Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Zur „Primärwahl“ bei der französischen Sozialdemokratie
Vorentscheidung um die Präsidentschaftskandidatur ist gefallen

02/2017

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Nachstehend eine Bewertung zum ersten Durchgang vom 22. Januar 17. Ein Artikel zum zweiten Wahlgang vom 29. Januar d.J. (den ebenfalls Benoît Hamon gewann), seiner Auswertung und vor allem seinen Folgewirkungen folgt in Kürze.

Gleich zwei mal erhielt der bis vor kurzem amtierende französische Premierminister Manuel Valls in der vergangenen Woche eine Ohrfeige. Zunächst am Dienstag voriger Woche (17. Januar 17), im buchstäblichen Sinne: Anlässlich eines Wahlkampfauftritts im bretonischen Lamballe verpasste ein 18jähriger bretonischer Regionalist dem Rechtssozialdemokraten eine öffentliche Backpfeife.

Dafür wurde der junge Mann inzwischen zu drei Monaten Haft auf Bewährung und einem Euro Geldstrafe verurteilt. Kurz nach dem Ereignis sagte ein Radiohörer beim Rundfunksender France Inter zu Valls: „Wir sind 66 Millionen, die Dir gerne eine geschmiert hätten!“, und der humoristische Liedermacher Franjo Reno schrieb eigens einen Song über La gifle de Valls. Am Freitag, den 20. Januar d.J. kam dann weitere Ungemach hinzu. Anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung des Ex-Premiers in Paris störten ihn Zwischenrufer im Saal, die ihn daran erinnerten, wie er im Frühjahr und Sommer 2016 das so genannte Arbeitsgesetz (Jungle World 26/16) durchgepeitscht hatte: „Wir vergessen nicht, wir vergessen nicht!“

Die zweite Maulschelle, dieses Mal allerdings symbolischer Art, folgte am Sonntag (22.01.17) - in Gestalt des Stimmergebnisses des früheren Innen- und Premierministers bei der Vorwahl, die den Präsidentschaftskandidaten der französischen Sozialdemokratie bestimmen soll. Im ersten Durchgang landete Valls, wider eigenes Erwarten, „nur“ auf Platz zwei mit 31,2 Prozent der abgegeben Stimmen. Aus seiner Sicht bedeutet dies eine Überraschung. Nachdem das amtierende Staatsoberhaupt François Hollande am 1. Dezember 16 - unter anderem auch auf massives Drängen seines damaligen Premierministers hin - auf eine erneute Präsidentschaftsbewerbung verzichtet hatte, hielt Valls sich für den „natürlichen Kandidaten“ der Regierungspartei. Damals ging er davon aus, die Kandidatur ohne größere Anstrengung in der Tasche zu haben.

Nun muss der Einpeitscher darum bangen, das zentrale Ziel seiner politischen Karriere zu verfehlen. Denn in der ersten Wochenhälfte sah es so aus, als begünstige das Kräfteverhältnis vielmehr seinen Gegenkandidaten Benoît Hamon, einen früheren Kopf des linken Parteiflügels, der von 2012 bis 2014 als Staatssekretär für Verbraucherschutz amtierte. In der ersten Runde der Vorwahl lag der 49jährige mit 36,1 Prozent der rund anderthalb Millionen abgegebenen Stimmen in Führung.

Erneut hätte sich – gelingt Hamon am kommenden Sonntag die Bestätigung – der „dritte Mann“ aus den vorab veröffentlichen Umfragen letztendlich an die Spitze setzen können. Denn bereits bei der Abstimmung der konservativen Basis im November 2016 hatte sich François Fillon, und damit der auf dem dritten Platz eingestufte Bewerber hinter den ursprünglichen Favoriten Alain Juppé und Nicolas Sarkozy, durchsetzen können. In beiden Fällen verhalf das gute Auftreten und sachliche Argumentieren in den jeweils drei Fernsehdebatten den „dritten Männern“ dazu, an den eher als „Blender“ wirkenden Umfragefavoriten vorbeizuziehen. Neben Valls konnte Benoît Hamon auch den vormaligen Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg überrunden, der sich als relativ „links“ zu profilieren versuchte, dessen gar zu glattes Image ihm jedoch letztendlich nur 17,5 Prozent eintrug.

Hatten sich die meisten Beobachter eine eher gähnend langweilige Vorwahl bei der Sozialdemokratie – welcher eine sichere Niederlage bei der Präsidentschaftswahl in nunmehr drei Monaten vorausgesagt wird - versprochen, findet nun doch noch eine inhaltliche Richtungsentscheidung statt. Denn zwischen Valls und Hamon stehen tatsächlich konträre Inhalte im Raum. Sofern man bei Manuel Valls von Inhalten sprechen kann, dominiert doch bei ihm vor allem der Wille zur politischen Macht. Auch wenn er sie bislang vor allem dazu nutzte, um als Innenminister Roma zu schikanieren oder als Regierungschef wirtschafts- und sozialpolitische Kapitalimperative ohne Abstriche umzusetzen.

Längst hat sich die Aura des „Machers“ dabei allerdings abgenutzt. Ebenso, wie einige der Legenden, die seine Person umgaben, zerplatzt sind. In der Vergangenheit machte Valls glauben, er sei das Kind von spanischen Bürgerkriegsflüchtlingen, also Antifaschisten. In Wirklichkeit ist mittlerweile bekannt, dass seine Familie sich nicht vor den Franco-Truppen fürchtete, sondern vor antiklerikalen Maßnahmen spanischer Trotzkisten und Anarchosyndikalisten in Barcelona 1937. Die Familie flüchtete damals aus der Stadt. Manuel Valls’ Vater erhielt später als Künstler Aufträge und ging mit diesen nach Frankreich. Fünfundzwanzig Jahre später kam der Sohnemann in ebendieser Stadt auf die Welt: Um den Sprössling in Barcelona zu gebären, waren seine Eltern ungehindert nach Franco-Spanien ein- und zurück nach Frankreich ausgereist. So viel zum Thema antifaschistische Legendbildung.

Hamon steht dagegen in gewissen Grenzen für echte Überzeugungen, die wenigstens noch die Bezeichnung „sozialdemokratisch“ verdienen. Bei ihm kommt ein gewisser grüner Einschlag hinzu. Als einziger der gewichtigen Bewerber für die sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatur griff Benoît Hamon ökologische Zukunftsfragen auf, indem er sich für einen Ausstieg aus der Atomkraft für 2035 – auch die französische grüne Partei bietet nichts Besserer – und aus dem besonders schadstoffhaltigen Dieselkraftstoff-Verbrauch ab 2025 aussprach. Auch machte er Wahlkampf gegen den Pestizidmissbrauch, um den sich jüngst einige Skandale in Frankreich rankten. Hamon spricht sich für die Abschaffung des von Valls verantworteten so genannten Arbeitsgesetzes aus, aber auch für einen Ausstieg aus dem seit vierzehn Monate ohne Unterbrechung geltenden Ausnahmezustand.

Dabei beantwortet er allerdings bislang nicht die strategische Frage, wie er es anstellen will, ein Kräfteverhältnis gegenüber jenen Entscheidungsträgern aufzubauen, in deren privaten Händen bislang die reale Macht und die Verfügungsgewalt über wirtschaftliche Produktionsmittel konzentriert sind. Nach fünf Jahren der Präsidentschaft François Hollandes, die auch nach Dafürhalten sozialdemokratischer Parteimitglieder – die sich etwa am vergangenen Samstag (21. Januar 17) in Le Monde äußerten - „genau so gut fünf Jahre rechter Präsidentschaft hätten sein können“, stellt sich diese Frage jedoch akut.

Daneben wirft Hamon eine neue Debatte auf, die in Frankreich erstmals in die etablierte Politik vordringt. Er sprach sich zunächst für ein allgemeines Grundeinkommen aus, das allen Gesellschaftsmitgliedern ausbezahlt werden soll – Bezieher mittlerer und vor allem höherer Einkommen sollen es jedoch faktisch über ihre Besteuerung wieder zurückzahlen. Geringverdienende sollen es, als Ausgangsbasis, mit Lohn- oder anderen Einkommen kombinieren können. Zuerst stellte Hamon ein bedingungsloses Grundeinkommen in Höhe von 750 Euro für alle in Aussicht. Dafür erhielt er mächtigen Gegenwind. Valls ist der Auffassung, dass man dadurch Faulenzern das Geld in den Hintern schieben würde, auch wenn er es etwas höflicher formuliert; und Montebourg kritisierte, es werde dadurch „das Ziel der Vollbeschäftigung de facto aufgegeben“. Beide prangerten auch die „mangelnde Finanzierbarkeit“ an.

Daraufhin schraubte Hamon seine Pläne herunter. Nunmehr verspricht er „in einem ersten Schritt“ ein Grundeinkommen für diejenigen, die keine anderen Ressourcen besitzen, in Höhe von 600 Euro. Das wäre eine um rund 150 Euro verbesserte Sozialhilfe. In einer zweiten und dritten Phase soll sie dann auf weitere Beziehergruppen ausgeweitet sowie auf 730 Euro aufgestockt werden. Noch müsste Hamon allerdings zuerst die Vor- und, weitaus schwieriger für ihn, die Präsidentschaftswahl gewinnen.

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
Zum Thema siehe auch den Artikel des Autors in der Januarausgabe:

Valls, Macron, Montebourg, Hamon, Mélenchon
Das sozialdemokratische und linksliberale Lager zu Beginn eines Superwahljahrs