Unter dem Banner des Marxismus
Lenin über Dialektik

Ein Kommentar von
A. (M.) Deborin

02/2017

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An den Klauen erkennt man den Löwen! Es genügt, das unten folgende Fragment Lenins über Dialektik aufmerksam durchzulesen, um sich bewußt zu werden, daß das internationale Proletariat in Lenin einen der größten Denker verloren hat. Das Fragment zeigt alle Lenin auszeichnenden Eigenschaften in ihrer ganzen Schärfe, Bestimmtheit und Plastik: die Tiefe und Abgeschliffenheit des Ge­dankens, die Schlichtheit des literarischen Gewandes und das er­staunliche Vermögen, die abstraktesten Gedanken mit der revolutio­nären Praxis, dem lebendigen Sein, in Zusammenhang zu bringen.

In dem „Zur Frage der Dialektik" betitelten Fragment hatte sich Lenin selbstverständlich nicht vorgenommen, den ganzen Inhalt der Dialektik zu erschöpfen. Er beabsichtigte lediglich, die Aufmerk­samkeit auf das der Dialektik eigene wichtigste Moment zu lenken, nämlich auf die Identität oder Einheit der Gegensätze als das Grund­gesetz der objektiven Welt und der menschlichen Erkenntnis.

In einem seiner philosophischen Hefte, das in Nr. 1/2 vom Januar-Februar v. J. der russischen Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus" erschienen ist, gibt Lenin folgende Definition der Dia­lektik:

„Dialektik ist die Lehre dessen, wie Gegensätze identisch sein können und sind (wie sie es werden), unter welchen Bedingungen sie, sich ineinander verwandelnd, identisch werden, warum die mensch­liche Vernunft diese Gegensätze nicht als tot und starr, sondern sie als lebendig, bedingt, beweglich, ineinander sich verwandelnd, zu betrachten hat."

Die Identität der Gegensätze ist in der Tat das Grundgesetz der Welt und der menschlichen Erkenntnis. Mit Recht sieht Lenin das Grundgesetz der Dialektik darin, daß in allen Vorgängen der Natur und der Gesellschaft entgegengesetzte und innerlich widerspruchs­volle Tendenzen zur Geltung kommen. .jAlle Dinge sind an sich selbst widersprechend", sagt Hegel und tritt scharf dem Grundvor­urteil der zeitgenössischen Logik entgegen, als ob der „Widerspruch nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei als die Identität", während der Widerspruch eigentlich „für das Tiefere und Wesenhaftere" gegenüber der Identität zu gelten hätte. „Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des ein­fachen Unmittelbaren, des toten Seins; er (der Widerspruch. A. D.) aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit". (1)

Lenin vertritt denselben Standpunkt. Wo es keinen Widerspruch, keinen Kampf der Gegensätze und keinen Übergang derselben in­einander gibt, da gibt es auch keine Entwicklung, kein Leben, keine treibende Kraft. Allein die Gegensätze existieren nicht getrennt, für sich selbst, sondern bilden eine Identität. Die Gegensätze und Wider­sprüche sind in der Identität enthalten. In der realen Wirklichkeit gibt es keine abstrakte, formale Identität. Jeder Körper ist bestän­digen, ununterbrochenen Veränderungen unterworfen, welche die Art seiner „Identität" verändern und aufheben.

Jede konkrete lebendige Identität enthält Unterschiede, Gegen­sätze. Alle Gegensätze gehen über Zwischenglieder oder Zwischen­stufen ineinander über. Daher gibt es weder in der Natur noch in der Gesellschaft irgendwo absolute Grenzen. Nichts existiert in der Welt an und für sich, sondern alles in Beziehung zum übrigen Gan­zen. Ein Vorgang ist just darum widerspruchsvoll, weil er gleich­zeitig identisch ist, just darum identisch, weil er gleichzeitig Wider­sprüche in sich birgt.

Wäre in der Welt alles mit sich selbst identisch, so gäbe es keine Veränderung und keine Entwicklung. Das Grundgesetz der Natur ist Bewegung. Bewegung aber ist Verwandlung einer Form in eine andere, dauernder Übergang des Einen in das Andere. Die ganze Entwicklung der Welt beruht auf der ewigen Verwandlung einer Form oder Erscheinung in eine andere. Der Vorgang der Form­wandlung, der Entwicklungsprozeß vollzieht sich auf dem Wege der Verwandlung der Gegensätze. Diese Gegensätze sind jedoch in der Einheit enthalten und gehen aus einer Entzweiung dieser Einheit hervor. „Die Bedingung für die Erkenntnis aller Vorgänge der Welt in deren „Selbstbewegung", deren spontaner Entwicklung, deren le­bendigem Sein liegt in ihrer Erfassung als einer Einheit von Gegen­sätzen", sagt Lenin richtig. Entwicklung bedeutet „Kampf" der Gegensätze.

II.

Es gibt zwei Auffassungen der Entwicklung, sagt Lenin. Die eine sieht in der Entwicklung nur eine Ab- und Zunahme, eine Wieder­holung. Diese Auffassung ist leblos, tot und trocken.

Die andere Auffassung dagegen erblickt die Grundlage der Ent­wicklung in der Einheit der Gegensätze und der Entzweiung dieser Einheit. Diese Auffassung allein bietet uns den Schlüssel zum Ver­ständnis der Selbstbewegung alles Seienden, geht sie doch davon aus, daß alles Seiende, jedes Ding kraft seiner inneren Widersprüche „sich selbst bewegt", indem es sich in Gegensätze entzweit, welche durch ein gemeinsames Band, durch einen wechselseitigen Zusammenhang, die Einheit, zusammengehalten werden.

Zur Konkretisierung dieses Gedankens genügt es, auf die gegen­wärtige bürgerliche Gesellschaft hinzuweisen, die in entgegengesetzte, doch durch bestimmte Wechselbeziehungen miteinander zusammen­hängende Klassen zerfällt. Kein Proletariat ohne Bourgeoisie, keine Bourgeoisie ohne Proletariat. Daher kann es auch keine Entwick­lung, keine Vorwärtsbewegung ohne Klassenkampf geben.

Erst die Erfassung der Einheit der Gegensätze „bietet uns den Schlüssel zum Verständnis der Selbstbewegung" alles Seienden, erst sie ermöglicht uns das Verständnis der „Sprünge", der „Unter­brechung der Kontinuität", der „Verwandlung ins Gegenteil", der „Vernichtung des Alten und Entstehung des Neuen", sagt Lenin.

In der Tat können Sprünge, Unterbrechungen der Kontinuität, Verwandlungen ins Gegenteil, Übergang von Quantität in Qualität und umgekehrt nur durch die Einheit der Gegensätze erklärt werden. Alle polaren Gegensätze hängen von den Wechselbeziehungen der beiden entgegengesetzten Pole ab, sagt F. Engels. Ihre Vereinigung existiert nur durch ihre Geschiedenheit, ihr Zusammenhang nur durch ihre Gegenüberstelluug, ihre Gegenüberstellung aber nur durch ihre Verbindung und Vereinigung. Daher sind alle Gegensätze re­lativ und ineinander übergehend. Jeder Vorgang in der Natur wie in der Geschichte ist nur als „Selbstbewegung" möglich, d. h. als eine Aufdeckung und ein Kampf der Gegensätze innerhalb der Gren­zen ihres Zusammenhanges und ihrer Einheit.

Die Natur stellt eine unermeßliche Einheit dar, in der alles durch unmerkliche Übergänge zusammenhängt und sich verschiedene Äuße­rungen der Bewegung der Materie ineinander verwandeln: mecha­nische Bewegung, Wärme, Licht und Elektrizität gehen unter be­stimmten Umständen ineinander über. Jede Veränderung aber er­folgt auf dem Wege eines Überganges von Quantität in Qualität und Qualität in Quantität.

Die Identität der Gegensätze bildet die Grundlage, auf der sowohl die elementare als auch die höhere Mathematik beruht. „Eine der Hauptgrundlagcn der höheren Mathematik", schreibt Engels im „Anti-Dühring", „bildet der Widerspruch, daß unter Umständen Gerade und Krumm dasselbe sein sollen." Die Identität von Posi­tivem (+) und Negativem (—) bildet auch die Grundlage der elemen­taren Mathematik. Deshalb betont ja Lenin gerade die Bedeutung dieser elementaren Identitätsform von positiv und negativ für die Mathematik. „Diese beiden Formen des Positiven und Negativen", sagt Hegel, „kommen gleich in den ersten Bestimmungen vor, in denen sie in der Arithmetik gebraucht werden.

Das + a und — a sind zuerst entgegengesetzte Größen überhaupt; a ist die beiden zum Grunde liegende ansichseiende Einheit, das gegen die Entgegensetzung selbst Gleichgültige, das hier ohne weiteren Begriff als tote Grundlage dient. Das — a ist zwar das Negative, das + a als das Positive bezeichnet, aber das eine ist so gut ein Ent­gegengesetztes als das andere.

Ferner ist a nicht nur die einfache zum Grunde liegende Einheit, sondern als -f a und — a ist sie die Reflexion dieser Entgegengesetz­ten in sich; es sind zwei verschiedene a vorhanden, und es ist gleichgültig, welches von beiden man als das Positive oder Negative bezeichnen will; beide haben ein besonderes Bestehen und sind positiv."(2)

Wenden wir uns der Mechanik zu, so muß betont werden, daß wir es hier mit der elementaren, der einfachsten Bewegungsform und insofern auch mit der einfachsten Form der Dialektik zu tun haben. Die einfachste Form mechanischer Bewegung tritt in der Identität von Aktion und Reaktion in Erscheinung. Mechanische Bewegung ist lediglich Ortsveränderung. Sie hat es nur mit Quantitäten zu tun, sodaß die Quantität hier die grundlegende Kategorie bildet.

Die Grundlage der heutigen Atomtheorie bildet die Darstellung der Atome als einer Einheit, eines Systems von polaren Gegensätzen. Die Atome bestehen gemäß der herrschenden Vorstellung aus posi­tiver und negativer Elektrizität, wobei die Mitte des Atoms ein po­sitiver Kern einnimmt, um den Elektronen kreisen. Man nimmt an, daß der Bau des Kerns dem des Atoms entgegengesetzt sei. Wir brauchen uns indessen beim Bau des Atoms oder dessen Kerns hier nicht länger aufzuhalten. Für unsere Zwecke genügt das Gesagte.

Die Chemie stellt ein weiteres Gebiet der Widersprüche dar, in dem uns die Einheit der Gegensätze in der „Verbindung und Dissoziation der Atome", wie Lenin sich ausdrückt, entgegentritt. In der Physik, insbesondere der Chemie, haben wir es mit qualitativen Verände­rungen der Körper entsprechend den quantitativen Veränderungen in ihrer Zusammensetzung zu tun. Andererseits haben wir gerade in der Physik und Chemie eine im Vergleich zur Mechanik höhere Form der Einheit der Gegensätze vor uns. In der Mechanik stehen die Gegensätze einander rein äußerlich gegenüber. In der Chemie dagegen vereinigen sich verschiedene gegensätzliche Körper infolge der Anziehung oder „Affinität" zu einem neuen Körper, wobei sie einander so durchdringen, daß die Eigenschaften jedes der die Verbindung eingehenden Körper für sich genommen verschwinden und vollständig neue Eigenschaften, die ausschließlich dem neu entstandenen Körper zukommen, auftreten.

Wir haben es somit in der Mechanik, Physik und Chemie mit ver­schiedenen Bewegungsformen zu tun. „Bei aller Allmählichkeit", sagt Engels, „bleibt der Übergang von einer Bewegungsform zur anderen immer ein Sprung, eine entscheidende Wendung. So der Übergang von der Mechanik der Weltkörper zu der der kleineren Massen auf einem einzelnen Weltkörper; ebenso der von der Mecha­nik der Massen zu der Mechanik der Moleküle — die Bewegungen umfassend, die wir in der eigentlichen sogenannten Physik unter­suchen : Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus; ebenso vollzieht sich der Übergang von der Physik der Moleküle zur Physik der Atome der Chemie — wieder durch einen entschiedenen Sprung, und noch mehr ist dies der Fall beim Übergang von gewöhnlicher che­mischer Aktion zum Chemismus des Eiweißes, den wir Leben nen­nen."(3)

Dieselbe Idee der Einheit der Gegensätze und des Überganges der einzelnen Bewegungsformen ineinander meint Lenin, wenn er im Anschluß an Hegel und Engels die Reihe aufstellt: Mechanik, Phy­sik, Chemie, Soziologie. Wir übergehen hierbei die Mathematik, da sie als der abstrakte Ausdruck der realen Vorgänge der Wirklich­keit überhaupt eine Sonderstellung einnimmt.

III.

Wie in der Wirklichkeit alles widerspruchsvoll ist und unter be­stimmten Entwicklungsbedingungen infolge der inneren Einheit und des Zusammenhanges alles Seienden sich ins Gegenteil verwandelt, so sind auch die Begriffe beweglich, widerspruchsvoll und bieg­sam, da Begriffe bloße Widerspiegelungen materieller Vorgänge und der Einheit außerhalb uns darstellen.

„Das Wesentliche ist", sagt Lenin an einer andern Stelle, „eine allseitige universelle Biegsamkeit der Begriffe, die bis zur Herstellung der Identität der Gegensätze geht".

Der Skeptizismus und die Sophistik betrachten und verwenden diese Biegsamkeit der Begriffe subjektiv. Der Skeptizismus und die Sophistik betrachten z. B. das Relative als etwas schlechthin Rela­tives, indem sie es vom Absoluten trennen und zum Subjektiven werden lassen. Dem Dialektiker hingegen ist schon die Unterschei­dung von Relativem und Absolutem relativ. „Die Biegsamkeit (der Begriffe. A. D.) ist, sofern sie objektiv angewandt wird, d. h. die Allseitigkeit des materiellen Prozesses und dessen Einheit wider­spiegelt, Dialektik, ist die richtige Widerspiegelung der ewigen Welt­bewegung", sagt Lenin.

„Die Subjektivisten und Skeptiker behaupten, wir würden nur das Endliche und Relative erkennen. Sie sehen nicht den Zusammen­hang des Endlichen und Relativen mit dem Unendlichen, Absoluten. Darum halten sie jede relative Erkenntnis für eine subjektive, nicht aber objektive Erkenntnis. Allein, im Grunde genommen, ist jede wahre Erkenntnis des Relativen eine Erkenntnis des Absoluten und Unendlichen, eine Erkenntnis des objektiven Weltprozesses".

Keime aller Elemente der Dialektik sind schon in einer beliebigen Aussage enthalten, sagt Lenin, weil die Dialektik aller menschlichen Erkenntnis eigen ist. Wir erkennen das Absolute im Relativen nicht hur, weil das Absolute uns nur mittels des Relativen zugänglich ist und sich selbst aus relativen und endlichen Momenten „aufbaut", sondern wir erkennen auch im Einzelnen das Allgemeine, weil das Allgemeine nur durch das Einzelne existiert. Die Wechselbeziehun­gen zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen bilden ebenfalls eine Identität von Gegensätzen, einen wechselseitigen Zusammen­hang und Übergang des Einen in das Andere. Lenin betont, daß sowohl das Studium als auch die Darstellung mit dem Einfachen, Grundlegenden, Massenhaften zu beginnen hat. So verfährt auch Marx im „Kapital". Er beginnt mit der Ware, welche bereits alle Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft enthält. Darauf deckt die weitere Darstellung alle Widersprüche auf, die bereits in der Zelle der bürgerlichen Gesellschaft eingeschlossen sind.

In jeder Aussage sind wie in einer „Zelle" Keime aller Elemente der Dialektik enthalten. Der Satz: „Johann ist ein Mensch" ent­hält die dialektische Aussage, daß das Einzelne, das Besondere auch das Allgemeine sei. Das besagt, daß das Endliche sich ver­ändert und zum Unendlichen, das Einzelne aber zum Allgemeinen wird, indem es seine Isolierung verliert und sich mit dem anderen, demAllgemeinen, dem Unendlichen verbindet, „sich ihm vermittelt." Das Einzelne ist dem Allgemeinen entgegengesetzt, gleichzeitig aber mit ihm identisch. Das Besondere, Einzelne, existiert nicht selbständig, isoliert, ohne einen Zusammenhang mit dem Anderen. Es ist mit dem Allgemeinen, mit allen wirklichen Erscheinungen verbunden. Aber auch das Allgemeine seinerseits existiert nur durch das Einzelne. Daher stellt das Einzelne ebenso das Allgemeine dar, wie alles Allgemeine das „Wesen" des Einzelnen ausmacht.

Das Allgemeine ist vom Standpunkt der Dialektik und im Gegen­satz zur formalen Logik keine leere Abstraktion, sondern ein wesentliches Moment oder das Wesen alles Einzelnen. Allein „jeg­liches Allgemeine umfaßt nur annähernd alle einzelnen Dinge". An­dererseits geht „jegliches Einzelne nicht vollkommen ins Allgemeine ein". Dem abstrakten Allgemeinen der formalen Logik wird das konkrete Allgemeine entgegengesetzt, welches den ganzen Reich­tum des Einzelnen und Besonderen umfaßt. Gleich Marx und Engels übernimmt auch Lenin die Hegeische Lehre vom Begriff, die drei Seiten oder Momente aufweist: das Einzelne, das Besondere und das Allgemeine. Von einzelnen Dingen vollzieht sich der Übergang zum Besonderen, vom Besonderen wiederum zum Allgemeinen.

Das Allgemeine ist keine leere, abstrakte Identität, sondern eine solche, die das Besondere und Einzelne, d. h. die Unterschiede und Gegensätze umfaßt.

Das Allgemeine und Besondere ist in der Einheit gegeben, welche gerade das Gesonderte oder Einzelne ist. Das Allgemeine ver­wirklicht sich daher nur im Einzelnen und in Verbindung mit dem Besonderen. Es gibt kein Haus oder keinen Menschen an sich, son­dern nur bestimmte Häuser und Menschen. So erscheint das Ein­zelne als das Allgemeine, aber auch das Allgemeine als das Einzelne.

Im dialektischen Begriff sind diese drei Momente unlöslich mit­einander verbunden. Nur solche Begriffe, die, wie Lenin sagt, „den ganzen Reichtum des Besonderen und Einzelnen in sich verkörpern", sind konkrete, volle Begriffe. „Jeder Begriff", sagt Lenin, „hängt durch Tausende von Übergängen mit andersgearteten Singulari­täten, Dingen, Erscheinungen, Vorgängen usw. zusammen." So er­hebt unsere Erkenntnis das Einzelne zur Stufe des Besonderen und Allgemeinen. Im Endlichen finden wir das Unendliche. Diese Er­kenntnis spiegelt die objektiven Zusammenhänge der Natur richtig wider.

Das Einzelne ist in seinem einmaligen, unmittelbaren Sein einer­seits etwas Zufälliges, andererseits aber auch etwas Notwendiges, insofern das Einzelne das Allgemeine in sich schließt, das Allgemeine ist und das Allgemeine das Wesen des Einzelnen ausmacht. Das Zufällige und das Notwendige werden einander entgegengesetzt, wie Erscheinung und Wesen. Dasselbe sehen wir auch in der Naturwissenschaft. Sie „zeigt uns", sagt Lenin, „in der Natur die­selben Eigenschaften: Verwandlung des Einzelnen in das Allgemeine, des Zufälligen in das Notwendige, Übergänge, Transgressionen, den wechselseitigen Zusammenhang der Gegensätze."

Lenin macht Plechanow den Vorwurf, daß er, „um populär zu sein", die Identität der Gegensätze als eine Summe von Beispielen darstelle, statt sie als ein allgemeines Gesetz der Welt und der Er­kenntnis aufzuzeigen. Wir haben schon gesehen, wie das Gesetz der Identität oder der Einheit der Gegensätze verstanden sein will.

Der zweite Vorwurf, den Lenin Plechanow macht, ist der, daß letzterer die Erkenntnistheorie als eine Art selbständiger Disziplin betrachte und sie gewissermaßen der Dialektik gegenüberstelle, wäh­rend doch „die Dialektik just die Erkenntnistheorie Hegels und des Marxismus sei". Die dialektische Erkenntnistheorie faßt ihren Ge­genstand, die Erkenntnis selbst, geschichtlich, d. h. als auf der Entwicklung des gesamten Lebens der Natur und des Geistes, des ganzen konkreten Inhalts der Welt beruhend. Der metaphysische Materialismus ist daher einseitig, beschränkt und inhaltsarm.

IV.

Der dialektische Materialismus hingegen ist „eine lebendige, viel­seitige Erkenntnis mit einer Fülle von Abstufungen", ein unendlich komplizierter Erkenntnisprozeß unendlich reichen Inhalts, eine stän­dige Annäherung an die nie ganz zu erschöpfende Wirklichkeit. Die Erkenntnis des Menschen folgt einer Kurve, „welche sich einer An­zahl von Kreisen unendlich nähert". Lenin nennt vier solcher „Kreise": Demokrit — Plato — Heraklit, Descartes — Spinoza, Hol­bach— Hegel (über Berkeley, Hume, Kant) und Hegel — Feuer­bach — Marx.

Jeder folgende Kreis ist weiter, vielseitiger als der ihm voraufge­gangene und repräsentiert, verglichen mit seinem Vorgänger, der seine Grundlage und Voraussetzung bildet, eine höhere Entwick­lungsstufe.

Jeder Kreis umfaßt das Ergebnis der Erkenntnis der Welt einer bestimmten Epoche, jene mögliche Annäherung an die Wirklich­keit, die durch die jeweils erreichte Entwicklungshöhe menschlicher Praxis und Erkenntnis gegeben ist.

Darum sagt Lenin an einer anderen Stelle mit Recht, daß Marx' Lehre „der rechtmäßige Erbe des Besten sei, was die Menschheit im XIX. Jahrhundert in der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus erreicht habe". Mit Marx schließt der letzte „Kreis" unserer Zeit. Der Marxi smus stellt daher die Konsequenz und Verallgemeinerung der gesamten vorangegangenen Geschichte menschlicher Erkenntnis, deren höchste Errungenschaft, dar. Indessen ist es selbstverständ­lich, daß der „Kreis" sich nie ganz „schließen" wird und die mensch­liche Erkenntnis sich dem Kreise nur unendlich nähern kann, ihn jedoch niemals „schließt", niemals vollendet. Die Wirklichkeit ist unerschöpflich. Mithin ist die menschliche Erkenntnis stets nur eine annähernd richtige Widerspieglung der Welt. Im Verlaufe ihrer geschichtlichen Entwicklung nähert sich die Menschhe t immer mehr einer adäquaten Erkenntnis der objektiven Welt, der Erkenntnis des Absoluten. Allein, so sehr sich unsere Erkenntnis dem Absoluten auch nähern mag, sie bleibt doch immer relativ.

Stellt die Dialektik eine „vielseitige Erkenntnis mit einer Fülle von Abstufungen", eine Annäherung an die Wirklichkeit dar, so entsteht aus jeder „Abstufung" oder Strecke der sich dem „Kreise" nähernden Kurve ein philosophisches System. In diesem Sinne hängt auch der philosophische Idealismus nicht in der Luft, sondern besitzt seine, wie Lenin sagt, „gnoseologischen Wurzeln". Denn „ein beliebiges Stück oder Fragment dieser Kurve kann zu einer selbständigen, ununterbrochenen Geraden werden, die, wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, in den Sumpf zum Pfaffen-tum führt (wo sie das Klasseninteresse der herrschenden Klasse verankert)".

Der philosophische Idealismus stellt keineswegs eine absolute Lüge dar, denn er entspringt demselben Boden wie der Materialismus. „Wie der Idealismus, so wächst auch der Materialismus am leben­digen Baum der lebendigen, fruchtbaren, wahren, erhabenen, all­mächtigen, objektiven, absoluten menschlichen Erkenntnis." Nichts­destoweniger bleibt der philosophische Idealismus doch eine Lüge, eine taube Blüte, wird zum Pfaffentum, denn er macht eine der Abstufungen der unendlich komplizierten Erkenntnis zum Absoluten, ein Bruchstück der Wirklichkeit zum Ganzen.

„Der philosophische Idealismus stellt vom Standpunkte des dia­lektischen Materialismus eine einseitige, übertriebene, übermäßige Steigerung (Erweiterung, Aufbauschung) eines der Züge, einer der Seiten, einer der Grenzen der Erkenntnis zum von der Materie, der Natur losgerissenen, vergöttlichten Absoluten dar."

Indem die Idealisten aus der Gesamtheit der Erscheinungen ein „Bruchstück" herausreißen und es seines Zusammenhanges mit der Materie berauben, bauschen sie gleichzeitig das Stück zu einem Ganzen auf und lassen es Dimensionen des Absoluten annehmen. Der dialektische Materialismus hingegen ist sich stets dessen be-. wüßt, daß ein solches aus dem allgemeinen Zusammenhang gerissenes und von der Materie getrenntes Bruchstück jeder Realität ent­behrt und eine „taube Blüte" darstellt. Lenin sieht daher die gno­seologischen Wurzeln des Idealismus im Subjektivismus und der subjektiven Blindheit, in der Verknöeherung und Einseitigkeit, die ein Stück einer Geraden für die ganze Gerade hält und es zu einem ganzen System aufbläst, es zum Absoluten werden läßt.

Eine „Abstufung" besitzt aber „Realität" nur im Zusammen­hang mit dem gesamten Spektrum der Mannigfaltigkeiten, die das materielle Weltgeschehen und dessen Einheit, dessen Ganzheit wider­spiegelt. Mithin ist auch Unterschied und Gegensatz von Ideellem und Materiellem kein unbedingter, absoluter, sondern ein nur re­lativer. Wir finden am lebendigen Baume der lebendigen und ob­jektiven menschlichen Erkenntnis, wie sich Lenin sehr schön aus­drückt, alle möglichen Abstufungen, mannigfaltigste Züge und Schranken, die indessen erst durch ihre Beziehungen zum ganzen Baum, zum materiellen Gesamtgeschehen, Wirklichkeit werden. Jede Abstufung für sich dagegen ist nur eine einseitige, mithin falsche, unwahre, vom materiellen Boden losgerissene Wider­spiegelung des objektiven Geschehens. Die wahre dialektische Er­kenntnis spiegelt dagegen die Allseitigkeit des materiellen Ge­schehens und dessen Einheit wider. Sie muß die Dialektik der Dinge, der Natur und des Verlaufes der Ereignisse selbst in deren ganzer Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit, zu kon­kreter Einheit zusammengefaßt, widerspiegeln.

Endnoten

1) Hegel, Wissenschaft der Logik. Herausgegeben von G.Lasson, 1923, II. T., S. 58.
2) Hegel, a. a. 0. S. 46.
3) F.
Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. 10. Aufl. Stuttgart 1919. S. 57.

Quelle:
Unter dem Banner des Marxismus, Wien / Berlin / Moskau / Leningrad, Band 1, Jg. 1925/26, Heft 2, S. 403-411

Hinweise:
Lenins Fragment "Zur Frage der Dialektik" wurde in TREND 3/2012 veröffentlicht

Zur Person von Abram Moiseewich Deborin siehe: http://www.sovlit.org/amd/index.html