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Aus dem Antifa-Infoblatt 46/Januar 1999

Akzeptierende Sozialarbeit
in der Praxis Leipzig-Grünau Jugendclub "Kirschberghaus"

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In Leipzig-Grünau, einem der größten Neubaugebiete in der ehemaligen DDR mit etwa 100 000 BewohnerInnen, existiert seit etwas mehr als vier Jahren das sogenannte Kirschberghaus, ein Kinder- und Jugendtreff. Ein Teil der Arbeit des Kirschberghauses ist der Ansatz der »akzeptierenden Jugendarbeit« mit rechten Jugendlichen. Durch Toleranz und Akzeptanz der Sozialarbeiter gegenüber den rechten jugendlichen soll diesen vorgelebt werden, daß Konflikte auch anders zu lösen seien als mit Gewalt. Die Arbeit soll dort ansetzen, »wo die Jugendlichen Probleme haben, nicht da, wo sie welche machen« (vgl. AIB 44). Diese Sichtweise vermittelt, daß Rechtsextremismus unter jugendlichen ein Symptom für deren soziale Probleme sei. Seien diese erst gelöst, verschwände auch der Rechtsextremismus. Dieser, vor allem in den neuen Bundesländern praktizierte Ansatz geht völlig am Problem des Rechtsextremismus vorbei, da es sich nicht um ein »Jugendproblem« handelt, sondern eine breite gesellschaftliche Basis hat. Durch Bereitstellen von Jugendclubs und Räumen werden oftmals die Strukturen der rechten Szene gestützt und gefestigt.

Der Nazitreff »Kirschberghaus« in Leipzig

Die obige Beschreibung trifft auch auf das Kirschberghaus, insbesondere der Jugendclub "Treff 2" im Kirschberghaus, zu. Angefangen hat die Arbeit des Kirschberghauses mit einer kleinen Gruppe rechter Jugendlicher, die aus ihrem ehemaligen Treffpunkt herausgeflogen waren. Im Laufe der letzten vier Jahren hat sich der Jugendclub mit einem Stammpublikum von etwa 100 überwiegend rechten jugendlichen zu einem überregionalen Treffpunkt der Naziszene entwickelt, in dem auch schon bundesdeutsche Nazikader, wie z.B. Steffen Hupka zum Kirchentag 1997, zu Besuch waren. Auch Jugendliche in anderen Jugendtreffs in dem Stadtteil werden durch die Aktivitäten der Nazis aus dem Kirschberghaus angezogen. Seit etwa zwei Jahren hat die NPD hier ein festes Klientel, das durch NPD-Kameradschaftsabende und -Propagandamaterialien geschult wird. Im Haus befinden sich mehrere Proberäume, die von rechten Bands, wie ODESSA, genutzt werden. Die SozialarbeiterInnen scheint es nicht zu stören, daß diese Gruppen in die bundesweite Nazirock-Szene fest eingebunden sind. Bei Nazigroßereignissen wie in Passau, Dresden oder Leipzig und regionalen Aktionen findet man einen großen Teil der rechten Szene aus Leipzig-Grünau wieder. Einer der Aktivsten aus dem Umfeld des Kirschberghaus ist das NPD-Mitglied DANIEL »OSSI« OSWALD. Mit mehreren Kameraden unterstützte er z.B. einige Wochen lang den Wahlkampf der NPD in Mecklenburg Auch im Vorfeld des 1.Mai tauchte er bei Veranstaltungen mit Stadtpolitikern im Zusammenhang mit dem NPD-Aufmarsch auf.  

Naziaktionen und Angriffe - AntifaschistInnen reagieren

Im Frühjahr 1998 fand ein Aufmarsch 50 Nazis unter dem Motto »Keine Macht den Zecken« in Grünau statt, der maßgeblich von den rechten Aktivisten des Kirschberghauses organisiert worden war. Zum sogenannten RUDOLF HEß-Aktionstag im August zogen etwa 70 Neonazis durch den Stadtteil. Dieser Aufmarsch wurde ebenfalls von der Grünauer Naziszene in Zusammenarbeit mit Wurzener Neonazis organisiert. Zur Naziszene im Muldentalkreis (Wurzen, Grimma, Torgau) bestehen enge Kontakte, immer wieder sieht man Nazikader aus dieser Region im Kirschberghaus ein- und ausgehen.
Seit Anfang Herbst häuften sich dann Übergriffe auf linke Jugendliche und Asylbewerber. Ein Jugendlicher wurde am 23. September von Kirschberghausbesuchern angegriffen. Eine iranische Familie wurde zweimal Opfer der Nazi. Nachdem ein Freund der Familie von rechten Jugendlichen zusammengeschlagen worden war, wurde knapp zwei Wochen später, am 7.Oktober, der 14jährige Sohn in der Schule von rechten Mitschülern zusammengeschlagen. Am 28. Oktober wurde ein Jugendlicher in einer Straßenbahn in Grünau von zwei Nazis überfallen. Alle Täter konnten nach schleppenden Ermittlungen festgenommen werden. AntifaschistInnen, die auf diese Aktivitäten rund um das Kirschberghaus durch eine Klebe- und Flugblattaktion am 18. Oktober aufmerksam machen wollten, wurden aus dem Kirschberghaus von etwa 15 Nazis mit Steinen und Leuchtspurgeschosse angegriffen. Am 1.November, bei einer weiteren Protestaktion gegen das Kirschberghaus von rund 120 AntifaschistInnen, zeigte sich deutlich, wie sehr sich die drei dort angestellten SozialarbeiterInnen mit ihrem Klientel identifizieren: Die in dem Haus verschanzten Nazis provozierten mit Hitlergrüßen, und die anwesenden Sozialarbeiter riefen den AntifaschistInnen zu: » Verschwindet hier, ihr Provokateure« und »Ihr habt hier nichts verloren, das ist nicht euer Terrain«. Wenige Tage später wurden Schüler am Grünauer Max-Klinger-Gymnasium von bekannten Nazis bedroht, und es wurden Sprühereien wie »NSDAP Grünau« hinterlassen.

(Keine) Reaktionen von Polizei und Stadt

Daß die Situation in Grünau - gerade um das Kirschberghaus - angespannt ist, räumt auch die Polizei ein. Laut den Leipziger Beamten ist Grünau ein Schwerpunkt rechter Aktivitäten. Ansonsten verweist die Polizei KritikerInnen an das Jugendamt der Stadt. Dort stellt man sich jedoch trotz massivster Kritik, auch von AnwohnerInnen, hinter das Projekt und sieht keine Veranlassung, das Konzept zu überprüfen. Im Gegenteil: Jugendamtsleiter Wischinewski hofft, daß der Treff 2 seine Arbeit fortsetzt und kritisiert den Protest gegen das Kirschberghaus: »Die zwei Aufmärsche (gemeint sind die antifaschistischen Protestaktionen, Anm. AIB) haben die pädagogische Arbeit von einem fahr kaputtgemacht« Pädagogische Arbeit der Stadt Leipzig ist es auch, die Aktivitäten der rechten Jugendlichen zu verharmlosen und zu decken. So wurde eine Fotoausstellung, die vor kurzem zu sehen war und bei der sich Jugendliche im Kirschberghaus u.a. mit Hitlergruß per Selbstauslöser fotografierten, von der Stadt unterstützt. Trotz aller Kritik und Proteste: Im Kirschberghaus geht es weiter wie gehabt, und das Jugendamt und die Stadt Leipzig stellen sich nach wie vor taub.

Aus Kirschberghaus heraus Kundgebung angegriffen

Für den 24.1. war vor dem Kirschberghaus eine Kundgebung gegen die Naziumtriebe in Grünau angemeldet, und genehmigt worden. Die Polizei wußte davon mindestens eine Woche vorher und wurde auch darüber informiert,. daß mit Naziaktivitäten in diesem Zusammenhang zu rechnen sei. Und trotzdem sah sie keinen Anlaß zum Einschreiten, als sich bereits eine Stunde vor Kundgebungsbeginn teilweise vermummte und mit Totschlägern sowie Knüppeln bewaffnete Nazis im und am Kirschberghaus sammelten. Unter diesen befanden sich bekannte Grünauer Faschos wie Jerzy Lang, aber auch aus dem Umland (u.a. Wurzen) war Unterstützung angereist, insgesamt schließlich mehr als 50.

Die Polizei unter Einsatzleiter Winkler sah sich auch dann nicht bemüßigt, irgend etwas zu unternehmen, als die Nazis mehrfach das Auto eines Fotografen attackierten. Diese Angriffe sind auf Fotos belegt. Als die KundgebungsteilnehmerInnen gegen 16:30 in Grünau eintrafen und zu ihrem Kundgebungsplatz, dein Parkplatz am Kirschberghaus, gelangen wollten, wurden sie von den davor versammelten Nazis mit Flaschen und anderen Gegenständen beworfen. Daraufhin setzten sich die Angegriffenen zur Wehr, was die Polizei mit einem Schlag in hektische Betriebsamkeit versetzte. Die Kamera wurde endlich herausgeholt, die Beamten begannen sich zu bewegen. Jedoch nicht zur Unterbindung der Naziattacken, sondern in Richtung der KundgebungsteilnehmerInnen. Diese wurden vom Kirschberghaus abgedrängt, zwölf Leute zu Boden geworfen und verhaftet, einige verprügelt. Unterdessen hatten die Nazis weiter freies Spiel aus ihrem Stützpunkt KBH heraus. Unter den Augen der Polizei jagten etwa 20-30 Faschos einen Fotografen bis zur Lützner Straße, er konnte durch einen Zufall entkommen. Von dort aus griffen die Faschos dann mit Steinen aus dein Gleisbett die Antifas von hinten an. Sie wurden jedoch zurückgeschlagen.
Parallel dazu wurden zwei JournalistInnen am Kirschberghaus angegriffen, eine wurde dabei am Arm verletzt. Ihre Forderung nach medizinischer Hilfe wurde von Beamten mit dem Satz "Wir haben wichtigeres zu tun!" abgelehnt. Fragt sich nur, was.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei das Geschehen definitiv nicht unter Kontrolle und konnte die Sicherheit, der genehmigten Kundgebung - was ihre Pflicht war - nicht gewährleisten. Aus diesem Grund erklärte die Anmelderin, dann auch die Undurchführbarkeit der Veranstaltung. Die TeilnehmerInnen führen unter Polizeibegleitung mit der Straßenbahn aus Grünau ab.
Die Vorfälle dieses Tages werden auf jeden Fall ein Nachspiel haben. Eine parlamentarische Anfrage ist in Vorbereitung, gegen die Faschos laufen Anzeigen, und vor allem das Jugendamt in Person seines Leiters Wischniewski sowie das Kirschberghaus als Projekt wird sich wohl mit Konsequenzen auseinandersetzen müssen. Wischniewski war bei den Aktionen selbst anwesend und wollte die Schuld trotzdem noch den Antifas in die Schuhe schieben. Das und seine Äußerungen im Vorfeld, die Lage am Kirschberghaus hätte sich beruhigt, lassen an der Eignung des Mannes für diesen Job zweifeln. Welches Urteilsvermögen hat jemand, der angesichts einer Horde von 50 gewaltgeilen Nazis im KBH immer noch keinen Zusammenhang sehen will?
Auch die Polizei sieht sich Anzeigen wegen Strafvereitelung im Amt und unterlassener Hilfeleistung gegenüber. Nicht zuletzt bestätigt sich mit den Vorfällen die Forderung nach einer sofortigen und vorübergehenden Schließung des Kirschberghauses sowie der Ausarbeitung eines neuen Konzepts für die Jugendarbeit in dem Objekt.

Am Abend desselben Tages fuhren mit Faschos vollbesetzte Autos verstärkt durch die Stadt, u.a. auch Connewitz. Und am Montag, den 25.1. schlugen Nazis im nördlichen Connewitz eine links aussehende Frau zusammen. Sie trug keine schweren Verletzungen davon, der Überfall bekräftigt jedoch die Wichtigkeit einer erhöhten Wachsamkeit.

In den darauffolgenden Wochen waren diese Ausseinandersetzungen großes Thema in den lokalen Medien und Anfang Februar befasste sich der Jugendhilfeausschuß mit diesem Thema. Rausgekommen ist nicht viel. Jugendamtsleiter Wischniewski stellte fest, daß es Probleme mit rechten Jugendlichen in Grünau gibt, spielte sie aber mit den Worten herunter: "Das sind doch ganz normale Jugendliche, die sehr schlechte Aussichten auf ein geregeltes Leben hätten. Deshalb ist der Treff 2 (im Kirschberghaus) sehr wichtig. Außerdem stehen Sozialarbeiter zur Verfügung, die die Jugendlichen von der Straße holen und damit Übergriffe präventiv bekämpfen könnten." Kritiken und Proteste von Anwohnern und Opfer der Besucher des Kirschberghauses wurden somit abgebügelt.

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