1. Dezentrale Planung
der Wirtschaftsprozesse
Die ordnungspolitische
Grundentscheidung für das System der sozialistischen
Marktwirtschaft wurde in Jugoslawien, in der CSSR und in Ungarn
mit der Transformation des Systems zentraler Planung in ein
System dezentraler Planung der Wirtschaftsprozesse vollzogen.
Diese Transformation bedeutet ordnungstheoretisch, daß - im
Rahmen der beiden alternativen Möglichkeiten, ein ökonomisch
rationales Wirtschaftssystem zu begründen (1)
- das eine Grundsystem durch das an-dere abgelöst worden ist.
Die Lenkung wirtschaftlicher Gesamtprozesse vermittels zentraler
güterwirtschaftlicher Planbilanzen, in denen die politische
Führung nach ihren je eigenen Wertvorstellungen darüber
entscheidet, welchen Zielen der Daseinsgestaltung der
volkswirtschaftliche Apparat dienen soll, ist ersetzt worden
durch die Lenkung der Gesamtprozesse nach Maßgabe
einzelwirtschaftlicher Rationalitätskriterien, die bezogen auf
die Unternehmungen in den realisierten Systemen betrieblicher
Ergebnisrechnung und bezogen auf die Haushaltungen in den
erwarteten Nutzenwirkungen der verfügbaren Einkommen bestehen.
Hiernach soll also in den Betrieben und Haushaltungen
(einschließlich der staatlichen Organe) entschieden werden,
welche Ziele der Daseinsgestaltung mit Hilfe des
volkswirtschaftlichen Apparates verwirklicht werden sollen -
allerdings: auf der Grundlage der staatlich geplanten Ordnung,
des wirtschaftspolitisch geformten Bedingungssystems und
prozeßpolitischer Steuerungsmethoden.
2. Vom Markt bestimmte
Leistungsanreize und Kontrollen
Mit der Änderung des Planungssystems
mußte zugleich ein neues System der Leistungsanreize
sowie ein entsprechendes System der Kontrollen von
Leistungen und Interessen realisiert werden. Das
entsprach der Forderung Siks, »den Charakter und die Art
der Aufstellung der Volkswirtschaftspläne zu ändern, die
Selbständigkeit der Unternehmen bei konkreter
Festlegung aller Seiten der Produktionsentwicklung
wesentlich zu erhöhen und mittels der tatsächlichen
Ausnutzung der Ware-Geld- und der Marktbeziehungen das
ökonomische Interesse und den
Druck in den Unternehmen auf die Optimierung ihrer
Produktion zu schaffen«.(2)
Die betrieblichen Leistungsanreize
bestehen nicht mehr in der Erfüllung und Übererfüllung
zentral auferlegter Pläne und in den hiermit verbundenen
Prämien, sondern in den auf dem Markt erzielten Erlösen
und den hieraus sich ergebenden betrieblichen Einkommen
oder Gewinnen; diese sollen als »Hauptrichtungsweiser
und Maßstab der wirtschaftlichen Tätigkeit der
sozialistischen staatlichen Unternehmen«(3)
fungieren. Aufgrund der gesellschaftlichen Bewertung und
Kontrolle betrieblicher Gesamtleistungen durch den Markt
soll das Interesse der Betriebe darauf gerichtet sein,
»Initiativen zu ergreifen, Innovationen zu
verwirklichen, Märkte zu schaffen und sich ihnen
anzupassen, Verträge zu schließen, ihre Konsequenzen zu
tragen, sich an Weltwirtschaftstendenzen zu
orientieren, ihnen zuvorzukommen, zu Akteuren am
Weltmarkt zu werden, den in den Menschen schlummernden
Qualitäten zum Durchbruch zu verhelfen«. Die
Unternehmen sollen keine Befehlsempfänger mehr sein,
sondern »selbständig handelnde, selbständig
entscheidende Sozialkörper, Partner und teilweise
Gleichgewichtsträger (im Sinne des >countervailing
power<) des Staatsapparates«.(4)
Mit diesem neuen betrieblichen
Anreizsystem traten zugleich an die Stelle der
bürokratischen Kontrollen von Leistungen und Interessen
vorwiegend Kontrollen durch den Markt, d. h. durch die
Interessen der Vertragspartner (Nachfrager) und der
Mitanbieter. Damit der Markt »die Funktion der
gesellschaftlichen Bewertung und Kontrolle«(5)
ausüben kann, wurden die Marktbeziehungen zwischen den
Unternehmen weitgehend liberalisiert. Die Unternehmer
können nun ihre Lieferanten und Abnehmer frei wählen;
sie können über den Groß- und Einzelhandel oder direkt
an die Verbraucher liefern. Die Preise sollen »nicht
mehr als bloße Verrechnungsgrößen, sondern als echte
Knappheitsmesser fungieren«(6)
und sich durch das Zusammenwirken von
Produktionskosten, Werturteilen der Märkte und
staatlichen Präferenzen bilden; nur so könnten sie ihre
Funktion erfüllen, »Produzenten und Verbraucher in
ihren ökonomischen Beschlüssen richtig zu orientieren
und anzuspornen, d. h. die vernünftige Nutzung der
wirtschaftlichen Kraftquellen, die Anpassung der
Produktion an die Nachfrage, die rasche Entwicklung der
Technik, die Verbreitung moderner Erzeugnisse, die
Bildung einer ökonomischen Verbrauchsstruktur und das
Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zu fördern«.(7)
Der hierfür erforderliche Wettbewerb
auf den Märkten war jedoch - vor allem in der ersten
Phase nach der Transformation - am schwierigsten zu
realisieren. Einmal versuchten die noch vorhandenen
Mittelinstanzen (in Jugoslawien auch die Gemeinden) die
Selbständigkeit der Unternehmen zu untergraben, den
Wettbewerb zwischen ihnen zu behindern und die
vorhandenen Verzerrungen der Wirtschaftsstruktur zu
zementieren;(8)
zum anderen entstanden aufgrund des geringen
Güterangebots vielfach »Verkäufermärkte«, deren
monopolistische Wirkungen durch die (noch im
administrativen System verfügte) starke Spezialisierung
und Konzentration der Unternehmen noch erhöht wurden.(9)
Da die Konzentration jedoch bis zu einem gewissen Grad
durch die moderne Produktionsweise bedingt und in
kleinen Ländern zugunsten der internationalen
Konkurrenzfähigkeit notwendig ist, hofft man auf die
erforderlichen ökonomischen Impulse durch den Weltmarkt.
Allerdings unterlag gerade der Außenhandelsverkehr
zunächst noch zahlreichen Vorschriften und
Reglementierungen (10),
die jedoch nach und nach vermindert werden sollen.
3. Zentrale Planung der
Entwicklung und der Steuerungsmethoden
Allen sozialistischen
Marktwirtschaften gemeinsam ist vor allem, daß mit der
ordnungspolitischen Formung und prozeßpolitischen
Steuerung bestimmte wirtschaftliche und
gesellschaftliche Ziele (Wachstum, Verteilung des
Volkseinkommens u. a.) verwirklicht werden sollen. Das
ordnungspolitisch geformte Bedingungssystem des
betrieblichen Geschehens und die prozeßpolitischen
Steuerungsmethoden sollen bewirken, da mit dem
betrieblichen Erfolgsstreben zugleich die zentral
bestimmte' Ziele der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
realisiert werden. Da entscheidende Charakteristikum der
sozialistischen Marktwirtschafte war nach Meinung vor
allem der tschechoslowakischen Reformpoliti-ker die
»Synthese von Plan und Markt«.(11)
In diesem Sinne galt auch in Ungarn als Hauptkriterium
des neuen Wirtschaftsmechanismus »di-nahtlose Verbindung
der planmäßigen zentralen Lenkung der Volks Wirtschaft
mit der aktiven Rolle des Marktes auf der Basis der
sozialistischen Eigentumsverhältnisse an den
Produktionsmitteln«.(12)
Welche Art von Planung war
hiermit gemeint? Auf jeden Fall »eine vollkommen andere
Planung als die bisher praktizierte«.(13)
Vielmehr handelt es sich um langfristige
»makroökonomische« Pläne, in denen einmal die
»grundlegenden Proportionen« zur Entwicklung der
Volkswirtschaft und zum anderen »die am besten
geeigneten Formen der Wirtschaftspolitik« festgelegt
werden sollen.(14)
Zu den grundlegenden
Proportionen gehören die Proportionen der Produktion,
die Aufteilung des Nationaleinkommens in Akkumulation
und Konsumtion sowie die Proportion zwischen
persönlichem und gesellschaftlichem Verbrauch. Diese
Proportionen, die aus langfristigen Zielprojektionen
(15-20 Jahre) und aus der »Analyse der grundlegenden
Entwicklungstendenzen sowohl der gesellschaftlichen
Bedürfnisse (Lebensniveau, Lebensweise u. ä.) als auch
der Produktionsfaktoren (technische Änderungen,
Rohstoff- und Energiequellen, Population usw.)«(15)
ermittelt werden, bestimmen die einzelnen
Entwicklungsziele der Fünfjahrpläne: das Wachstum der
Gesamtproduktion, die Grundstruktur des Marktes und der
Produktion, die technische Entwicklung und ihre
Auswirkung auf die Struktur der Produktion, mit welchem
Umfang an Investitionen und Zuwachs an Arbeitskräften in
den einzelnen Wirtschaftszweigen zu rechnen ist, wie
sich die Geldeinkommen der Bevölkerung entwickeln
sollen und welche Einnahmen der Staat benötigt, um die
vorgesehenen öffentlichen Aufgaben finanzieren zu
können. Diese Ziele der makroökonomischen Entwicklung
werden jedoch nicht über untergeordnete Planungsorgane
bis in die Betriebe aufgeschlüsselt; sie sollen vielmehr
den Betrieben eine »grundlegende Orientierung« über die
von den Zentralorganen vorgesehene langfristige
Entwicklung der Volkswirtschaft vermitteln und
Informationen für die betrieblichen Planentscheidungen
liefern.(16)
Nach Kozusnik besteht »der
Unterschied, der für die Rolle des
Volkswirtschaftsplans im alten und neuen Lenkungsmodell
kennzeichnend ist, ... nicht einmal so sehr in dem vom
Plan behandelten Fragenbereich als vielmehr im
Lösungsweg und insbesondere in den Instrumenten, die
zur Realisierung der Pläne eingesetzt werden«.(17)
Demgemäß umfasse der Plan neben dem unverbindlichen
Zielprogramm für die Entwicklung der Volkswirtschaft
»ein verbindliches Programm für die Wirtschaftspolitik
der zentralen Lenkungsorgane.« Mit diesem Programm für
den Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente gelte es,
zielbewußt solche ökonomischen Bedingungen zu schaffen,
»durch die die Betriebe aufgrund ihrer eigenen
Interessen veranlaßt werden, Entscheidungen zu fällen,
die sich in Einklang mit den Grundzielen des
Volkswirtschaftsplans befinden«.(18)
So sollen die wirtschaftspolitischen Instrumente der
Finanzpolitik (Investitions- und Strukturpolitik), der
Steuerpolitik, der Kredit- und Zinspolitik, der Lohn-
und Preispolitik sowie der Außenhandelspolitik von den
Zentralorganen jeweils so gestaltet werden, »daß die
auf ihren eigenen Vorteil bedachten Unternehmen stets
zugleich auch im Interesse der ganzen Gesellschaft
entscheiden«. Die neue, sehr wichtige Aufgabe der
Zentralorgane bestehe somit darin, »beständig die
Harmonie der gesellschaftlichen und der
Gruppeninteressen durch elastische Anwendung der
ökonomischen Instrumente wiederherzustellen«.(19)
»Plan« und »Markt« sollen
sich also wechselseitig informieren und korrigieren und
so die nötigen Kriterien für die unternehmerischen wie
auch für die wirtschaftspolitischen Entscheidungen
liefern. Dabei sollen sich die Unternehmen an die vom
Markt signalisierten Datenänderungen anpassen, während
mit Hilfe der Wirtschaftspolitik diese vom Markt
ausgelösten Reaktionen nach gesamtwirtschaftlichen
Zielvorstellungen gesteuert werden. Aus dieser
Überlegung resultiert die »Synthese von Plan und Markt«,
die insoweit als eine Synthese voll zentraler Planung
der Entwicklung, prozeßpolitischer Steuerung und
dezentraler Planung der Wirtschaftsprozesse (die die
Koordination durch den Markt einschließt) zu verstehen
ist.(20)
In dieser Synthese bildet »ein Netz von
Marktbeziehungen die objektive Grundlage des ganzen
Lenkungssystems der sozialistischen Planwirtschaft«.(21)
Die zentrale Planung der volkswirtschaftlichen
Entwicklung setzt also ein System dezentraler Planung
der Prozesse, das aus einzelwirtschaftlichen Plänen
hervorgeht, voraus. »Sie ist also grundsätzlich,
sachlich und tat-; sächlich etwas wesentlich anderes als
die zentrale administrative Pla-: nung der
Wirtschaftsprozesse im alten System.«(22)
Anmerkungen
1) Vgl. Hensel,
Einführung; ders., Verhältnis
2) Sik, System S. 27
3) Beschluß des ZK der USAP S. 14
4) Vajda, Planung S. 113
5) Beschluß des ZK der USAP S. 14
6) Lakos, zit. nach Vajna, Reform S. 97
7) Beschluß des ZK der USAP S. 10
8) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 52
9) Vgl. ebenda S. 109 ff.
10) Vgl. ebenda S. 120 ff.
11) Sik, System S. 27
12) Csapo, zit. nach Vajna, Reform S. 53; ebenda S. 108 f.
13) Sik, Planung S. 193
14) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 32
15) Sik, System S. 29
16) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 33.
Entsprechendes gilt auch für Jugoslawien und Ungarn; vgl.
Klemenciü, Rezeption S. 158 f.; Hamel, Ungarn S. 198 f.
17) Kozusnik, Entwicklung S. 34
18) Kozusnik, Entwicklung S. 35
19)Beschluß des ZK der KPC, in: Hensel u. Mitarb.,
Marktwirtschaft S. 175.
20) Dies entsprach auch den Vorstellungen in der DDR 1969/70:
»Die zentrale Planung wird sich stärker auf die Grundfragen der
gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung konzentrieren,
während gleichzeitig den Kombinaten und den Betrieben di« volle
Verantwortung für die Planung und Leitung ihres
Reproduktionsprozesses übertragen wird.« (Nick: Gesellschaft S.
201. Eig. Hervorhebung - H. H.). Allerdings verwarf Nick die
hieraus gefolgerte »Synthese von Plan und Markt« als
revisionistisch. Vgl. auch unten S. 202
21) Kozusnik, Entwicklung S. 32 (eig. Hervorhebung - H. H.)
22) Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 37
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Ludwig Bress,
Karl Paul Hensel u. a.,Wirtschaftssysteme des Sozialismus im
Experiment : Plan oder Markt. - Frankfurt am Main, 1972,
S.178-182, davon S.170-177
OCR-scan red. trend
....wird fortgesetzt
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