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aus: KONKRET 1/99, Ruhrstr. 111, 22761 Hamburg

Subjekt, Opfer, Prädikat
Martin Walser und die Grammatik der Berliner Republik

von Tjark Kunstreich

01/99
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»Deutsch ist Glückssache.« Martin Walser

»Wer nicht lächelt, wird erschossen.« Simone de Beauvoir Die Rede war unerhört: Mit ihr, meinte Jörg Magenau in der »Taz«, sei nun offiziell, »was zunächst als spontane Mißfallensäußerung abzubuchen gewesen wäre«. Schließlich sei zu befürchten gewesen, »daß er die Zeit nicht nutzen würde, das zugrundeliegende Mißverständnis auszuräumen«. Mit der Rede, glaubte die »FAZ«, sei ein »deprimierender erinnerungspolitischer Tiefpunkt erreicht«: Die »grotesken Wortungetüme machen sprachlos. Hat es überhaupt einen Sinn, weiterzureden?«, fragte der Kommentator. Nach dieser »harsche(n), wenig differenzierte(n) Kritik steht zu erwarten, daß sich diese Debatte fortsetzen und weiter polarisieren wird«, befürchtete die »Berliner Zeitung«. Ulrich Raulff faßte die Aufregung in der »FAZ« zusammen: »Seit gestern ist der Schleier zerrissen, den eine trügerische Vorstellung von ›Gedächtniskultur‹ vor der Tatsache aufgespannt hatte, daß das Gedächtnis alles andere als einheitlich ist.«

Diese Sätze waren nicht am 13. Oktober, nach Martin Walsers Friedenspreis-Rede in der besorgten deutschen Presse zu lesen, sondern am 10. November - einen Tag nachdem Ignatz Bubis auf der Gedenkveranstaltung des Zentralrats der Juden zum 60. Jahrestag des Novemberpogroms in der Berliner Synagoge in der Rykestraße eine Rede gehalten hatte, in der er seine Kritik an Walser ausführte: »Der intellektuelle Nationalismus nimmt zu und ist nicht ganz frei von unterschwelligem Antisemitismus. Besonders irritiert bin ich über eine ganze Reihe von Zuschriften«, so Bubis, »die überrascht waren, daß ich Walser so kritisiere, denn dieser habe bloß ausgesprochen, was die meisten ohnehin dächten.« Zu gut einem Drittel bestand Bubis' Rede aus Zitaten aus Walsers Rede, und immerhin fiel der Reporterin vom »Tagesspiegel« auf, daß, »in der Synagoge und vor den höchsten Amtsträgern wiederholt, die Worte noch beängstigender (klingen), als vor ein paar Wochen in der Paulskirche«.

Die betretenen Gesichter der Repräsentanten der Berliner Republik zeigten, daß man sich das Gedenken wohl harmonischer vorgestellt hatte. Um einen ordentlichen Affront nie verlegen, ergriff Roman Herzog - »mit orthodoxem Hut mit breiter Krempe« (»Tagesspiegel«) - auf der Gedenkveranstaltung die Gelegenheit: »Herzog hat Walser unmißverständlich in Schutz genommen«, verstand die »FAZ« die Erwägungen des Bundespräsidenten über die »richtige Dosierung« des Gedenkens. Nicht, daß Herzog die Gastfreundschaft des Zentralrats der Juden in Deutschland mißbrauchte, indem er Walser in Schutz nahm, ist ein Skandal, sondern »der schlichte, auf Menschenkenntnis beruhende Rat, Verdrängung durch ein Übermaß an Erinnerungszwang nicht regelrecht zu provozieren«.

Die alte Warnung, die Juden sollten es nicht zu bunt treiben, wollten sie in Ruhe gelassen werden, mündet in die Absage an den Minimalkonsens der alten BRD: »Ist das ›Nie wieder‹ nicht die hohlste aller hohlen Phrasen? Wenn das Gedenken weiterhin erschüttern soll, muß es das Rituelle und das Monumentale meiden«, sagen die, die das Gedenken über Jahrzehnte ritualisierten, die es nicht monumental genug haben konnten und alles unternahmen, den Inhalt - jene »hohle Phrase« - vergessen zu machen. Das Gedenken, so die »FAZ« besorgt, »wird sonst zu einer toten Religion - ohne Erlösungsversprechen«. Und genau diese bittere Erfahrung ist es, die sie wild macht; nach all den Jahren gibt es immer noch keine Erlösung, noch immer sind die Deutschen kein »normales Volk« (Walser).

Auf in die Schützengräben! fordert das Feuilleton. Wenn das Gedenken keine Erlösung ermöglicht, ab dafür; wenn Erinnerung nicht Versöhnung bedeutet, ist sie eine Kriegserklärung; Schluß muß sein mit den Gedenktagen, dem »Wiederholungszwang des Traumatisierten« (die »FAZ« über Bubis). Subjekt, Opfer, Prädikat, das ist die Grammatik der Berliner Republik; nach Bubis' Rede gibt es endlich einen Feind und kein »Mißverständnis« mehr.

Die schöne Redensart, es würde einem ein Stein vom Herzen fallen - Ausdruck tiefer Erleichterung vor der ausgebliebenen Katastrophe oder angesichts einer Sorge, die sich als unbegründet herausstellt -, bekommt nun ihren spezifisch deutschen Sinn: Weil es ihnen schon immer nur äußerlich war und sie nie verstanden haben, was denn nun an Auschwitz so schlimm gewesen ist, daß man jahrein, jahraus gedenken, nachdenken, warnen, begreifen, analysieren, sprechen und schweigen soll, haben die deutschen Intellektuellen nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich von der Last zu befreien. »Kinder, spricht der Onkel Walser, / Preisbörsianer, Allumhalser, / unser einst zu schmales Land / ist jetzt ein normales Land, / wo man wieder schreibt und sagt, / was uns an uns selbst behagt. / Schaut euch um, doch nicht zurück: / Ravensburg statt Ravensbrück; / Meßkirch, auch sehr hübsch gelegen, / traulicher als Esterwegen. / Dachau? Flossenbürg? Ah, geh! / Bodensee - nicht Plötzensee. / Und so weiter dergestalt, / daß sich jeder ohne Reue / unsrer Nazion erfreue: / »Westerwald!« - statt Buchenwald.« Mit diesem Gedicht hat sich Peter Rühmkorf in der »Zeit« ohne Wiegen und Wägen gegen Walser gewandt. Ansonsten gibt es keinen Protest von Günter Grass, kein scharfes Wort von - ja, von wem denn noch? Grass kann nicht mehr protestieren, nachdem er sich zusammen mit Walter Jens, der als erster Walser in Schutz nahm, im Frühjahr gegen das Holocaust-Mahnmal ausgesprochen hat. Und der klägliche Rest? Spricht nicht alles dafür, daß wir froh sein sollten, von ihnen nichts zu hören?

Es ist ja nicht so, daß sie den Mund hielten, sie machen alle mit. Da wirft der SPD-Junker Klaus von Dohnanyi die Frage auf, ob sich die deutschen Juden »so sehr viel tapferer als die meisten anderen verhalten hätten, wenn 1933 ›nur‹ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären«. Für den CDU-Junker Richard von Weizsäcker ist es Bubis, der »mit seinem Vorwurf einer ›geistigen Brandstiftung‹ Walser persönlich zu nahe getreten« ist. Und als Bubis Dohnanyis Unterstellung als »bösartig« bezeichnet, antwortet Dohnanyi: »Ich finde als Vorsitzender des Zentralrats der Deutschen Juden (!) könnten sie mit Ihren nichtjüdischen Landsleuten etwas behutsamer umgehen; wir sind nämlich alle verletzbar.« Bubis antwortet: »Wie wäre es, wenn Sie und Walser mit Ihren jüdischen Landsleuten etwas behutsamer umgehen würden, denn auch wir sind verletzbar.« Dohnanyi darauf, unter der Überschrift »Wer das Wir zerbricht«: »Daß Sie nun die jüdischen Deutschen von diesem ›wir alle‹ wie selbstverständlich ausnehmen, ... scheint mir das Problem ihrer Antworten auf meine Texte zu sein.«

»Was mich am meisten gewundert hat, war, daß 1.200 ziemlich qualifizierte Zeitgenossen einer Rede Standing ovations bereiteten und einer sagt, das war geistige Brandstiftung. Da stimmt etwas nicht. 1.200 Menschen haben also einer geistigen Brandstiftung Beifall gespendet. An die muß sich Herr Bubis wenden. Seine Äußerung ist nichts anderes als das Heraustreten aus dem Dialog zwischen Menschen«, und Menschen, das wird nicht nur bei dieser Bemerkung Walsers deutlich, sind Deutsche. Sie drehen es, wie sie wollen: Mal sind es alle Juden, die den Mund nicht zu weit aufreißen sollen, schließlich hätten sie wahrscheinlich auch mitgemacht, wäre es nicht gerade gegen sie gegangen; mal ist es der zu persönliche Ton, der den Streit gefährlich mache. In der Beliebigkeit der Vorwürfe, die sich selbstverständlich nur gegen Bubis richten, wird deutlich, daß Walser den Startschuß für die Abrechnung mit den jüdischen Überlebenden in diesem Lande gegeben hat. Die kommunistischen Widerstandskämpfer wurden mit dem Ende der DDR erledigt; die übrigen Nazi-Verfolgten eignen sich noch allemal für eine Aufrechnung à la Dohnanyi.

Daß sich mit Walser, Dohnanyi, Weizsäcker und dem Serbenfresser Freimut Duve, der Auschwitz damit relativiert, daß es »in jedem Volk, in jeder Geschichte ... auch die eigene Barbarei« gebe, diejenigen zur Wort melden, die ihre Jugend im deutschen Faschismus verbrachten, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es die neuen, nach 1945 aufgewachsenen deutschen Eliten sind, die sich der Vergangenheit entledigen wollen. Heinz Bude vom »Hamburger Institut für Sozialforschung« fand offene Worte: Die Deutschen hätten jetzt »seit langer Zeit zum ersten Mal die Möglichkeit, eine abgeschlossene Periode ihrer Geschichte mit glücklicher Wehmut und milder Zuneigung zu betrachten«. Immerhin spricht er vom Nationalsozialismus, nicht von der alten BRD. Bude meint, daß die »Demokratiebegründung der Berliner Republik nicht mehr vergangenheitspolitisch funktionieren kann« - als wäre die Demokratie der Bundesrepublik mit Auschwitz begründet worden und nicht einfach die einzige Option auf die Fortsetzung deutscher Eigenstaatlichkeit gewesen.

Die Berliner Republik setzt an ihren Anfang die Versöhnung mit den Tätern und die Disziplinierung der Opfer. Was jetzt wie ein Erdrutsch erscheint, ist der vorläufige Höhepunkt der Versöhnung der Intellektuellen mit der Macht, und in Deutschland ist diese Versöhnung zwangsläufig mit Auschwitz verbunden. Die Vollzugsmeldung wurde in folgenden Sätzen vorgetragen: »Unerträgliches muß ich nicht ertragen können. Auch im Wegdenken bin ich geübt. An der Disqualifizierung des Verdrängens kann ich mich nicht beteiligen« (Walser). Die »Disqualifizierung des Verdrängens« war über einige Jahrzehnte das Terrain der Intellektuellen, nur betrieben sie diese immer schon in der Hoffnung, damit einmal an einen Endpunkt zu gelangen und (wieder) einen »Sinn« - das heißt in Deutschland immer: eine nationale Identität - zu finden.

Das ist jetzt überflüssig geworden. Walser referierte im »Spiegel«-Gespräch mit dem alten Kameraden Augstein seine Rede noch einmal menschelnd: »Na ja, meine Mutter ist ja in der Partei gewesen, nicht erst Weihnachten 1932/33 eingetreten, wie in meinem Buch - wo dieser Zeitpunkt kompositionell paßte -, sondern noch früher. Ihr war klargemacht worden, daß Hitler die Vorsehung ernst nimmt, den Herrgott. ... Denn meine Mutter ist sozusagen Thomas von Aquin im 20. Jahrhundert, ohne daß sie je von ihm gehört hat, verstehst du. Die hat einen vollkommen katholisch geschlossenen Horizont gehabt, der sie durch und durch durchdrungen hat.« Bisher durfte man nur, jetzt muß man so sprechen, weil es »kompositionell« paßt; die Nazis waren nicht nur ausgesprochen harmlos, sondern eine Heimstatt der Heiligen. Man muß sich nur vorstellen, welcher Aufruhr losbräche, würde ein Überlebender »Zeitpunkte« seines Lebens »kompositionell« seiner Erzählung angleichen. Man erinnere sich beispielsweise an Stephan Hermlin, der aus der Not, von den amerikanischen Besatzungsbehörden als jüdischer Kommunist benachteiligt zu werden, 1945 auf einem Fragebogen falsche Angaben machte und 50 Jahre später an einen Herrn Corino geriet, der das in Vorbereitung des Nachrufs für den Schwerkranken noch vor dessen Ableben veröffentlichte.

Aber »kaum jemand«, schreibt die »FAZ« ganz richtig, »hat sich bisher mit einem so wütenden Willen zum genauen Hinschauen und zur Selbstprüfung wie Walser der Frage genähert, wie die Erinnerung an den nationalsozialistischen Judenmord lebendig erhalten und aus ritueller Erstarrung gerissen werden könne«. Lebendig erhalten will Walser einen Jargon der Erinnerung, der nichts kostet - nicht einmal Entschädigungszahlungen. »Rituelle Erstarrung« meint nicht langweilige Gedenkveranstaltungen, sondern die Verpflichtungen, die sich aus der Reaktion auf das Wort »Deutschland« im Ausland ergeben. Darum sorgte sich auch Monika Maron in der »Zeit«: »Für mich sind junge Deutsche sowenig belastet und zugleich über das Menschenmögliche so warnend belehrt wie junge Dänen und junge Franzosen.« Diese jungen Deutschen haben nun einen Sprecher: »Tätermäßig habe ich nie etwas damit zu tun gehabt. Aber dennoch bin ich, warum, weiß ich nicht, hineinverwirkt in diesen Dreck«, so Walser im »Spiegel«-Gespräch. Nach über fünfzig Jahren weiß der Berufsjugendliche immer noch nicht, warum er als Unschuldiger, der sich als Jugendlicher freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte, irgend etwas mit »unserer Schande« zu tun haben soll.

Die pädagogische Sorge, die Herzog in seiner Rede über »Abstumpfungseffekte« durch ein Zuviel an Aufklärung über den deutschen Faschismus zum Ausdruck gebracht hat, liefert das Argument, mit dem die Altvorderen nun begründen, weshalb sie nichts mehr davon hören wollen, und mit dem die nicht mehr ganz so junge »Generation Berlin« an das Geschichtsverständnis ihrer Eltern anknüpft. Die »Abstumpfungseffekte« werden seit 1989 viel diskutiert: Es gebe immer mehr Schülerinnen und Schüler, die während eines Besuches von Gedenkstätten äußern, daß sie langsam genug »davon« hätten; die Ursache für diesen Uberdruß läge bei den überengagierten Lehrerinnen und Lehrern, die im Unterricht über nichts anderes mehr zu reden scheinen als über die »Schande« der Deutschen. Einmal nachgefragt, stellt sich schnell heraus, daß die Kleinen keine Ahnung haben, und was ihre Abstumpfung angeht, handelt es sich um nichts anderes als um die Projektion des Widerwillens jener Lehrerinnen und Lehrer, sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Auch bei ihnen wird so schon das kollektive Einverständnis eingeübt.

Die Gier nach »Normalität« bringt all jene Eigenschaften zum Vorschein, mit denen die »Generation Berlin« gebrochen zu haben glaubt. Der im »Spiegel« abgefeierte »neue Umgang mit der Nazi-Vergangenheit« ist der alte; nur seine Protagonisten sind jünger geworden. Daß es sich hierbei um jene handelt, die für sich in Anspruch nehmen, die Nachkriegsdeutschen (West) 1968 zivilisiert zu haben, ist ein deutliches Zeichen dafür, daß die Auseinandersetzung persönlich wie politisch nur äußerlich blieb. Wenn der neue Bundeskanzler wie weiland Adenauer ankündigt, die deutsche Industrie vor den »überzogenen« Ansprüchen ehemaliger Zwangsarbeiter in Schutz nehmen zu wollen, und dekretiert, es werde keine »neue Wiedergutmachungsdebatte« geben, vermittelt sich darin eben nicht nur die tiefsitzende Verachtung für die überlebenden Opfer.

Weniger noch als in Bitburg oder im Historikerstreit geht es momentan um einen bloßen Schlußstrich. Die jüngeren Deutschen sollen in die Kontinuität der Verleugnung gezwungen werden. Ihnen soll perspektivisch selbst die Möglichkeit genommen werden, sich mit den deutschen Verbrechen in den nationalen Kategorien von »Schande« und »Schuld« auseinanderzusetzen - obwohl doch diese Kategorien bereits in vorteilhafter Weise darüber hinwegtäuschen, daß Auschwitz keine »Schicksalskatastrophe« (Walser) gewesen ist. Was sich bereits im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung ankündigte, wird nun durchgesetzt: »Unsere Großväter sind keine Mörder!« war die Parole der Nazis bei ihrer Demonstration gegen die Ausstellung am 1. März 1997 in München, die nun zum Allgemeingut geworden ist. Schon damals wollten 55 Prozent der Deutschen von den Verbrechen der Nazis nichts mehr wissen, und der Historiker Eberhard Jaeckel wetterte gegen jene Minderheit der jüngeren Deutschen, die sich strikt gegen jede Form des Schlußstrichs wandten. Nach Walsers Rede war es Walter Jens, der diejenigen kritisierte, die über den Nationalsozialismus urteilen wollten, damals aber noch nicht geboren waren.

Obwohl es weder damals noch heute ernsthaften Anlaß gab, sich über einen neuen Generationenkonflikt Sorgen zu machen - schließlich machen sich die jungen Deutschen zwischen Rostock und München ganz gut, die Mehrheit der Erstwähler wählt rechts und ist rassistisch eingestellt -, und obwohl die unerwünschte Vergangenheit längst nicht mehr zum Skandal taugte, würden nicht Leute wie Walser immer wieder für einen Eklat sorgen, wähnen sich die Deutschen fortwährend ungerechten Angriffen (etwa der »Weltpresse«, Augstein) ausgesetzt. Die Selbstwahrnehmung als Opfer bildet den nationalen Kitt der Deutschen; allein deshalb werden Walser, Dohnanyi, Augstein und ihre Freunde nicht aufhören, Auschwitz in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Sie wollen nicht, wie sie vorgeben, einfach in Ruhe gelassen, nicht vorschnell be- oder verurteilt werden, im Gegenteil. Die Forderung nach einem Schlußstrich war die defensive Version dessen, was sie tatsächlich bewirken wollen: eine Sicht auf den Nationalsozialismus, die diesen als eine normale, nicht besonders aufregende Phase der deutschen Geschichte wahrnimmt.

Der Durchsetzung dieser Sichtweise stehen nach Lage der Dinge nur die Überlebenden der Konzentrationslager und der NS-Zwangsarbeit, »die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand« - so Augstein im »Spiegel« - entgegen. Der Trick ist einfach: Man äußert sich, wie etwa Augstein, unverhohlen antisemitisch oder relativiert die deutschen Verbrechen in einer Art, in der es sich selbst Ernst Nolte nicht getraut hätte; wagt dann jemand, dem zu widersprechen, setzt man noch einen drauf und tut so, als wäre man der Angegriffene. So trumpfte Walser auf, als er in seiner Duisburger Rede sagte: »Meine Rede wurde, das ist unübersehbar, als befreiend empfunden.« So drohte Dohnanyi: »Noch ist es Zeit für ein einfaches ›Tut mir Leid‹. Sonst müßte man schließen, Ignatz Bubis habe sein Verantwortungsgefühl verloren.«

Zehn Tage nach Walsers Rede wurde ein Ferkel über den Alexanderplatz getrieben, dem ein Davidstern und der Name Ignatz Bubis aufgemalt war. Weitere antisemitische Anschläge in Berlin folgten in den Tagen um den 9. November. Der Unterschied zwischen dem johlenden Mob von Rostock-Lichtenhagen und den 1.200 Applaudierenden in der Paulskirche besteht lediglich darin, daß die einen Würstchenbuden aufstellten, wo die anderen ein kaltes Büfett erwartete.
 

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