Die Experimente der sozialistischen Marktwirtschaften
IV. Stilwandel der Wirtschaftspolitik

von H. Hamel

02-2014

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Teil I: Die Begründungen der Transformation
Teil II: Ordnungstheoretische Charakterisierung der sozialistischen Marktwirtschaften

Teil III:  Ordnungspolitische Eigenarten der sozialistischen Marktwirtschaften in Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Ungarn


1. Die Konzeption der Wirtschaftspolitik

Bei der Einführung der sozialistischen Marktwirtschaften konnten sich die Reformpolitiker weder.auf praktische Erfahrungen noch auf hin­reichende theoretische Konzeptionen dieser Systeme stützen. Das be­deutete: sie mußten ein ordnungs- und prozeßpolitisches Programm konzipieren, das dem System einer Marktwirtschaft mit sozialistischem Eigentum an den Produktionsmitteln sowie den damit verbundenen politischen Zielvorstellungen entspricht. Dabei war zu berücksichtigen, daß jede wirtschaftspolitische Maßnahme »nur im Rahmen des allgemeinen Bauplanes der Wirtschaftsordnung« ihren Sinn erhält: »Die ordnungspolitische Gesamtentscheidung hat also vor den einzelnen wirt-schaftspolitischen Handlungen zu stehen - wenn überhaupt sinnvolle Wirtschaftspolitik getrieben werden soll.«Diese Gesamtentscheidung für das System der sozialistischen Markt­wirtschaft war von dem ordnungspolitischen Grundgedanken geprägt, die Interessen der wirtschaftenden Menschen so zu lagern, daß die Er­höhung der gesamtwirtschaftlichen Effizienz aus den betrieblichen Er­folgsmotivationen hervorgeht. Demgemäß ging man bei der Gestaltung der Ordnungsformen davon aus, das Planungssystem, das Anreizsy­stem und das Kontrollsystem zu ändern. Die ordnungspolitische For­mung war also vor allem darauf gerichtet:

  • das System zentraler Planung der Wirtschaftsprozesse durch das Sy­stem (1) (2) dezentraler Planung der Prozesse abzulösen,

  • an die Stelle von Prämien für die Erfüllung zentral vorgegebener Planauflagen auf dem Markt erzielte Gewinne oder Einkommen als Anreize betrieblicher Leistungssteigerungen zu setzen und

  • die umfassenden administrativen Kontrollen von Leistungen und Interessen weitgehend durch Selbstkontrollen aus betrieblichen Er­folgsinteressen sowie durch Marktkontrollen zu ersetzen.

Der politischen Diktion gemäß konnten sich die Reformer jedoch nicht auf den Euckenschen Grundsatz beschränken: »Staatliche Planung der Formen - ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozes-ses - nein.« (3) Die Lenkung des Wirtschaftsprozesses war vielmehr nach wie vor das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Hauptproblem; sie war das wichtigste politische Herrschafts- und Führungsinstrument, das man trotz der dezentralen Planung nach Maßgabe einzelwirtschaftli­cher Erfolgskriterien keinesfalls aus der Hand geben wollte. Demgemäß ging es vor allem darum, ein neues prozeßpolitisches Instrumen­tarium zu entwickeln, das geeignet ist, die Gesamtprozesse entsprechend den zentralen Zielvorstellungen zu steuern. Hierin lag eine der größten theoretischen Schwierigkeiten, eine sinnvolle Wirtschaftspolitik zu kon­zipieren, da sie voraussetzt, daß »das wirtschaftspolitische Handeln aufgrund der Kenntnis der einzelnen Ordnungsformen, der Zusam­menhänge des Wirtschaftsprozesses und der Interdependenz der Ord­nungen« geschieht.(4) Diese Kenntnis fehlte jedoch noch weitgehend, da es sich um Ordnungskonzeptionen historisch erstmaliger Art handelte. Erst bei der Verwirklichung dieser Ordnungen konnte sich erweisen, ob die theoretisch entwickelten Vorstellungen über die Wirkungsweise der Ordnungsformen und die Wahl der wirtschaftspolitischen Instru­mente richtig waren.

Angesichts der ungeheuren Komplexität und der Neuartigkeit des Problems konnten die wirtschaftspolitischen Konzeptionen der Refor­mer nur Experimente sein, die ständig neu bedacht und weiterentwickelt werden müssen:

»Denkt jemand an die Vervollkommnung eines gegebenen Wirtschaftsmecha-nismus, so muß er sich Gedanken darüber machen, wie sich der Idealtyp charakterisieren läßt, da er sonst nicht in der Lage ist, die Hauptrichtung klar anzugeben. Wir müssen offen zugeben, daß es uns bis jetzt nicht gelungen ist, in realer Form eindeutig und in allen wesentlichen Einzelheiten das Modell zu entwickeln, in dem die planmäßige Marktregelung unter Berücksichtigung der für die sozialistische Gemeinschaft verpflichtenden Normen die wirtschaftliche Effektivität am vollständigsten zur Geltung kommen lassen kann.«(5)

Nach dieser Feststellung des ungarischen Nationalökonomen Csikos-Nagy sollen die weiteren wissenschaftlichen Bemühungen um die theo­retische und praktische Vervollkommnung des neuen Wirtschaftsmecha-nismus vor allem auf »die Entwicklung des monetären Systems der Volkswirtschaft« gerichtet sein. Hierbei sei davon auszugehen, »daß der Staat alle Möglichkeiten, die durch die Produktions- und Verteilungs­politik, durch die Preis- und Einkommenspolitik und durch die Finanzierungspolitik gegeben sind, ausnutzen soll«.(6)

2. Aspekte der prozeßpolitischen Steuerung

Im Wirtschaftssystem des administrativen Sozialismus bestand die staatliche Prozeßpolitik in der zentralen Planung der Wirtschaftspro-zesse sowie in allen Maßnahmen, die der Verwirklichung des zentralen Plansystems dienten; jede zentrale Planentscheidung war eine prozeß­politische Entscheidung, die sowohl die naturalen wie auch die mone­tären Hergänge der arbeitsteiligen Prozesse betraf.(7) In den sozialisti­schen Marktwirtschaften dagegen ist die güterwirtschaftliche und mone­täre Planung der laufenden Prozesse Gegenstand betrieblicher Wirt­schaftsrechnungen und Planentscheidungen, so daß die staatliche Pro­zeßpolitik grundsätzlich und methodisch neu gestaltet werden mußte.

Die Erhöhung der volkswirtschaftlichen Effizienz sollte - wie bereits erwähnt - nunmehr durch die legalisierten und aktivierten betriebli­chen Erfolgsinteressen bewirkt werden. In zwei Punkten blieb man je­doch gegenüber den Interessenspontaneitäten skeptisch: 1. Wie würden die Betriebe ihre erwirtschafteten Gewinne oder Einkommen verwen­den, wie also würde sich das Verhältnis von Akkumulation und Kon­sumtion gestalten? 2. Würde die erwünschte Proportionierung der volkswirtschaftlichen Struktur durch die Allokation der Mittel nach Maßgabe betrieblicher Erfolgsinteressen hinreichend gesichert? - Ge­genstand der staatlichen Prozeßpolitik sind somit nunmehr: die Ent­stehung und Verwendung des Volkseinkommens sowie die Steuerung der volkswirtschaftlichen Entwicklung, wobei - entgegen den frühe­ren direkten Eingriffen in den Wirtschaftsablauf - indirekte Methoden, im Sinne der Setzung prozeßpolitischer Daten für das betriebliche Ge­schehen, dominieren.

a. Einkommenspolitik

Nach dem tschechoslowakischen »Konzeptionsentwurf der weiteren Entwicklung des ökonomischen Lenkungssystems«(8) von 1968 - der, auch wenn er nicht mehr realisiert werden konnte, als ein grundlegen­des und umfassendes Konzept der Wirtschaftspolitik in sozialistischen Marktwirtschaften gelten kann - umfaßt die Einkommenspolitik alle Maßnahmen, die sich auf die Entstehung der betrieblichen Einkommen (Gewinne) sowie auf deren Aufteilung in Einkommen der Beschäftigten, »Einkommen« der Betriebe (Investitions- und Reservefonds) und »Ein­kommen« des Staates (steuerliche und sonstige Abführungen der Be­triebe) auswirken. Demgemäß bedeutet Einkommenspolitik in dem hier Kreditpolitik und Geldpolitik. - Dieses prozeßpolitische Instrumentarium kann hier nur beispielhaft erörtert werden.

Mit Recht forderten die Ökonomen als »eine der Grundbedingungen für -das Funktionieren der Marktwirtschaft ... Gleichgewichtspreise, die in der Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage entstehen, auf die Elastizität dieser beiden Faktoren reagieren und deshalb sicherstellen, daß die Volkswirtschaft sich nach der Prioritätsskala der Verbraucher entwickeln wird«, wodurch auch die Struktur der Kapazitäten zweck­mäßig ausgerichtet werde.(9) Entgegen dieser Forderung wurden und werden die Preise zahlreicher Güter de facto noch staatlich manipuliert oder kontrolliert.

In der CSSR hatte man vor Einführung der sozialistischen Markt­wirtschaft eine Reform der Großhandelspreise durchgeführt, bei der 1,5 Millionen Güterpreise neu festgesetzt wurden.(10) Dabei war man von den für 1966 geplanten Selbstkosten ausgegangen, denen 6 °/o der Grund- und Umlaufmittel und 22 °/o des Lohnfonds als Gewinn zuge­schlagen wurden. Abgesehen von der Frage, ob sich ein volkswirtschaft­liches Preissystem überhaupt in dieser Weise »planen« läßt n, bestand der Hauptmangel dieses Verfahrens darin, daß diese neuen Preise und Preisrelationen auf Selbstkosten beruhten, die noch den Bedingungen des alten Systems entsprachen, also von den Betrieben im Interesse weicher Pläne (und möglicherweise auch im Hinblick auf die erwartete Reform) zu hoch angesetzt worden waren. Das führte dazu, daß die Eigenmittel der Unternehmungen im ersten Jahr des neuen Systems (1967) allein in Industrie und Bauwesen rd. 18 Mrd. Kronen höher als geplant waren.(12) Dies wiederum unterminierte die Absicht, die Ent­wicklung der volkswirtschaftlichen Strukturen vor allem mit Hilfe kre­ditpolitischer Maßnahmen (auf die im folgenden noch eingegangen wird) zentral zu steuern. - Im Zusammenhang mit der Preisreform wurde zunächst nur eine kleine Gruppe von Gütern und Dienstleistun­gen der Marktpreisbildung überlassen; für die meisten Güter galten Festpreise oder Limitpreise, die allerdings wegen des Nachfrageüber­hangs fast ausschließlich an der Obergrenze lagen, faktisch also wie Festpreise wirkten.

Ähnliche Probleme hatte man zunächst auch in Ungarn zu bewälti­gen.(13) Heute dominieren jedoch in der Verarbeitungsindustrie bereits freie Preise, während in der Konsumgüter- und Rohstoffindustrie noch Fest-, Limit- und Margenpreise überwiegen.(14) - Demgegenüber be­steht in Jugoslawien weitgehend freie Preisbildung, wenngleich etwa 50 °/o der Erzeugerpreise behördlich kontrolliert werden; eine Preisbin­dung der zweiten Hand gibt es nicht.(15) - Wenngleich auch in Ungarn der Anteil der freien Preise weiterhin erhöht werden soll, befürchtet man doch, eine generelle Freigabe der Preise werde sich aufgrund des Nachfrageüberhangs, der Monopolpositionen zahlreicher Unterneh­men, der Inflationsgefahr und der noch ungenügenden internationalen Konkurrenzfähigkeit ökonomisch und sozial negativ auswirken. Eine weitere Gefahr dürfte vor allem die politische Führung darin sehen, daß die Allokation der Mittel nach Maßgabe freier Preise die Produk­tionsstruktur eher im Sinne einer vorrangigen Entwicklung der Kon­sumgüterproduktion als im Sinne der zentralen Entwicklungsziele ver­ändern könnte.

Ohne hier auf die weiteren prozeßpolitischen Instrumente eingehen zu können, ist generell festzustellen, daß alle Maßnahmen einmal dar­auf zielen, das Interesse der Beschäftigten an hohen betrieblichen Ge­winnen oder Einkommen durch Formen der Gewinn- oder Einkom­mensbeteiligung zu stimulieren; zum anderen sollen die privaten Ein­kommen in Relation zum Güterangebot steigen, vor allem aber nicht zu Lasten der in den Betrieben notwendigen Investitionen; und schließlich sollen die Abführungen an den Staat gewährleisten, daß al­le staatlichen Ausgaben (für Verwaltung, Militär, Bildung, Gesundheit, Verkehr, Betriebsgründungen usw.) finanziert werden können. Mit an­deren Worten: die einkommenswirksamen Maßnahmen sollen bewir­ken, daß die politisch erwünschten Relationen zwischen privatem Kon­sum, staatlichem Konsum und Investitionen in Wirtschaft und Gesell­schaft realisiert werden.
Die »planmäßige Gestaltung des Verhältnisses zwischen Akkumula­tion und Konsumtion« war 1969/70 auch in der DDR Grundlage aller prozeßpolitischen Maßnahmen.(16) Nach Nick bestand der Unterschied zwischen der DDR und den Konzeptionen des »marktwirtschaftlichen Sozialismus« (wobei er Ungarn offensichtlich ausnahm) vor allem dar­in, daß in der DDR der betriebliche Gewinn (Mehrprodukt), im »marktwirtschaftlichen Sozialismus« dagegen - aufgrund des genos­senschaftlichen oder Gruppeneigentums - das Bruttoeinkommen der Betriebe die »zentrale Führungsgröße« sei. Somit werde in der DDR der Beitrag der Betriebe zur Erhöhung des Nationaleinkommens ( = Mehrprodukt plus »Produkt für sich«) »nicht an dem von ihnen pro­duzierten Nettoprodukt selbst, sondern am Mehrprodukt, dem er­zielten Gewinn, gemessen; andernfalls wäre die Proportion Akkumu­lation - Konsumtion durch den Staat nur in relativ weiten Grenzen beeinflußbar«. Das materielle Interesse der Betriebskollektive am Ge­winn sei zwar gegenüber früher beträchtlich verstärkt worden, was je­doch nicht bedeute, »daß der Staat die Proportion Akkumulation -Konsumtion aus der Hand gibt«.

b. Entwicklungspolitik

Die Instrumente der Einkommenspolitik, insbesondere der Kredit- und Geldpolitik, sind eng verknüpft mit den prozeßpolitischen Maßnah­men zur Steuerung der volkswirtschaftlichen Entwicklung. Ausgehend von den langfristigen Zielprojektionen, die am Niveau führender In­dustrienationen orientiert sind, sucht man jene Branchenstrukturen zu bestimmen, die ein »intensives« Wachstum - im Gegensatz zum »ex­tensiven« Wachstum unter den Bedingungen des administrativen So­zialismus (17) (18) - gewährleisten, um auf diese Weise Orientierungsgrößen für die Entwicklungspolitik zu gewinnen. Diese Entwicklungspolitik ist somit - abgesehen von politischen, militärischen, sozialen und in­frastrukturellen Projekten, die der Staat selbst durchführt und finan­ziert - vor allem auf die Investitionen in den verschiedenen Branchen und Betrieben gerichtet.

Auch hier zeigt sich der Stilwandel der Wirtschaftspolitik darin, daß diese Investitionen nicht mehr von zentralen Stellen entschieden und den Betrieben entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden; man versucht vielmehr, die von den Betrieben im Interesse ihres Betriebserfolgs geplanten Investitionen (19) mit Hilfe indirekt wirkender prozeß­politischer Instrumente in die gewünschte Richtung zu lenken. Zwar gilt auch hier, daß grundsätzlich die in den einzelnen Branchen »ob­jektiv notwendige ungleichmäßige Entwicklung der Einkommen« (Ge­winne) die Allokation der Mittel, Innovationen und damit Struktur­veränderungen bewirken sollen.(20) Aber: abgesehen davon, daß dies einen intakten Marktmechanismus voraussetzt, der vielfach noch fehlt, halten es ungarische Nationalökonomen für notwendig, die vom Markt initiierten Strukturveränderungen zu korrigieren, um »eine fruchtbare Synthese zwischen gesamt- und einzelwirtschaftlichen Plä­nen« zu erreichen.Dies geschieht einmal durch Beeinflussung der Selbstfinanzierung, in­dem die Eigenmittel der Betriebe in den verschiedenen Branchen mehr oder weniger stark eingeschränkt werden, z. B. durch Abschreibungs­vorschriften oder, wie in Ungarn, durch »Zentralisierung« gewisser Teile des Entwicklungsfonds.(21) (22) Hierdurch soll bewirkt werden, daß die Betriebe zur Finanzierung ihrer Investitionen in starkem Maße auf Bankkredite angewiesen sind.(23) Damit hat der Staat zum anderen die Möglichkeit, mit Hilfe kredit- und geldpolitischer Instrumente die Wachstumsproportionen der Volkswirtschaft zu steuern. So wird bei­spielsweise in Ungarn eine »selektive Kreditpolitik« verfolgt, bei der man sich von zwei Zielen leiten läßt: »der kurzfristigen Geldwertsta­bilität und der langfristigen qualitativen Selektion im Dienst der Wirt­schaftsstruktur«; hiernach werden das Kreditvolumen und seine Auf­teilung auf die einzelnen Bereiche der Volkswirtschaft festgelegt.(24) Wenngleich das Bankensystem bei der Kreditvergabe an relativ detail­lierte »kreditpolitische Richtlinien« gebunden ist, bleibt den Geschäftsbanken dennoch nach Vajna »ein hinreichend breiter Aktionsspielraum, innerhalb dessen sie ihre Selektionsfunktion ausüben können«.

3. Plan und Markt - Plan oder Markt?

Der Stilwandel der staatlichen Prozeßpolitik läßt erkennen, wie der Begriff »Plan« im System der sozialistischen Marktwirtschaften zu verstehen ist. Nach wie vor ist mit diesem Begriff zentrale staatliche Planung gemeint, die - ebenso wie die Formen des sozialistischen Eigentums - zum Begriffsinhalt des Sozialismus gehört; und daß die sozialistischen Marktwirtschaften als sozialistische Wirtschaftssysteme ge­meint waren und sind, darüber hat es in jenen Ländern, wie eingangs dargelegt wurde, niemals einen Zweifel gegeben.

Gleichwohl haben sich Inhalt und Methoden der zentralen staatli­chen Planung gegenüber dem System des administrativen Sozialismus grundsätzlich gewandelt: nicht mehr die laufenden Prozesse des ar­beitsteiligen Geschehens werden unmittelbar zentral geplant, sondern die »Stellgrößen« für den Ablauf dieser Prozesse werden zentral ge­plant. Zentrale staatliche Planung bedeutet also jetzt einmal: Projektie­rung oder Perspektivplanung der volkswirtschaftlichen Entwicklung, wobei es vor allem um das Verhältnis von Konsumtion und Investition (also von gegenwärtigem und künftigem Konsum) sowie um die künf­tige Produktionsstruktur geht; und sie bedeutet zweitens: Planung des wirtschaftspolitischen Instrumentariums, mit dessen Hilfe die nach be­trieblichen Erfolgsinteressen ablaufenden Prozesse indirekt in Richtung auf die zentralen Entwicklungsziele gesteuert werden sollen. Mit der zentralen staatlichen Planung wird somit das Bedingungssystem ge­schaffen, unter dem sich die dezentrale Planung der Prozesse in den Einzelwirtschaften nach deren je eigenen Erfolgsinteressen und die Ko­ordination dieser einzelwirtschaftlichen Pläne auf den Märkten voll­ziehen sollen. Nach diesem Verständnis des Begriffs »Plan« bedeutet die »Synthese von Plan und Markt« in den sozialistischen Marktwirt­schaften zentrale Planung der volkswirtschaftlichen Entwicklung sowie der Ordnungs- und Prozeßpolitik(25) (26) in Verbindung mit dezentraler Planung der Wirtschaftsprozesse. Inhalt und Methoden dieser beiden Arten von Planung unterscheiden sich also grundsätzlich voneinander.

Gleichwohl werden die Begriffe »Plan« und »Markt« in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wie auch in der öffentlichen Diskus­sion vielfach als Systembegriffe im Sinne von »Planwirtschaft« und »Marktwirtschaft« verwendet. Diese sachlich unzureichenden Bezeich­nungen von Wirtschaftssystemen (27) haben nicht zuletzt zu der These von der Konvergenz der Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme geführt, nach der sich die beiden gegensätzlichen Systeme immer mehr aufein­ander zu entwickeln und schließlich eine »optimale Mischordnung« er­geben werden.(28) Um solche Fehlschlüsse zu vermeiden, ist es notwen­dig, die Systembegriffe ordnungstheoretisch zu bestimmen. Das konsu­mtive Unterscheidungskriterium ist hierbei nach Hensel das jeweilige System der Planung von Wirtschaftsprozessen und die jedem dieser Systeme immanente ökonomische Logik: der an der Knappheitsminde­rung orientierte gesamtwirtschaftliche Rechnungszusammenhang zwi­schen den Teilplänen, der entweder nach Maßgabe von Salden in zen­tralen güterwirtschaftlichen Planbilanzen zustande kommt oder nach Maßgabe von Marktpreisen als Basis ökonomischer Verwendungsent­scheidungen.(29)

Bezogen auf diese beiden Formen der Entfaltung eines gesamtwirt­schaftlichen Systems der Prozeßplanung handelte es sich bei der Ein­führung der sozialistischen Marktwirtschaften also nicht um eine »Syn­these von Plan und Markt« im Sinne einer Synthese von zentraler und dezentraler Planung der Prozesse, sondern um die Alternative, das Sy­stem zentraler Planung der Prozesse beizubehalten oder es in ein Sy­stem dezentraler Planung der Prozesse zu transformieren. Wie aus den Begründungen zur Transformation hervorgeht, waren sich die Re­former dieser Alternative durchaus bewußt. So gesehen, lautete ihre Gesamtentscheidung: »Markt« anstelle von »Plan«.(30)
 

Anmerkungen

1) Eucken: Grundsätze, S. 250
2) Zum Systembegriff zentraler wie auch dezentraler Planung der Prozesse vgl. Hensel: Verhältnis, S. 42 f.; Blaich u. a.: Wirtschaftssysteme, S. 238 f.
3) Eucken: Wettbewerbsordnung, S. 93. An anderer Stelle heißt es: »Die wirtschafts­politische Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses.« (Eucken: Grundsätze, S. 336) - Eucken erhob diese Forderung zum staatspolitischen Grundsatz der Wirtschaftspolitik in einer Wettbewerbsordnung, wobei er allerdings davon aus­ging, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln »zu den Voraussetzungen der Wettbewerbsordnung« (als eines der konstituierenden Prinzipien) gehöre. (Ebenda, S. 271) - Von der gleichen Annahme ging Propp aus, der für die Transformation des Wirtschaftssystems der DDR im Falle einer freiheitlichen Wiedervereinigung Deutsch­lands forderte: »Die Wirtschaftspolitik der Transformation wird im ganzen den rich­tigen Kompromiß zwischen der im Interesse der Funktionsfähigkeit der neuen Ord­nung wünschenswerten Vollständigkeit ihrer ordnungspolitischen Maßnahmen und dem Mut zur Lücke bei den prozeßpolitischen Maßnahmen finden müssen.« (Propp: Trans­formation, S. 288)
4) Eucken: Grundsätze, S. 242
5) Csikös-Nagy: Vervollkommnung, S. 218 f.
6) Ebenda, S. 219
7) Vgl. Hensel, oben S. 39 ff.
8) Konzeptionsentwurf, in: Hensel u. Mitarb.: Marktwirtschaft, S. 337 ff., bes. S. 362 ff. verwendeten Sinne zugleich: Preispolitik, Lohnpolitik, Finanz-(Steu-er-)politik,
9) Siehe vorhergehende Seite
10) Vgl. Hensel u. Mitarb.: Marktwirtschaft, S. 116 ff.
11) Ein theoretisches Konzept hierfür wurde in den dreißiger Jahren von den Vertre­tern des »Konkurrenzsozialismus« entworfen. Vgl. oben S. 171, Anm. 6
12) Vgl. Wagner: Tschechoslowakei, S. 186
13) Vgl. Wessely: Gewinn, S. 123
14) Vgl. Vajna: Reform, S. 104
15) Die Preisdifferenzierungen sind teilweise so groß, daß beispielsweise der Preis für eine Fahrkarte der jugoslawischen Eisenbahn je nach Hin- oder Rückfahrt unterschied­lich hoch ist. In jüngster Zeit scheinen jedoch die Preiskontrollen aus geldpolitischen Gründen verschärft und begrenzte Preisstopps eingeführt worden zu sein. Vgl. ohne Autor: Republik Jugoslawien, S. 89
16) Vgl. Nick: Gesellschaft, S. 209 f.
17) Ebenda, S. 210 f.
18) Nach Meinung tschechoslowakischer und ungarischer Nationalökonomen ist im Sy­stem des administrativen Sozialismus nur ein vorwiegend extensives Wirtschaftswachs­tum möglich: durch rein quantitative Erweiterung der Produktionskapazitäten, also ohne wesentliche Änderung des technischen und technologischen Niveaus, und durch Mehreinsatz von Arbeitskräften. Das Versiegen dieser Quellen habe zu Beginn der sechziger Jahre in allen Ostblockländern zum Rückgang der Wachstumsraten und 1963 in der CSSR zum absoluten Rückgang des Sozialprodukts geführt. Folglich könne die Produktion nur noch durch Intensivierung, d. h. durch Verbesserung der Faktorpro­duktivitäten, gesteigert werden, was unter den Bedingungen des administrativen So­zialismus nicht möglich sei. Dies war eines der Hauptargumente für die Einführung der sozialistischen Marktwirtschaften. Vgl. Sik: Plan, S. 71; Vajna: Reform, S. 13; Schmidt-Papp: Reformbewegung, S. 199
19) In Ungarn betrug bereits im ersten Jahr des neuen Systems (1968) der Anteil der einzelwirtschaftlichen Investitionsentscheidungen 39% des volkswirtschaftlichen Investitionsvolumens. Vgl. Vajna: Reform, S. 127. - 1970 hatte sich dieser Anteil im produktiven Sektor auf 50%, in der Verarbeitungsindustrie auf 60 °/o und in der Land­wirtschaft auf 90% erhöht. Vgl. Wessely: Gewinn, S. 124
20) So hieß es im tschechoslowakischen Konzeptionsentwurf von 1968: »Wenn die Volkswirtschaft als Marktwirtschaft funktionieren soll, ist es unbedingt notwendig, daß in den laufenden ökonomischen Prozessen Strukturänderungen in der Produktion ver­mittels der Strukturänderungen in den Einkommen eintreten.« In: Hensel u. Mitarb.: Marktwirtschaft, S. 362
21) Zit. nach Vajna: Reform, S. 130
22) Dem gleichen Zweck dient in der DDR die differenzierte Nettogewinnabführung. Vgl. Hensel, oben S. 161
23) So erwartete man in der CSSR für 1967, daß durchschnittlich 60 °/o aller Investitio­nen durch Bankkredite finanziert würden; der tatsächliche Anteil lag jedoch weit nied­riger, da die Betriebe aufgrund der verfehlten Preisreform über sehr hohe Eigenmittel verfügten. Vgl. Hensel u. Mitarb.: Marktwirtschaft, S. 105
24) Vgl. Vajna: Reform, S. 132 f.
25) Vgl. Vajna: Reform S. 129
26) Ein weiteres Problem zentraler staatlicher Planung ist die »Bauplanung« der Wirt­schaftsordnung, die mit der Einführung der sozialistischen Marktwirtschaften realisiert wurde, aber auch weiterhin Planungsproblem bleibt. Vgl. oben, S. 192 ff.
27) Vgl. Hensel: Studie
28) Vgl. Hamel: Konvergenz, S. 123 ff.; Hensel: Annäherung
29) Vgl. Hensel: Verhältnis; Blaich u. a.: Wirtschaftssysteme, S. 237 ff.
30) Zum gleichen Ergebnis kommt auch der DDR-Ökonom Nick: » "Plan oder Markt" -das ist die eigentliche von den Revisionisten aufgeworfene Fragestellung, die sich unter der Überschrift "Plan und Markt" verbirgt.« Sie sei jedoch im Sozialismus völlig gegenstandslos, da die Marktpolitik ein wichtiges Element sozialistischer Planung sei. Nick: Gesellschaft, S. 150

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Ludwig Bress, Karl Paul Hensel u. a.,Wirtschaftssysteme des Sozialismus im Experiment : Plan oder Markt. - Frankfurt am Main, 1972, S.192-202

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