oberfaechlich hygienische kapitalistische "Verpackungskultur" nicht hinwegtaeuschen. Aus Kostengruenden laesst das Agro- und Food-Business keine Unappetitlichkeit aus. Bei Stichproben von "Kuehltransporten" wurden mehr als 25 Grad Celsius gemessen, oft werden die Tanks beim Wechsel des Inhalts nicht gereinigt. In Nudeln wurden krebserregende Stoffe gefunden, die von Verpackungsmaterialien herruehren. Die Haelfte der Huehner, die in der EU verkauft werden, ist bakteriell verseucht, ganz zu schweigen vom Rinderwahn(BSE). Allein in der BRD hat sich die Zahl der Infektionen durch Lebensmittel zwischen 1985 und 1992 verfuenffacht.

Von den zahllosen Sauereien abgesehen leiden auch diejenigen, die scheinbar genug zu essen haben. Mangel an lebenswichtigen Stoffen. In seinem Buch "Die Suppe luegt" (1997) zeigt der Journalist Hans-Ulrich Grimm, wie die Nahrungsmittelkonzerne aus Kostengruenden ihren aeusserlich schillernden Produkten wesentliche Inhalte entziehen: Eine Packung fuer vier Teller "Huehnersuppe" von Knorr enthaelt beispielsweise ganze zwei Gramm "Trockenhuhn" in Form von Kuegelchen. Mit synthetischen Geschmacksbausteinen lassen sich Lebensmittel viel billiger herstellen als mit realen Fruechten. Agrarische Rohstoffe werden mit neuen Technologien in geschmacklose Biomassen zerlegt, anschliessend mit Aromastoffen "geimpft", gefaerbt und konserviert. Und der Staat gibt seinen Segen dazu. Bier etwa darf pulverisierte Tierhufe und Schlimmeres enthalten (von wegen Reinheitsgebot!).

Dieser minderwertige Design-Frass erzeugt permanente unnatuerliche Hungergefuehle. Das Resultat sind dann krankhaft aufgeschwemmte Menschen, die kaum besser leben als die abgemagerten Hungerleider. Zynischerweise bietet die Food-Industrie in Form diverser Extrakte "Ergaenzungsnahrung an, die in einem anstaendigen Essen ganz von selber enthalten sein muessten. Hoehepunkte des kapitalistischen Liebesmahls duerfte der in Japan kreierte "Toilettenburger" sein: Feste Bestandteile von Abwaessern, die mit Toilettenpapier vermischte Exkremente enthalten, werden unter Beimischung von Soja-Proteinen bei extrem hohen Temperaturen verkocht, um als Fleischersatz zu dienen. Guten Appetit allerseits in der freiesten aller Welten!

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