Als der 1945 auf der Grundlage des Abkommens von Bretton Woods von 44 Staaten
gegruendete Internationale Waehrungsfonds (IMF) noch jung war, herrschten
voruebergehend paradiesische Waehrungsverhaeltnisse: Die Goldkonvertibilitaet des Dollar
garantierte ein System fester Wechselkurse, das den Welthandel des industriellen
Nachkriegsbooms unter der absoluten Dominanz der USA reibungslos abwickeln konnte. Das
damals als kontrollierende Instanz installierte Konstrukt des IMF ist im Prinzip heute
noch gueltig: Fuer den Fall einer unausgeglichenen Zahlungsbilanz sind
Ueberbrueckungskredite vorgesehen, die jeweils in Form von
"Sonderziehungsrechten" (SZR) in Anspruch genommen werden koennen. Dieses
kuenstliche Geld, das nur fuer Probleme des internationalen Zahlungsausgleichs gilt und
ansonsten nicht handelbar ist, wird mit bestimmten Quoten von den einzelnen
Mitgliedslaendern in ihrer jeweiligen Waehrung gedeckt (das Stimmrecht im IMF verteilt
sich nach diesem Quotenschluessel). Aber die Notfaelle traten zunaechst nur sehr selten
auf und waren leicht zu beheben. Als Feuerwehr des Weltwaehrungs- und Finanzsystems
fuehrte der IMF ein gemuetliches Nachtwaechterdasein.
Das aenderte sich, als 1973 der Dollar seinen goldenen Boden verlor und das System der
Wechselkurse in unberechenbare Schwankungen ueberging. Damit begann eine Epoche der
Instabilitaet in den globalen Finanzbeziehungen, die bis heute andauert. Die Ursache
dieser Instabilitaet besteht letzten Endes darin, dass die wissenschaftlich-technischen
Produktivkraefte ueber die moderne Geldwirtschaft hinausgewachsen sind. Das bedeutet, dass
die Geldzeichen keine reale Wertsubstanz mehr repraesentieren, sondern nur noch den irreal
gewordenen Kredit. Auf diese Weise haben sich auch die Verhaeltnisse der internationalen
Zahlungsbilanzen auf den Kopf gestellt: Bei frei flottierenden Wechselkursen, die durch
bi- oder multilaterale Abkommen kaum gebaendigt werden koennen, sind die Stroeme des
Geldkapitals nicht mehr der Ausdruck von realen Warenstroemen, sondern umgekehrt ist die
Produktion von
Guetern (und damit das materielle Leben ganzer Laender und Erdteile) nur noch ein
Nebenaspekt der um den Globus schwappenden Liquiditaet.
In den 80er Jahren begannen sich vor diesem Hintergrund die Notfaelle der Zahlungsbilanz-
und
Waehrungskrisen zu haeufen. Seitdem ist der IMF im Dauereinsatz. Zunaechst war es die
beruechtigte Schuldenkrise der 3. Welt, die ein Rettungspaket nach dem anderen erforderte.
Der IMF musste nicht nur permanent SZR-Reserven zuteilen, sondern trat als globaler
Krisenmanager auf, um die Glaeubiger des internationalen Finanzsystems unter einen Hut zu
bringen. Gleichzeitig mauserten sich seine Experten zur "Schattenregierung" der
Schuldnerlaender. Die finanzielle Feuerwehr des IMF operierte als gesellschaftlicher
Brandstifter, indem sie den staatlichen Bankrotteuren drastische soziale Einschnitte
verordnete, um wenigstens einen teilweisen Abfluss von Zins- und Tilgungsraten zu
erpressen.
Vorlaeufig wurde die 80er-Jahre-Krise gestoppt, weil sich die meist langfristigen
staatlichen Kredite der Schuldnerlaender mit hohen Abschlaegen umschulden liessen und
seither unter der Bezeichnung "Brady-Bonds" (benannt nach dem damaligen
US-Finanzminister) als spekulative Papiere zirkulieren. Grundsaetzlich geloest wurde das
Problem damit nicht, sondern nur auf die
Zukunft verschoben. Wichtig fuer die kurzfristige Logik der Finanzmaerkte ist allein, dass
die Abschlaege (das heisst die Vernichtung von irrealem Geldkapital) unter der
Schmerzgrenze bleiben und das komplexe System der Buchungen ueber Wasser gehalten wird.
Die Zuteilungen von SZR durch den IMF sind ja definitionsgemaess nichts als zeitweilige
Ueberbrueckungskredite, die wieder abgetragen werden muessen. Es geht also immer nur um
die Sicherstellung der akuten Zahlungsfaehigkeit, nicht um langfristige strategische
Anlagen. Das Ganze beruht auf der Fiktion, dass es lediglich eine Luecke im realen
Wertschoepfungspropzess zu "ueberbruecken" gilt. Dass da nur noch ein riesiges
schwarzes Loch gaehnt, ist nicht vorgesehen und wird verdraengt.
In den 90er Jahren hat sich das Problem noch einmal dramatisch verschaerft. Ein grosser
Teil der mittlerweile 182 Mitgliedslaender des IMF kann seine Teilnahme an der globalen
kapitalistischen Wertschoepfung nur noch durch den permanenten Zufluss internationaler
Liquiditaet simulieren. Das gilt nicht nur fuer die aermsten "Weltsozialfaelle",
sondern auch fuer die angeblichen Newcomer in Suedostasien und Lateinamerika; ebenso fuer
die sogenannten
osteuropaeischen Reformstaaten unter Einschluss von Russland und der GUS. Die
Exportindustrialisierung war nur ein kurzlebiges Simulationsmodell ohne tragfaehige
realoekonomische Grundlage, aufgeblasen von der substanzlosen Schwemme der Liquiditaet im
globalen Finanzueberbau. Das Missverhaeltnis von realer Wertschoepfung und Zufluss des
vagabundierenden Geldkapitals hat eine neue Schuldenkrise auf hoeherer Entwicklungsstufe
faellig gemacht. Diesmal aber handelt es sich nicht mehr um langfristige Staatskredite,
sondern um extrem kurzfristige kommerzielle Geldanlagen internationaler Fonds, die ueber
Nacht abgezogen werden koennen. Auch das Volumen dieser Kredite ist wesentlich groesser
als in den 80er Jahren.
Schon fuer die Mexiko-Krise Anfang 1995 musste der IMF ein beispielloses Paket von mehr
als 60 Milliarden Dollar schnueren. Diese Gelder konnten aber nicht mehr die Bruecke fuer
eine langfristige Umschuldung bauen, sondern dienten lediglich der kurzfristigen
"Vertrauensbildung", um die schlagartig abgeflossene internationale Liquiditaet
der Fonds wieder zurueckzulocken. Weil das fuer diesen Einzelfall zunaechst gelang, musste
das gesamte Paket nicht einmal in Anspruch genommen werden. Die Asienkrise seit 1997
ist jedoch von anderem Kaliber. Diesmal hat die Feuerwehraktion nicht nur fast alle
Reserven des IMF verschlungen, sondern auch die "Vertrauensbildung" ist total
missglueckt: Die abgezogene Liquiditaet kehrte im Unterschied zur Mexiko-Krise nicht in
die Tigerlaender
zurueck, sondern fungierte bis zum Sommer 1998 als zusaetzlicher Treibsatz fuer die
westlichen Aktienmaerkte. Seitdem sitzt der IMF mit leeren Kassen auf faulen
"Ueberbrueckungskrediten", deren Zusammenbruch im Unterschied zur Umschuldung
der 80er
Jahre nicht mehr eine Frage von Jahren und Jahrzehnten, sondern von Monaten ist.
Und fortlaufend drohen weitere Krisen, da mit dem faktischen Zusammenbruch des russischen
Finanzsyszems in den letzten Monaten eine Kettenreaktion begonnen hat, die schon bald das
bisher Stabilitaet simulierende China und vor allem erneut Lateinamerika erreichen wird.
Diese wechselseitigen Verschraenkungen der Krise in den "emerging markets", die
sich mit jedem neuen Schub dem voelligen Zusammenbruch naehern, konnte zuletzt auch die
westlichen Finazmaerkte nicht mehr ungeschoren lassen. Seit Juli 1998 gingen die
europaeischen und
nordamerikanischen Boersenkurse um 20 bis 30 Prozent zurueck. Insgesamt sind damit im
Verlauf eines einzigen Jahres in der ganzen Welt Geldvermoegen in der Groessenordnung von
mehreren tausend Milliarden Dollar vernichtet worden.
Waehrend so die globale Liquiditaet abschmilzt wie Schnee an der Sonne und dem IMF das
Wasser bereits bis zum Hals steht, kommt zu allem Ueberfluss eine andere, qualitativ neue
Krise auf die Finanzmaerkte zu, die zur "Mutter aller Krisen" zu werden
verspricht - naemlich
die japanische Finanzkrise. Zum ersten Mal steht nicht irgendein Schuldnerland, sondern
das zentrale Glaeubigerland selber am Rande des Abgrunds. Obwohl die japanische
Binnenoekonomie stagniert und obwohl Japan durch eine gigantische Masse fauler Kredite im
Inland ebenso wie in seinem asiatischen Umfeld belastet wird, ist es trotzdem der groesste
Nettoexporteur von Geldkapital und globale Grossfinanzier geblieben.
Das Paradox, dass eine rezessive und ueberschuldete Oekonomie gleichzeitig die ganze Welt
mit Liquiditaet versorgt, erklaert sich aus einem transnationalen Mechanismus der
Geldschoepfung. Die auf unter 1 Prozent gesenkten japanischen Leitzinsen ermoeglichen die
Geldschoepfung in Yen fast zum Nulltarif. Weil jedoch die japanische Produktion laengst an
Ueberkapazitaeten leidet, kann die pausenlose Geldschoepfung keine zusaetzlichen
Investitionen in Japan generieren. Stattdessen werden die aus dem Nichts gezauberten Yen
in
Dollars getauscht und auf die globalen Finanzmaerkte gepumpt. Weil die Zinsen ueberall
(und speziell in den USA) hoeher sind als in Japan, setzt sich die japanische
Geldschoepfung auf diese Weise potenziert fort. Seitdem Anfang 1998 die japanischen
Vorschriften fuer die
Geldanlage im Ausland liberalisiert wurden, hat sich diese wundersame Kreation von
Liquiditaet sogar noch einmal sprunghaft ausgedehnt.
Aber dieser faule Zauber, mit dem Japan seine eigenen Finanzprobleme und die der uebrigen
Welt wegmanipuliert, musste rasch an objektive Grenzen stossen. Die Quittung fuer das
pazifische Geldschoepfungswunder bestand zunaechst darin, dass der Wechselkurs des Yen
gegenueber dem Dollar dramatisch verfiel. Realoekonomisch haette es genau umgekehrt sein
muessen. Denn wegen der permanenten japanischen Handelsueberschuesse gegenueber den USA
sollte eigentlich der Dollar statt des Yen fallen. Dass sich der Wechselkurs gegen die
Logik der oekonomischen Lehrbuecher entwickelt hat, ist wieder einmal ein Indiz fuer die
Entkoppelung der Finanzmaerkte von der Realoekonomie: Offensichtlich sind die
Milliardenueberschuesse der japanischen Handelsbilanz vernachlaessigenswert klein im
Verhaeltnis zu der Masse von Yen, die jenseits der realen Warenproduktion zum Zweck der
reinen Geldanlage in Dollars getauscht worden sind.
Warum aber muss der Wechselkursverfall des Yen als brandgefaehrlich erscheinen? Erstens
bedeutet das eine Inflationierung der Importpreise, was Japan wegen seiner Energie- und
Rohstoff-Abhaengigkeit besonders trifft und die Rezession der Binnenoekonomie verschaerft
(mit negativen Auswirkungen auf das ohnehin wackelige Finanzsystem). Zweitens wird der
Abwertungswettlauf der asiatischen Waehrungen verstaerkt, der den Zufluss von
internationalem Geldkapital in die Tigerlaender und nach China endgueltig stoppen koennte
und die ganze Region mit unabsehbaren Folgen zu ruinieren droht. Drittens beginnt die
pazifische Liquiditaets-Pumpe zu versiegen, wenn der Dollar gegenueber dem Yen zu teuer
wird und
sich die Ausnutzung des Zinsgefaelles nicht mehr lohnt. Alle diese Faktoren
zusammengenommen koennen (im Verein mit den anderen schwelenden Krisen) den grossen Crash
des globalen Finanzsystems ausloesen.
Welche Moeglichkeiten hat Japan, aus dieser Falle wieder herauszukommen? Sollten die
japanischen Leitzinsen erhoeht werden, um den Yen aufzufangen, so stirbt nicht nur die
Binnenkonjunktur umso schneller ab, sondern auch die Kosten fuer das versteckte Gebirge
fauler inlaendischer Kredite explodieren ploetzlich und ruinieren den japanischen Finanz-
und Aktienmarkt. Gleichzeitig wird auf diese Weise der pazifischen Liquiditaets-Pumpe erst
recht der Saft abgedreht, weil in diesem Falle das Zinsgefaelle zwischen den USA und Japan
verschwindet.
Vor allem aber waere die Umkehrung in der Bewegung des Wechselkurses von Dollar und Yen
ebenso gefaehrlich. Denn bei einem ploetzlichen Verfall des Dollar wuerde die
Aufmerksamkeit der labilen Finanzmaerkte auf die prekaere Aussenverschuldung der USA
gelenkt. Genau dieser Fall ist seit Anfang Oktober 1998 eingetreten. Der Einbruch des
Dollar gegenueber dem Yen stellt keine "gesunde Korrektur" dar, weil er sich
ebensowenig wie der vorherige Hoehenflug auf realoekonomische Verhaeltnisse bezieht.
Vielmehr ging auch dieser Effekt von der Krise der verselbstaendigten Finanzmaerkte aus;
in Schieflagen geratene japanische Banken und institutionelle Anleger sowie vom Verfall
der Aktienkurse schwer getroffene internationale Hedge-Fonds mussten naemlich im grossen
Massstab amerikanische
Staatsanleihen verkaufen, um sich vorlaeufig vor dem Zusammenbruch zu retten.
Damit aber ist auch das Ende der pazifischen Geldschoepfungsmaschine absehbar. Wenn der
Dollar weiter faellt, haette das fuer Japan erst recht katastrophale Konsequenzen, weil
dann die gesamte bisher aus dem Hut gezauberten Liquiditaet zusammenbrechen muesste: Alle
Geldanleger, die in der Vergangenheit relativ viele Yen fuer den Dollar bezahlt haben,
wuerden dann ploetzlich auf drastisch entwerteten Dollarguthaben sitzen. Japan steckt also
in einer ausweglosen Zwickmuehle. Dieses Dilemma hat auch zu einer politischen Paralyse
und zum Sturz von Premierminister Hashimoto gefuehrt. Sein Nachfolger, der bisherige
Aussenminister Obuchi, hat ein veritables "Himmelfahrtskommando" uebernommen.
Jede noch so zaghafte Massnahme in diese oder jene Richtung kann sofort das gesamte System
in die Luft jagen. Deshalb ist es nur eine Mischung aus Zynismus und Hilflosigkeit, wenn
die westlichen Politiker, die sich in Tokio die Tuerklinke in die Hand geben, Japan in
gereizten Toenen zu einer "schnellen Reform" noetigen wollen. Aber da gibt es
nichts mehr zu reformieren. Das westliche
Draengen gleicht der Aufforderung an einen Menschen, der sich in einem Minenfeld bewegt,
er solle nicht laenger feige zoegern und endlich mutig ausschreiten.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Notenbanken ihre Interventionen zugunsten des Yen
oder zugunsten des Dollar aufgeben muessen, weil sie ihr Pulver verschossen haben. Eine
schwankende Mittellage wird sich nicht aufrechterhalten lassen. Egal, in welche Richtung
das
pazifische Gesamtkunstwerk abstuerzt, ob als Einbruch des Dollar oder des Yen, in beiden
Faellen muss die bis vor kurzem noch sprudelnde Liquiditaets-Pumpe versiegen. Dann wird
der lange Zeit vermeintlich unerschoepfliche Ueberschuss an globaler Liquiditaet in eine
globale
"Kreditklemme" umschlagen, wie es sich in den letzten Monaten bereits
abzeichnet. Das waere der endgueltige Ausloeser fuer eine grosse Weltwirtschaftskrise, die
das Desaster der Jahre von 1929-33 bei weitem uebertreffen wuerde.
Auch der IMF ist praktisch am Ende. Zeigte er sich schon mit der Krise der Tigerlaender
ueberfordert, so kann er Japan oder gar den USA selber umso weniger helfen: Diese seit
langem herangereifte Finanzkrise der groessten kasinokapitalistischen Akteure ist
entschieden
eine Nummer zu gross. IMF-Chef Michel Camdessus hat schon vor einiger Zeit erstmals
oeffentlich zugegeben, dass die Reserven erschoepft sind. Die beschlossene Aufstockung der
SZR-Quoten um 45 Prozent waere kaum mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein.
Waehrend Camdessus und seine Anhaenger die Krise weiter durch Notmassnahmen hinauszoegern
wollen, werfen einflussreiche US-Oekonomen wie Martin Feldstein und der
beruechtigte Jeffrey Sachs dem IMF vor, nur den "moral hazard" der Fonds und
Privatanleger zu beguenstigen, indem die Risiken der Entwertung aufgefangen werden. Im
Klartext ist das ein Plaedoyer fuer den "Befreiungsschlag": Die finanzielle
Feuerwehr soll aufgeben und den Brand gewaehren lassen, weil sowieso nichts mehr zu machen
ist. Offenbar glauben einige
Hardliner so sehr an die formalen "Selbstheilungskraefte" des Marktes, dass sie
den
Kapitalismus fuer faehig halten, aus einem Zusammenbruch des Weltwaehrungs- und
Finanzsystems unter Hinterlassung eines sozialen Leichenberges als "Phoenix aus der
Asche"
hervorzugehen. Dieser erbitterte Streit unter den frueher so geschlossen auftretenden
neoliberalen Ideologen und Funktionaeren zeigt, wie explosiv die Lage bereits ist. Die
kommenden Monate versprechen spannend zu werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir
bald den naechsten grossen Schub der globalen Finanzkrise erleben.
(1998)
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