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Leseauszug
Die Wirtschaft in den neuen Ländern nach der Wende (1989/90 - 1998)1
von Klaus Steinitz

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1. Die ostdeutsche Wirtschaft acht Jahre nach der Währungsunion und der staatliche Vereinigung

Das Umfeld der ostdeutschen Wirtschaft

Die Übernahme der DDR-Wirtschaft durch die alte Bundesrepublik, die Probleme und Konflikte, die dabei aufgetreten sind sowie die bisherigen Ergebnisse, können nur dann richtig bewertet werden, wenn sie im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen - politischen, ökonomischen und sozialen - Verhältnissen der Bundesrepublik und der kapitalistischen Welt in den 90er Jahren analysiert werden.

Die wirtschaftliche und soziale Situation hat sich in der Bundesrepublik seit Mitte der siebziger Jahre verändert: Die finanziellen, aber vor allem die sozialen Probleme und Konflikte haben sich verschärft. Die Akkumulations-, Verteilungs- und Regulierungsweise, die sich in der Nachkriegsperiode unter maßgeblichem Einfluß des Keynesianismus herausgebildet hatte, geriet zunehmend in eine Krise. Mit der Vereinigung verbanden sich die unbewältigten Probleme der alten Bundesrepublik - vor allem wachsende Massenarbeitslosigkeit, zunehmende soziale Polarisierung in reich und arm durch forcierte Umverteilung von unten nach oben, Abbau des Sozialstaates, eskalierende Staatsschulden und Krise der öffentlichen Haushalte - mit der Transformations- und Vereinigungskrise Ostdeutschlands.

Diese Veränderungen sind vor allem Ergebnis der neoliberalen Politik, die seit über 20 Jahren zunehmend die Entwicklung in der Bundesrepublik bestimmt und alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt. "Deregulierung und die entfesselte Herrschaft des Marktes haben die Möglichkeiten sozialer und ökologischer Orientierung der Wirtschaft durch demokratische Politik erheblich eingeschränkt. In der Bundesrepublik - wie in den meisten kapitalistischen Metropolen - ist die Politik zur Erfüllungsgehilfin wirtschaftlicher Gewinninteressen verkommen."3

Die Chancen, die mit der Aufhebung der politisch-militärischen Ost-West Blockkonfrontation entstanden, wurden nicht genutzt. Im Gegenteil, die militärischen Konfliktherde haben sich vermehrt, die Nord-Süd-Problematik und die Umweltprobleme spitzen sich weltweit zu. Die notwendige Weichenstellung hin zu einer umweltfreundlichen, nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung ist bisher verhindert worden. Die politisch-militärische Mauer zwischen Ost und West wurde von einer wirtschaftlich-sozialen Trennlinie quer durch Europa ersetzt. An die Stelle des kalten Krieges ist der erbitterte, schonungslose Wirtschaftskrieg zwischen den kapitalistischen Hauptländern der sogenannten Triade, USA, West-Europa und Japan/Süd-Ost-Asien, getreten. Die Kosten- und Produktivitätskonkurrenz wird sowohl bei einfachen Billig-Lohnprodukten als auch im Hoch-Technologie-Bereich unerbittlich ausgetragen.

In der Bundesrepublik und den meisten anderen kapitalistischen Staaten hat die Massen-und Langzeitarbeitslosigkeit ihren höchsten Stand seit Kriegsende erreicht. Die Sockelarbeits-losigkeit steigt von einem Krisenzyklus zum nächsten und wird auch bei einem jährlichen Wachstum von 2-3% bis über das Jahr 2000 hinaus kaum zurückgehen. In der Bundesrepublik muß damit gerechnet werden, daß es auch um die Jahrtausendwende noch 4 Millionen offiziell registrierte Erwerbslose und über 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze geben wird. Bei einem Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Bundesrepublik von 1980 bis 1997 auf 155% und der Geldvermögen der privaten Haushalte auf 370% (von 1.436 Mrd. DM auf 5.344 Mrd. DM), haben zugleich auch Armut und Obdachlosigkeit stark zugenommen. Auf der einen Seite ist die Anzahl der Millionäre auf rund eine Million gestiegen und entfällt auf das obere Drittel der Geldvermögensbesitzer 75% des gesamten Geldvermögens. 5% der reichsten Haushalte haben einen Anteil am Geldvermögen von 31%. Auf der anderen Seite hat sich der Anteil der Sozialhilfeempfänger in engeren Sinne (Hilfe zum Lebensunterhalt) an der westdeutschen Bevölkerung mehr als verdoppelt - 1980 1,4%, 1996 3,6% (2,4 Mill. Menschen); hiervon sind ein Drittel Kinder. Unterhalb der Armutsschwelle (50% des Durchschnittseinkommens) leben in den alten Bundesländern 12% der Bevölkerung.4

Die neuen Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung werden einseitig für radikale Kostensenkung und Einsparung von Arbeitsplätzen eingesetzt, um die Kapitalverwertung zu verbessern und die internationalen Konkurrenzpositionen deutschen Kapitals zu stärken. In den letzten Jahren ist die Staatsverschuldung sprunghaft angestiegen. In der Bundesrepublik betragen die gesamten öffentlichen Schulden Ende 1997 2.221 Mrd. DM, bei einer Zinsbelastung 1997 von 132,5 Mrd. DM - 17% des gesamten Steueraufkommens und 4% des Bruttoinlandsprodukts.

Die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Vertiefung der ökonomischen Integration im Rahmen der Wirtschaftsblöcke (EU, NAFTA, ASEAN usw.) geraten in immer krasseren Widerspruch zu deren Unwirksamkeit bei der notwendigen gemeinsamen Lösung von internationalen Problemen, vor allem der Abrüstung und Friedenssicherung, der Erhaltung der natürlichen Umwelt, der Sicherung sozialer Mindeststandards, aber auch der internationalen Schulden- und Finanzkrisen.

Die Globalisierung wird von den Herrschenden dazu instrumentalisiert, die neoliberale Strategie entfesselter Marktkräfte, des Sozialabbaus, der Deregulierung und der Privatisierung, der Unterordnung aller Seiten des gesellschaftlichen Lebens und der Politik unter die Verwertungsinteressen des Kapitals als alternativlos, als sich zwangsläufig vollziehender Prozeß darzustellen. "Der Wettbewerb im globalen Dorf ist wie eine Sturmflut, keiner kann sich ihm entziehen.(ehemaliger Daimler Benz Chef Reuter, 1993) Die von der neoliberalen Politik geprägte Globalisierung hat den Verlauf des ostdeutschen Transformationsprozesses beeinflußt und zur weitgehenden Deindustrialisierung, Zerstörung regionaler Verflechtungen und Vernichtung von Millionen Arbeitsplätzen beigetragen. Auf die größeren Herausforderungen und Probleme reagieren die Bonner Regierungskoalition und die Unternehmerverbände im Innern mit der Demontage des Sozialstaates, mit Forderungen nach Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, nach Aushöhlung der Tarifautonomie und demokratischer Grundrechte und nach außen mit verstärkten Bemühungen, die politische und militärische Präsenz Deutschlands in der Weltpolitik und seine ökonomische Vormachtstellung in Europa zu erhöhen. Zugleich wird darauf verzichtet, wirksame Beiträge zur Lösung der realen Probleme und Konflikte zu leisten oder auch nur realistische Konzepte hierfür zu erarbeiten.

Die geringe Dynamik des Binnenmarkts und die Zuspitzung der sozialen Konflikte in der Bundesrepublik sowie die ungelösten politischen, ökologischen, sozialen und finanziellen Probleme in der EU und im internationalen Maßstab bestimmen in hohem Grade die Rahmen-bedingungen der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung.

Besonderheiten ostdeutscher Transformationsprozesse

Der Übergang von einer zentralistischen, staatssozialistischen Planwirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaft ist ein historisches Novum. Die Transformation Ostdeutschlands unterscheidet sich jedoch wesentlich von der anderer staatssozialistischer Länder dadurch, daß sie mit der staatlichen Vereinigung zusammenfiel, die politisch als Anschluß der DDR an die Bundesrepublik erfolgte. Die ostdeutsche Entwicklung nach 1989 wird maßgeblich durch das Zusammentreffen und die gegenseitige Verflechtung der sozial-ökonomischen Transformationsprozesse mit den Vereinigungsprozessen sowie deren gegenseitige Verflechtung bestimmt.

Hieraus ergeben sich viele Besonderheiten, u.a. das Überstülpen der Wirtschafts-, Eigentums- und Rechtsordnung, die rigorose Liquidierung all dessen, was noch Spuren eines sozialistischen Versuchs aufwies, und die rücksichtslose Mißachtung aller bewahrenswerten Erfahrungen und Ansätze für die Lösung sozialer Probleme sowie für die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Dominanz westdeutscher Interessen bei wichtigen Ostdeutschland betreffenden Entscheidungen, insbesondere bei der Privatisierung des Volkseigentums durch die Treuhandanstalt, die fast vollständige Ablösung der Eliten in allen Bereichen der Gesellschaft, in Politik und staatlicher Administration, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

Natürlich ergeben sich aus der Vereinigung im Vergleich zu den anderen staats-sozialistischen Ländern auch positive ökonomische und soziale Impulse, wie sie in den umfangreichen sozialen Transferzahlungen sowie in der Wirtschafts- und speziell Investitionsförderung zum Ausdruck kommen. Nach offiziellen Angaben wurden im Rahmen des West-Ost-Transfers (Bruttotransfer) in den Jahren von 1991-97 insgesamt rund 520 Mrd. DM für soziale und Arbeitsmarktaufgaben und 330 Mrd. DM für die Wirtschaft und die Infrastruktur eingesetzt.5

Ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung - verspielte Chancen

Mit der Vereinigung bestand die historische Chance bestanden, eine neue Qualität sozialer Entwicklung und Emanzipation zu erreichen. Acht Jahre nach der Vereinigung sind derartige Hoffnungen geplatzt. Die Transformation erfolgte im wesentlichen als Negation der vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR, ohne deren Fortschrittspotentiale zur Lösung der Probleme zu erhalten und zu nutzen. Mit dem Anschluß der DDR wurde ein größeres Territorium in dem rund 17 Millionen Menschen leben, mit einer längeren eigenständigen Entwicklung vollständig in die bestehenden Eigentums- und Kapitalstrukturen sowie rechtlichen und institutionellen Verhältnisse der alten Bundesrepublik eingegliedert. Diese Art des Anschlusses führte in Verbindung mit einer fast blinden Marktgläubigkeit und dogmatischen Privatisierungsstrategie zur Zerstörung bedeutender wirtschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Potentiale, zum Brachlegen und zur Entwertung von kreativen Fähigkeiten, fachlichen Kenntnissen und Erfahrungen von Millionen Menschen. Öffentliches Eigentum durfte nicht zugelassen werden, Überlegungen zur Reformierung der Wirtschaft wurden unterdrückt, ein öffentlicher Diskurs über die geeigneten Wege zur Lösung der komplizierten Probleme, der einen Lernprozeß hätte fördern können, wurden verhindert.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, wie die Bundesregierung selbst ihre Politik beurteilt: "Die ungeheuren Herausforderungen, die ... offenbar wurden, ließen keine Zeit, große Pläne zu schmieden, Bestandserhebungen in Gang zu setzen und umfangreiche Analysen auf den Weg zu bringen."6 Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung wurde nicht von ökonomischem Sachverstand geprägt, sondern von politischen Absichten, vor allem davon, so schnell und radikal wie möglich die DDR-Vergangenheit zu überwinden und aus dem Bewußtsein der Menschen zu eliminieren.

In Deutschland wurde nach 1918 und 1945 eine dritte große Chance in diesem Jahrhundert vertan, einen neuen Entwicklungspfad in Richtung Emanzipation, soziale Gerechtigkeit, Vernunft im Umgang mit der Natur und Demokratisierung zu beschreiten. Nach der Vereinigung wurde eine weitgehende Angleichung der rechtlichen und institutionellen Verhältnisse/Strukturen Ostdeutschlands an die der alten Bundesländer vollzogen. Damit ist jedoch die reale wirtschaftliche, soziale und mentale Integration bei weitem noch nicht erreicht. Die Konflikte und Spannungen zwischen den Menschen in Ost und West sind infolge der Art und Weise des Anschlusses und der danach verfolgten Politik in den letzten Jahren insgesamt sogar größer geworden. Die Hoffnung der ersten Zeit nach der Wende ist bei großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung der Unsicherheit und Furcht vor der Zukunft gewichen. Hoffnungslosigkeit wieder einen vollwertigen Arbeitsplatz zu erhalten bei den Erwerbslosen und Angst um den Arbeitsplatz bei den im Erwerbsleben Stehenden bestimmen zunehmend das Lebensgefühl von vielen Millionen Menschen in Ostdeutschland.

In den neuen Bundesländern vollzog sich in den ersten Jahren nach der Vereinigung ein historisch einmaliger Vorgang der Liquidierung wirtschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Potentiale sowie der Beseitigung von Arbeitsplätzen: Halbierung des Bruttoinlandsprodukts, Rückgang der Industrieproduktion auf ein Drittel, wobei es kaum noch industrielle Großbetriebe gibt (von 840 Betrieben mit über 1.000 Beschäftigten 1989 gab es im September 1992 nur noch 117, danach ist ihre Anzahl weiter geschrumpft), und des Forschungspotentials auf weniger als ein Fünftel, Beseitigung von fast 4 Millionen Arbeitsplätzen.

Von 1989 bis 1997 sank die Beschäftigung insgesamt um ein Drittel, in einigen Regionen sogar um fast 50%. 1989 gab es in der DDR 9.747 Tsd. Erwerbstätige. Vier Jahre später waren in den neuen Bundesländern nur noch 6.197 Tsd. Menschen erwerbstätig. Im verarbeitenden Gewerbe ging in diesem Zeitraum die Anzahl der Erwerbstätigen auf ein Drittel zurück, von 3.409 Tausend auf 1.135 Tausend. Im Bereich Land- und Forstwirtschaft, Fischerei schmolz die Anzahl der Erwerbstätigen sogar auf wenig mehr als ein Fünftel, von 976 Tausend auf 231 Tausend.7 Der Arbeitskräftebesatz je 100 ha landwirtschaftliche

Nutzfläche war 1996 in den neuen Bundesländern mit 2,3 nur halb so groß wie in den alten (4,6). Heute besteht in Ostdeutschland ein reales Defizit von über 3 Millionen Arbeitsplätzen.

Die Arbeitslosenquote auf Basis der registrierten Erwerbslosen liegt Anfang 1998 bei 20%, einschließlich der verdeckten Arbeitslosen bei fast 30%. Das Wachstum des BIP betrug nach Angaben des Statistischen Bundesamtes jeweils gegenüber dem Vorjahr

1992 - 7,8%
1993 - 9,3%
1994 - 9,6%
1995 - 5,6%
1996 - 1,9%
1997 - 1,6%

Demgegenüber betrugen die Produktionsrückgänge in den ersten beiden Jahren nach der Vereinigung

1990 - 18,5%
1991 - 31,7%

Demnach wurden 1997 noch nicht einmal 90% der gesamtwirtschaftlichen Leistung und weniger als die Hälfte des Produktionsausstoßes der Industrie des letzten DDR-Jahres 1989 erreicht. Wenn auch das Volumen des BIP der Jahre 1989 und 1997 durch Veränderungen in seiner Struktur - der Anteil der Industrie ist auf etwa die Hälfte geschrumpft, während die Anteile der Bauproduktion und der Dienstleistungen beträchtlich gestiegen sind, die Branchen- und Erzeugnisstruktur der Industrie hat sich wesentlich gewandelt - und in der Qualität der Erzeugnisse und Dienstleistungen nicht voll vergleichbar ist, so wird doch die nachhaltige Wirkung des Produktionsabsturzes in den ersten Jahren deutlich. Es ist gewiß weder ein Zufall noch auf die Schwierigkeit des Vergleichs zwischen dem Jahr 1989 und den Jahren danach zurückzuführen, wenn das letzte DDR-Jahr in offiziellen Materialien nie zum Vergleich herangezogen wird, sondern fast immer 1991 als Basisjahr genutzt wird. Das vermittelte Bild ist natürlich nicht nur recht unterschiedlich, sondern absolut entgegengesetzt, je nachdem ob festgestellt wird, daß auch nach acht Jahren der Produktionsumfang aus der DDR-Zeit noch nicht wieder erreicht worden ist, oder ob man ausweisen kann, daß in sechs Jahren, von 1991 bis 1997 die gesamtwirtschaftliche Leistung auf 140% gestiegen ist.

Ähnlich verhält es sich auch mit den Produktivitätsvergleichen. Im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung 1998 wird ausgewiesen, daß die gesamtwirtschaftliche Produktivität (BIP je Erwerbstätigen) in den neuen Bundesländern im Verhältnis zu den alten Bundesländern von 30% 1991 auf 60% 1997 angestiegen ist. Diese Ergebnis wird stark relativiert, wenn berücksichtigt wird, daß das Produktivitätsniveau 1991 beträchtlich unter dem in der DDR schon erreichten Niveau lag. Ein Vergleich zwischen der DDR und der BRD ist recht problematisch. Die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen für die Zeit Ende der 80er Jahre schwanken zwischen 30% und 70% des westdeutschen Niveaus. Eine kritische Wertung dieser Untersuchungen läßt die Aussage zu, daß das relative Produktivitätsniveau der DDR etwa 50% betrug, jedenfalls nicht unter 40% lag.8

Aufschlußreich ist auch ein Vergleich mit anderen mittel- und osteuropäischen Staaten, die sich ebenfalls seit Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre in einer Umbruchphase mit krisenhaften Erschütterungen der Wirtschaft befanden. Gegenüber Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Slowakei war der ostdeutsche Produktionsrückgang, speziell der Absturz der Industrie, in den Jahren nach 1990 am größten. Die 1997 im Vergleich zu 1989 erreichte Wirtschaftsleistung ist in all diesen Ländern relativ höher als in Ostdeutschland. Sie betrug über 90%, in Polen etwa 110%. Die Zuwachsraten der Produktion lagen 1997 in diesen Ländern über der der neuen Bundesländer. Ostdeutschland weist auch die höchste Arbeitslosenquote auf.

Die kritischen Wertung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung soll nicht in Frage stellen, daß es beträchtliche Fortschritte in der Qualität und im technologischen Niveau vieler Erzeugnisse und Leistungen sowie im Maschinen- und Ausrüstungspark der noch produzierenden Betriebe, im Umfang und in der Leistungsfähigkeit der technischen Infrastruktur (Telekom, Straßen- und Eisenbahnnetz, Wasserversorgung und Abwassersysteme u.a.), in der Erneuerung und Modernisierung der Bausubstanz, insbesondere der Wohnungen, und auf anderen Gebieten gibt. Die Einkommen der weitaus meisten Haushalte haben sich bedeutend erhöht, die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen hat sich grundlegend verbessert.

Anlageinvestitionen in Ostdeutschland

Die neuen Bundesländer haben 1994 die alten Bundesländer in den Anlageinvestitionen je Einwohner übertroffen. Seitdem wird in den neuen Bundesländern je Kopf der Einwohner und der Erwerbstätigen mehr investiert. Im Verhältnis zu den alten Bundesländern lagen die pro-Kopf Investitionen Ostdeutschlands 1996 bei 152% bzw. 158%. Die Anlageinvestitionen sind von 91 Mrd. DM 1991 auf über 196 Mrd. 1995 gestiegen. 1996/97 sind sie zurückgegangen und betrugen 1997 190 Mrd. DM. Der relativ starke Zuwachs der Investitionen wurde durch vielfältige Maßnahmen der Investitionsförderung erreicht, die allerdings zu einem großen Teil direkt und indirekt westdeutschen Unternehmen und Konzernen über Investitionssubventionen (Opel, VW, Siemens u.a.) und zusätzliche Aufträge zugute kamen.

Nach Untersuchungen des DIW wurden in Ostdeutschland in den Jahren 1991-93 von den Gesamtinvestitionen der Unternehmen rund 50% von westdeutschen und ausländischen Unternehmen und fast 25% mit öffentlichen Mitteln im Verkehr und bei der Post/Telekom durchgeführt.9 Auch in den Folgejahren wurden die Investitionen hauptsächlich durch westdeutsche und ausländische Unternehmen und öffentliche Finanztransfers realisiert, wobei sich in der Tendenz der Anteil der aus eigenen Quellen ostdeutscher Unternehmen finanzierten Investitionen etwas erhöht hat.

Bei der Beurteilung der Investitionsentwicklung in Ostdeutschland müssen einige problematische Aspekte beachtet werden. Neben der starken Abhängigkeit der Investitionsentscheidungen von der ökonomischen Situation und den Interessen der nicht in Ostdeutschland liegenden Mutterunternehmen sowie von der westdeutschen und internationalen Konjunktur, wirken sich die überdurchschnittlich hohen Bau- und entsprechend niedrigen Ausrüstungsanteile sowie der im Vergleich zu den alten Bundesländern relativ geringere Anteil der Investitionen in den innovativen Branchen des verarbeitenden Gewerbe hemmend auf die Erhöhung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in den neuen Bundesländern aus. Die Bauanteile der Anlageinvestitionen lagen im Durchschnitt des Zeitraums vom 2. Halbjahr 1990 bis 1996 in Ostdeutschland mit 67% um ca. 10 Prozentpunkte höher als in den alten Bundesländern. Der Anteil der Investitionen des verarbeitenden Gewerbes an den Investitionen aller Wirtschaftsbereiche betrug im Durchschnitt der letzten Jahre 13% mit einer fallenden Tendenz. In den alten Bundesländern lag dieser Anteil Anfang der 90er Jahre bei 19%.

Dem verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands gegenüber verhielt sich das westliche Kapital in der Tat wie ein "scheues Reh". "Ausschlaggebend dürfte hierfür gewesen sein, daß Kapazitätserweiterungen an den westdeutschen Standorten im allgemeinen einfacher, billiger und besser kalkulierbar sind. Neue Zweigwerke verursachen besonders in einer neuen Umgebung in der Anfangsphase zumeist höhere Kosten, überdies herrscht erhebliche Ungewißheit darüber, wie sich der ostdeutsche Markt in der langen Frist entwickeln wird. Insofern ist es meist rationeller, die Nutzung der im Westen bestehenden Anlagen zu intensivieren bzw. den Output auf der Grundlage wenig umfangreicher Investitionen zu erhöhen."10

Das für Marktwirtschaften typische Überangebot, die anhaltenden Überkapazitäten, d.h. nicht ausgelasteten Produktionskapazitäten in den westdeutschen Unternehmen, die als Käufer für ostdeutsche Betriebe bzw. als Investoren in Frage kamen und für die ostdeutsche Betriebe eine unerwünschte Konkurrenz bedeuteten, ist der Hauptgrund für das insgesamt, ungeachtet einiger Ausnahmen, zögerliche Einfließen westdeutschen Kapitals in die verarbeitende Industrie Ostdeutschlands. Anders war die Situation in der standortgebundenen gewerbliche Wirtschaft, namentlich der Energieerzeugung. Hier war das westliche Kapital schnell präsent: Im August 1990 wurde, für die Öffentlichkeit und vor allem für die Kommunen überraschend, ein Vertrag mit der Treuhandanstalt unterzeichnet, der drei westdeutschen Energieunternehmen Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke AG Essen, PreussenElektra AG Hannover, Bayernwerk AG München - die Mehrheit der Kapitalanteile am zentralen Energieverbundnetz der noch existierenden DDR übertrug. Das bestimmende Interesse des westdeutschen Kapitals an der Erweiterung seines Absatzmarkts wird auch daran deutlich, daß die ostdeutschen Handelseinrichtungen sehr rasch und fast vollständig in das Eigentum westdeutscher Handelsketten übergingen und über Nacht auch ostdeutsche Waren aus deren Angebot weitgehend verschwanden. Hierfür wurden wesentliche Voraussetzungen noch vor der staatlichen Vereinigung durch die Währungsunion und die Einführung der DM am 1. Juli 1990 geschaffen. Das gesamte Geld- und Kreditwesen sowie die Versicherung der DDR wurde von den westdeutschen Banken und Versicherungskonzernen übernommen. Ein dichtes Netz von Filialen wurde in einem rasanten Tempo und mit beträchtlichen Mitteln aufgebaut und erweitert. Der Immobilienboom versteht sich für marktwirtschaftliche Verhältnisse von allein.11

Ein spezifisches Merkmal der Wirtschaft der neuen Bundesländer besteht darin, daß sich eine recht eigentümliche Art von Unternehmensstrukturen herausgebildet hat. Die ostdeutsche Wirtschaft befindet sich zu einem großen Teil in der Hand des westdeutschen Kapitals und muß als eine in wesentlichen Zügen von westdeutschen Konzernen und von Transferzahlungen abhängige Dependenzökonomie charakterisiert werden. Die Produktion ist größtenteils wenig forschungsintensiv und in nur wenigen Fällen Grundlage für die Herausbildung vernetzter regionaler Strukturen. Der hohe Anteil der Produktion als verlängerte Werkbänke westdeutscher Unternehmen führt auch zur Verringerung des Steueraufkommens der neuen Bundesländer und der ostdeutschen Kommunen. Der Anteil der neuen Bundesländer am Gewerbesteueraufkommen Deutschlands ist weit geringer als ihr Anteil an der Produktion. Bei einem Anteil der neuen Bundesländer an der inländischen Verwendung von Waren und Leistungen 1994 (letztes Jahr in dem die gesonderte Erfassung der jeweiligen Kennziffern für die neuen Bundesländer erfolgte) von 17%, betrug ihr Anteil an den Einnahmen aus indirekten Steuern nur 4%.12

Wissenschaft und Forschung in Ostdeutschland

Im Vergleich zur Investitionsförderung ist die Förderung von Forschung und Entwicklung bisher unbefriedigend.13 Dies ist um so problematischer, da die vorhandene Forschungslandschaft der DDR fast völlig verschwunden ist. Im Jahre 1989 bestanden in Ost- und Westdeutschland nahezu die gleichen quantitativen Relationen hinsichtlich der Anteile der in Forschung und Entwicklung Tätigen an der Bevölkerung. Dies hat sich in nur wenigen Jahren radikal verändert. In der Industrieforschung ging die Anzahl der Beschäftigten Personen auf 15%, von 75 Tsd. (1989) auf 12. Tsd. (1994) zurück. Die Gesamtaufwendungen für Forschung und Entwicklung im Wirtschaftssektor betrugen 1992 pro Kopf der Bevölkerung in den neuen Bundesländern nur ein Zehntel der vergleichbaren Aufwendungen in den alten Bundesländern, 85 DM im Vergleich zu 840 DM. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Der dramatische Rückgang wird auch bei den Inlandsanmeldungen von Erfindungen zu Patenten deutlich: 1989 kamen ca. 12.000 Anmeldungen aus der DDR, 1993 nur noch 2.110 Patente (4,5%) aus den neuen Bundesländern.

Auch bei der universitären und außeruniversitären Forschung sind nach 1989 die Potentiale erheblich zurückgegangen, wenn auch nicht so stark wie bei der wirtschaftsnahen Forschung: bei der universitären Forschung von 14 Tsd. (1989) auf ca. 10 Tsd. Personen (1994) und bei der außeruniversitären Forschung von 32 Tsd. auf ca. 12 Tsd. Personen. Darüber hinaus gab es einen spürbaren Substanzverlust durch Weggang qualifizierter Forscher in die alten Bundesländer, ins Ausland oder durch Entlassungen (wie z.B. durch den sogenannten Meyer-Erlaß in Sachsen). Die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Hochschulen für innovative Prozesse der Wirtschaft hat sich wesentlich verschlechtert. Hierzu trug auch der weitgehende Zusammenbruch der Forschungskooperationen bzw. -verbände bei. Soweit sich an den Hochschulen neue Forschungskooperationen entwickelt haben, beziehen sie sich kaum auf die Industrie der jeweiligen Region.

Die Abwicklung der Forschungskapazitäten der Akademie der Wissenschaften (AdW) und die Auflösung der Großforschungszentren hat zu tiefen Einschnitten bei der außeruniversitären Forschung geführt. Bis zum 1. Januar 1994 wurden 100 neue außeruniversitäre Forschungseinrichtungen gegründet, die aber gegenüber der Akademie der Wissenschaften eine wesentlich geringere Forschungskapazität aufweisen. Zu diesen neuen Forschungseinrichtungen gehören u.a. drei Großforschungseinrichtungen, 24 Einrichtungen der "Blauen Liste", neun Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft sowie zwei Institute der Max-Planck-Gesellschaft und entsprechende Außenstellen. Die Kapazitäten dieser Einrichtungen beziehen sich vorwiegend auf die Grundlagenforschung. Die Bezüge zu industrienahen Forschungsaufgaben sind schwach. Die vom Wissenschaftsrat empfohlene Erhöhung des Anteils von Großforschungseinrichtungen in den neuen Bundesländern wurde vom Bundesministerium für Forschung und Technologie nicht berücksichtigt.

Die Lage der ostdeutschen Wirtschaft im achten Jahr der Vereinigung - ein Fazit

Alle Versprechungen und Zeitpläne der Bundesregierung - blühende Landschaften, Aufholprozeß und Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse innerhalb von 3-4 Jahren, Finanzierung der ostdeutschen Transformation ohne größere finanzielle Belastungen der Bevölkerung in den alten Bundesländern - wurden nicht erfüllt. Im Gegenteil: in Ostdeutschland vollzog sich der tiefste Einbruch der bisherigen Wirtschaftsgeschichte Deutschlands.

Ostdeutschland ist heute, und dies wird sich auch bei einer anderen Wirtschaftspolitik kurz- und mittelfristig kaum ändern, eine Wirtschaftsregion, die im Vergleich zu Westdeutschland ein deutlich niedrigeres Produktions-, Produktivitäts- und Einkommensniveau sowie Steueraufkommen, etwa die doppelte Quote der Erwerbslosigkeit sowie eine weiter stark zunehmende pro-Kopf Verschuldung der Länder und Kommunen aufweist.

Die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  • Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Strukturen und Verflechtungen haben sich weitgehend nicht organisch aus der vorhandenen Substanz, den Innovations- und Qualifikationspotentialen sowie den bis 1989 bestehenden Absatz- und Lieferbeziehungen entwickelt. Sie knüpfen unzureichend an gegebene Stärken und Traditionen der ostdeutschen Wirtschaft an und tragen auch zu wenig dazu bei, ihre Schwächen zu überwinden. Das ostdeutsche Wirtschaftsgebiet wurde schockartig an das Wirtschaftsgebiet der alten Bundesländer und der EU angegliedert, in dortige Kapitalreproduktions- und Eigentumstrukturen weitgehend integriert. Damit war ein Ausmaß der Entwertung bzw. Vernichtung des Kapitalstocks und von Arbeitsplätzen verbunden, das weit höher lag als in den ost- und mitteleuropäischen ehemals staatssozialistischen Ländern. Ostdeutschland ist heute eine große strukturschwache und weitgehend deindustrialisierte Region der Bundesrepublik und der EU.
  • Die vorhandene Wirtschafts- und vor allem Industriestruktur ist zu wenig zukunftsorientiert und bildet keine ausreichende Basis für eine sich selbst tragende, nachhaltige, umweltorientierte Wirtschaftsentwicklung. Infolge der Deindustrialisierung bleibt der Anteil der Industrie weit hinter den Anteilen in anderen Industrieländern zurück, vor allem innovationsintensive und auch auf Auslandsmärkte ausgerichtete Branchen sind unterentwickelt: nur knapp 25 % der Bruttowertschöpfung des ostdeutschen verarbeitenden Gewerbes entfallen auf die Branchen Chemie, Maschinenbau, Elektrotechnik und Fahrzeugbau, gegenüber 50 % in Westdeutschland. Die Industriearbeitsplatzdichte (industrielle Arbeitsplätze im Verhältnis zur Bevölkerung) ist in den neuen Bundesländern weniger als halb so groß wie in den alten. Industrielle Großbetriebe sind völlig unterrepräsentiert. Der Mittelstand hat kein auftragsstimulierendes Hinterland in größeren Unternehmen. 11

Die tiefen Disproportionen der ostdeutschen Wirtschaft werden deutlich, wenn ihre Anteile an wichtigen Indikatoren der gesamten Bundesrepublik betrachtet werden. (Vgl. Tabelle 1)

Tabelle 1 Anteile der neuen Bundesländer an Deutschland insgesamt (Anteile in v.H.)

1996 Bevölkerung 19
Erwerbstätige (1997) 18
Arbeitslose – registrierte - (1997) 31
Arbeitslose – registrierte und verdeckte - (1997) 36
BIP, in effektiven Preisen 11
Industrie (Umsatz) 6
Maschinenbau (Umsatz) 5
Elektrotechnik (Umsatz) 5
Landwirtschaftlich genutzte Fläche 31
Rinder 18
Schweine 13
Export 3
FuE-Aufwand Wirtschaft 5
FuE-Aufwand verarb. Gewerbe 3

Quelle: Jahresgutachten 1997/98, Sachverständigenrat zur Begutacht ung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; Wirtschaftsdaten Neue Länder, BMWi; Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1997; eigene Berechnungen;

Die Angliederung der ostdeutschen Wirtschaft war vor allem ein Prozeß der Neuverteilung des Vermögens und der Märkte sowie der Abwicklung der ehemals volkseigenen Betriebe im Interesse der westdeutschen Konzerne. Die Treuhand hat rund 85% des von ihr verwalteten produktiven, ehemals volkseigenen Vermögens der DDR in den Besitz westdeutscher Unternehmen überführt. Durch das Zusammenspiel der Kommandozentralen der westdeutschen Wirtschaft und des Staates wurde als erstes das Bankensystem als Schaltstelle und Regulierungsinstrumentarium finanzkapitalistischer Macht installiert. Die westdeutschen Großbanken und Handelsketten okkupierten den ostdeutschen Markt. Nach einer vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle durchgeführten Untersuchung zu Eigentums- und Vermögensstrukturen in Ostdeutschland, in die der gesamte Unternehmenssektor, nicht nur die von der Treuhandanstalt privatisierten Betriebe, einbezogen wurde, ergibt sich folgendes Bild über die Anteile westdeutscher und ausländischer Eigentümer an den Unternehmen im produzierenden Gewerbe in Ostdeutschland - Anteile in Prozent, in ( ) jeweils westdeutsche Anteile (14):

Anteil an Betrieben 13 (12)
Anteil an Beschäftigten 37 (31)
Anteil am Geschäftsvolumen/Umsatz 52 (41)
Anteil am Stammkapital 50-58 (44-51)

  • Die Wirtschaft der neuen Länder hat den Charakter einer Filialökonomie angenommen. Die Mehrzahl der Industriefirmen fungiert als verlängerte Werkbank mit relativ geringer Wertschöpfung. Über die Entwicklung der ostdeutschen Dependenzunternehmen wird in den westdeutschen Unternehmenszentralen entschieden. Es besteht die reale Gefahr, daß große Teile des ostdeutschen Produktionspotentials als "Manövriermasse" im Konjunkturzyklus behandelt werden. Die eigenständigen Interessen Ostdeutschlands lassen sich in den westdeutschen Konzern- und Unternehmenszentralen kaum noch artikulieren und werden bei den Entscheidungen weitgehend mißachtet. War die wirtschaftliche Entwicklung der DDR vorwiegend auf die Bedürfnisse des RGW Markts, vor allem des Markts der Sowjetunion, ausgerichtet bei zugleich vorhandenen Autarkiezügen, so ist sie jetzt weitgehend den Verwertungsinteressen des westdeutschen Kapitals untergeordnet.
  • Die Zahl der Erwerbsarbeitsplätze ist auch im achten Jahr der deutschen Einheit rückläufig. Alarmierend ist der ansteigende Trend der Langzeitarbeitslosigkeit und die hohe Arbeitslosenquote der Frauen. 1966 waren 60% aller Erwerbslosen Frauen. Der Anteil der Frauen die länger als zwei Jahre arbeitslos sind, betrug mit 15% etwa das dreifache des entsprechenden Anteils der Männer mit 5,4%. Die Berufsbildungsmisere spitzt sich weiter zu. Ein zunehmender Teil der Jugendlichen hat keine Chance auf eine Lehrstelle und nach Abschluß der Lehre auf einen Arbeitsplatz. Die ostdeutsche Bevölkerung nimmt vor allem infolge des drastischen Rückgangs der Geburten ab. Die Abwanderung insbesondere mobiler, jüngerer und kreativer Menschen setzt sich fort, wodurch eine Verschärfung wirtschaftlicher und sozialer Probleme auch perspektivisch programmiert ist.
  • Die ostdeutsche Wirtschaft bleibt langfristig von öffentlichen Finanztransfers abhängig. Ein großer Teil dieser Mittel, insbesondere der in den neuen Bundesländern eingesetzten Fördermittel und Subventionen, fließt infolge der entstandenen Unternehmensstrukturen, der Art und Weise der Wirtschaftsförderung und der Auftragsvergabe sowie der westdeutschen Lieferüberschüssen an Gütern und Dienstleistungen nach Westdeutschland zurück. Sie sind dort eine bedeutende Quelle höherer Profite von Banken, Versicherungen, Handelsketten, Bau- und Industrieunternehmen: Profitschub durch die neuen Absatzmärkte, Milliardengewinne durch Subventionen und Steuererleichterungen für westdeutsche Unternehmen, die in Ostdeutschland investieren, Übernahme lukrativer Großaufträge bei der staatlich finanzierten Modernisierung und Erweiterung der Infrastruktur. Die finanzielle Situation der ostdeutschen Länder und vor allem der Kommunen hat sich weiter verschlechtert. Ende 1997 lagen die Schulden der ostdeutschen Länder bei 90 Mrd. DM und der ostdeutschen Kommunen bei 41 Mrd. DM. In fünf Jahren, von 1992 bis 1997 sind die Schulden der Länder und Kommunen in Westdeutschland um 38% bzw. 16% gestiegen, in Ostdeutschland hingegen um 300% bzw. 187%. Damit haben die ostdeutschen Kommunen die westdeutschen in der pro-Kopf Verschuldung übertroffen. 1992 lag ihre pro-Kopf Verschuldung noch bei 50% der westdeutschen Kommunen.16 Insgesamt ist der Schuldenstand je Einwohner in Ostdeutschland (Westdeutschland jeweils = 100) von 30,6 (1992) auf 83,3 (1996) bzw. von 2.265 DM auf 7.491 DM gestiegen.17 Die Steuereinnahmen je Einwohner (in DM) betrugen (Westdeutschland = 100): 1991 13,4% und 1996 32,9%.18
  • Die Vielzahl von Existenzgründungen, die meist ohne die erforderliche Kapitalausstattung erfolgten, hat nur zu einem geringen Teil wirtschaftlich leistungsfähige Einheiten entstehen lassen. Obgleich sich in den letzten Jahren die Kosten- und Rentabilitätssituation verbessert hat, erzielten 1996 noch über 40% der ostdeutschen Unternehmen keinen Gewinn. Die Zahlen der Insolvenzen und der Gewerbeabmeldungen nehmen weiter zu. Ein hoher Anteil der nach 1990 geschaffenen Arbeitsplätze ist gefährdet. Eine Lohndrosselung vorzunehmen, wie von den Unternehmerverbänden und dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagen wird, löst die Probleme nicht. Ostdeutsche Unternehmen sind im Vergleich zu den westdeutschen mit höheren Kosten für Energie, Wasser, Abwasser und Fremdkapitalzinsen belastet. Hier liegen Ansätze für mögliche Kostenentlastungen. Probleme erwachsen auch aus hohen Gewerberaummieten besonders im innerstädtischen Bereich. Hemmnisse für eine dynamische Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft ergeben sich insbesondere auch daraus, daß die Innovationskraft der ostdeutschen Unternehmen geschwächt wurde, daß die Aufträge der öffentlichen Hand neuerdings zurückgehen und der geringe Einkommenszuwachs der abhängig Beschäftigten 1996/97/98 die Absatzbedingungen ostdeutscher Konsumgüter und Dienstleistungen verschlechtert.
  • Ungeachtet umfangreicher Transferleistungen, einer gegenüber den alten Bundesländern höheren Intensität der Wirtschaftsförderung sowie beträchtlicher Unternehmens- und Infrastrukturinvestitionen - also insgesamt günstiger "Angebotsfaktoren" - ist eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung, eine die wirtschaftliche und soziale Reproduktion fördernde Wirtschaftsstruktur nicht erreicht. Die eigenständige Reproduktionsfähigkeit der neuen Bundesländer ist in weite Ferne gerückt.

Fußnoten

3 Programm der PDS zur Bundestagswahl 1998, April 1998, Disput/Pressedienst, 4/98, Beilage, S.3

4 Vgl. MEMORANDUM ‘98, Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, PapyRossa Verlag, Köln 1998, S.120ff; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Mai 1998, S.33

5 Berechnet nach: Wirtschaftsdaten der neuen Länder, Januar 1998, Bundesministerium für Wirtschaft, S.30 

6 Fünf Jahre Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1995, S.12

7 Vgl. Sozialreport 1997, Hrsg. Gunnar Winkler, Berlin 1997, S.335/6 

8 Vgl. Hierzu Siegfried Wenzel, Plan und Wirklichkeit, Scripta Mercaturae Verlag, 1998, S. 162ff

9 DIW Wochenbericht 3/1995, S.77

10 Hoffmann Lutz, Warten auf den Aufschwung, tv Verlag, Regensburg 1993, S.47

11 Vgl.hierzu: Harry Nick/Klaus Steinitz, Bilanz der Übernahme der DDR-Wirtschaft durch die Bundesrepublik Deutschland und Ausblick, in Hanna Behrend (Hrsg.), Die Abwicklung der DDR, Wende und deutsche Vereinigung von innen gesehen, Neuer ISP Verlag, Köln 1996, S.128f

12 Vgl. Rolf Mager, Manfred Voigt, Transferleistungen im geeinten Deutschland - Nur eine Einbahnstraße von West nach Ost?, PDS im Bundestag, Blickpunkt: Wirtschaft und Umwelt, Rundbrief, Nr. 9, 1997 , S.13f

13 Vgl. zu dieser Problematik: Ronald Heller, Die Modernisierung bleibt auf der Strecke,in: Vereinigungsbilanz.

Fünf Jahre deutsche Einheit. (Hrsg. Klaus Steinitz), VSA Verlag,, Hamburg 1995

14 Vgl.Ruth Grunert, Brigitte Loose, Udo Ludwig, Eigentums- und Vermögensstrukturen in Ostdeutschland - eine Bestandsaufnahme -, Wirtschaft im Wandel, IWH 1/1998, S.13. Die Differenz zu 100 umfaßt die ostdeutschen Eigentümer und die öffentliche Hand.

15 Vgl. Siegfried Frister, Holger Liljeberg, Gunnar Winkler, Arbeitslosenreport 1997, Berlin 1997, S.172, 175

16 Berechnet auf der Grundlage von Angaben der Deutschen Bundesbank, Monatsbericht, Mai 1998, S.56/57*

17 Rüdiger Pohl, Joachim Ragnitz, Ostdeutsche Wirtschaft: Kein Grund zur Resignation, Wirtschaft im Wandel, IWH, 7/1998, S.7

18 Ebenda, S.7

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