Im Wartesaal Teil 4
Der anhaltende Flüchtlingsstrom 1955

Auszüge aus dem Bericht des Bundesministeriums für Vertriebene

02/2016

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Notaufnahme von Zuwanderern aus der Sowjetischen Besatzungszone
 

Der Zustrom von Zuwanderern aus der Sowjetischen Besatzungszone , der sich im Jahre 1954 auf einen Monatsdurchschnitt von rund 15 000 Personen belief, ist seit März 1955 wieder stetig ange­stiegen. Im Oktober dieses Jahres haben 32 874 Zu-wanderer die Notaufnahme beantragt. Der Zustrom hat damit einen neuen Höchststand erreicht, wie er seit den letzten drei Monaten vor der Volkserhebung vom 17. Juni 1953 nicht mehr vorgekommen war.
Im Wartesaal / Teil 1
Refugees in Nachkriegsdeutschland 1945 - 1957
Zahlen und Daten zur Unterbringung jüdischer Displaced Persons
Im Wartesaal Teil 2

Refugees in der BRD 1951
Bericht des Bundesministeriums für Vertriebene
Im Wartesaal Teil 3
Refugees in der BRD 1953
Auszüge aus dem Bericht des Bundesministeriums für Vertriebene

Der Zustrom von Zuwanderern aus der Sowjetischen Besatzungszone , der sich im Jahre 1954 auf einen Monatsdurch­schnitt von rund 15 000 Personen belief, ist seit März 1955 wieder stetig ange­stiegen. Im Oktober dieses Jahres haben 32 874 Zu-wanderer die Notaufnahme beantragt. Der Zustrom hat damit einen neuen Höchststand erreicht, wie er seit den letzten drei Monaten vor der Volkserhebung vom 17. Juni 1953 nicht mehr vorgekommen war.

Die Ursachen für das erneute Anschwellen des Flücht­lingsstroms sind in erster Linie in der immer deutlicher hervortretenden Tendenz, auch in der Sowjetischen Be­satzungszone die Grundlagen für eine neue „Volks­demokratie" zu schaffen, in dem schwindenden Vertrauen der Bewohner der Sowjetzone auf eine baldige Wieder­vereinigung, in ihrer Enttäuschung über das Ergebnis der Genfer Konferenz und in der zunehmenden Er­schwerung des Interzonenverkehrs durch die sowjetzo­nalen Behörden zu erblicken. Die auffallende Zunahme des Anteils der Jugendlichen unter den Flüchtlingen (im Oktober 1955 55,7 v. H.) findet ihre Erklärung vor allem in dem Bestreben dieser Personen, sich den ver­schärften Maßnahmen zur Anwerbung für militärische und vormilitärische Organisationen zu entziehen. Die Erschwerung des Interzonenverkehrs hatte zur Folge, daß sich der Flüchtlingsstrom wieder zum überwiegen­den Teil nach Westberlin verlagert hat.

Der Anteil der Heimatvertriebenen unter den An­tragstellern, der im Jahre 1954 im Durchschnitt 28,4 v. H. betragen hat, ist im Jahre 1955 leicht zurüdtge-gangen; im Oktober 1955 haben sich unter den Antrag­stellern nur noch 25,6 v. H. Heimatvertriebene befunden.

Die Zahl der „Rückkehrer" unter den Antragstellern (Zuwanderer, die nach Verkündung des „neuen Kurses" am 11. Juni 1953 in der Hoffnung auf eine Besserung der dortigen Lebensbedingungen in die Sowjetzone zurückgekehrt sind, später jedoch erneut in das Bundes­gebiet kommen und die Notaufnahme beantragen) hat im Jahre 1955 erheblich zugenommen. Während im Jahre 1954 insgesamt 1 385 „Rückkehrer" gezählt wurden, ist deren Zahl vom 1. Januar bis 31. Oktober 1955 bereits auf 2 783 Personen angestiegen.

Von den Zuwanderern, die seit Beginn dieses Jahres die Notaufnahme beantragt haben, haben 170 523 Per­sonen die Aufenthaltserlaubnis erhalten und zwar

1) auf Grund eines Rechtsanspruchs; 8,7 v. H., weil sie aus der Sowjetischen Besatzungszone wegen einer be­sonderen durch die politischen Verhältnisse bedingten Zwangslage flüchten mußten (§ 1 Absatz 2 Notauf­nahmegesetz), 3,3 v. H. im Wege der Familienzu­sammenführung (§ 94 des Bundesvertriebenengesetzes) und 20,2 v. H. weil sie im Bundesgebiet eine „aus­reichende Lebensgrundlage" im Sinne des Artikels 11 Absatz 2 Grundgesetz gefunden haben;

2) aus Ermessensgründen: 13,5 v. H. im Wege der Fa­milienzusammenführung, ohne daß alle Voraus­setzungen des § 94 des Bundesvertriebenengesetzes vorlagen, 21,8 v. H. als Jugendliche (besondere Für­sorge) und 32,5 v. H. in besonderen Härtefällen.

Der Anteil der Zuwanderer, denen die Notaufnahme auf Grund eines Rechtsanspruchs nach § 1 Absatz 2 Not­aufnahmegesetz (wegen Vorliegens einer besonderen Zwangslage) zu erteilen war, ist gegenüber dem Jahre 1954, in dem er 14,7 v. H. betragen hat, im Jahre 1955 auf 8,7 v. H. zurückgegangen. Demgegenüber ist der An­teil jener Zuwanderer, denen die Notaufnahme gewährt wurde, weil ihre Freizügigkeit nach Artikel 11 des Grundgesetzes keiner Beschränkung unterliegt, auch im Jahre 1955 weiter angestiegen, und zwar von 9,8 v. H. im Jahre 1954 auf 20,2 v. H. im Jahre 1955. Diese Zu­nahme ist vor allem darauf zurückzuführen, daß der fühlbar werdende Mangel an Arbeitskräften im Bun­desgebiet insbesondere auf Facharbeiter in der Sowjet­zone eine gewisse Anziehungskraft ausüben mag, da sie hier leichter Arbeit finden können.

Als häufigste Fluchtgründe poli­tischer oder überwiegend politischer Art sind von Zuwanderern geltend ge­macht worden: Verfolgungsmaßnahmen wegen Widerstands gegen das Sowjet­regime oder politische Gegnerschaft; Flucht nach Entlassung aus Gefängnis­sen; Zugehörigkeit zu Gesellschaftsschichten, die im Zuge des Klassen­kampfes verfolgt werden; Enteignun­gen, Nichtbeschäftigung politisch miß­liebiger Personen, Nichtzulassung von Jugendlichen bürgerlicher Herkunft oder solcher, die sich nicht in kommu­nistischem Sinne betätigen, zu einer qualifizierten Berufsausbildung, ver­suchte Heranziehung zum Dienst in den Volkspolizeieinheiten und Erpressung zur Bespitzelung von Mitbürgern.

Da von den im Notaufnahmeverfahren abgelehnten Zuwanderern erfahrungsgemäß nur ein kleiner Teil in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehrt und die Zurückbleibenden den Wohnungs- und Arbeitsmarkt be­lasten, waren besondere Maßnahmen, insbesondere im Interesse des Landes Berlin erforderlich. Dort mußten nach einem Bericht des Senats für Arbeit und Sozialwesen Ende September 1954 rund 28.400 im Notaufnahme­verfahren abgelehnte Zuwanderer von den Fürsorgebe­hörden unterstützt werden. Auf Grund einer von der Bundesregierung mit den Ländern abgesprochenen Re­gelung zur Entlastung Berlins erhielten von Oktober 1954 bis Juli 1955 7.800 in Berlin Abgelehnte nachträg­lich die Notaufnahme. Eine zweite im Juli 1955 ein­geleitete Aktion zur Entlastung Berlins von Abgelehnten sieht die Übernahme von weiteren 6.000 Zuwanderern nebst Familienangehörigen (10.000 bis 12.000 Personen) vor. Für deren Unterbringung erhalten die Länder zu­sätzlich Wohnbaumittel.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: DEUTSCHLAND IM WIEDERAUFBAU 1953, Tätigkeitsbericht der Bundesregierung 1955, Hrg.: PRESSE- UND INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG, S. 367f