Die bundesdeutsche Linke in den 1950er Jahren
Erstmals auf deutsch: "La sinistra socialista in Germania"

von
Wolfgang Abendroth / Mai 1962

01/2019

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: Der nachfolgende Aufsatz von Wolfgang Abendroth erschien im Mai 1962 in der "Critica sociale”. Diese Zeitschrift wurde 1891 in Mailand gegründet, für die 1894 Friedrich Engels einen Beitrag verfasste. Nach 1917 bestritt die "Critica sociale" die Anwendung der Leninschen revolutionären Methode auf die italienischen Verhältnisse. 1925 wurde sie von den Faschisten verboten. Nach 1945 stand die Zeitschrift der PSI bis zu deren Auflösung 1992 nahe. 1994 neugegründet vertritt "Critica sociale” einen "nicht-marxistischen Sozialismus". Die Übersetzung ins Deutsche übernahm Dr. Leonhard Schäfer. / red. trend

Die Linke in Deutschland

Der fast gänzliche Verlust des politischen und der schon begonnene Niedergang des gewerkschaftlichen Bewußtseins der deutschen Arbeiterbewegung kann man nur verstehen vor dem Hintergrund zweier- anscheinend unterschiedlichen- in Wirklichkeit jedoch dialektisch verbunden Entwicklungen:

Auf der einen Seite die Restauration der kapitalistischen Ordnung und der Macht jener sozialen Schichten, die am Ende der Weimarer Republik und im dritten Reich dominant waren: eine nach 1946 durch die amerikanische Besatzungspolitik wieder aufgezwungene Restauration, die praktisch die Verfassungsrechte der zwischen 1946 und 47 von Christdemokraten, Liberalen und Sozialisten geschaffenen Länder außer Kraft setzte. Diese wurden ersetzt durch eine postfaschistische Atmosphäre, die nur schwer an das entwickelte soziale Bewußtsein der alten deutschen Arbeiterbewegung anknüpfen konnte. Ja, sie hat ein politisches Klima geschaffen in dem mit der raschen wirtschaftlichen Entwicklung und mangels einer klaren und zentralen Linie der sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegung das Bewußtsein der herrschenden Klassen weitgehend das der sozial niedrigeren beeinflusste. (Dazu kommt, daß die verbreitete unabhängige Presse der Arbeiterorganisationen durch die amerikanischen Kontrollrechte und Beschränkungen nicht wiedererstehen konnte).

Auf der anderen Seite hat die Verschärfung des kalten Kriegs in dem von den Sowjets besetzten Ostdeutschland – nach einer kurzen Periode die zu Hoffnung Anlaß gab- zu Formen politischer Kontrollen geführt , die die schlimmsten Tendenzen der Stalinzeit in der Sowjetunion wiederholten. Da in dieser Besatzungszone, der späteren DDR, alle wesentlichen Produktionsmittel verstaatlicht worden waren, wurde im Bewußtsein von weiten Schichten der Bevölkerung der DDR und der DDR- Flüchtlinge das Konzept des marxistischen Sozialismus verbunden mit : staatliche Kontrolle des Besitzes in einer hochindustrialisierten Gesellschaft, Terror, Bremsen selbständigen Denkens und beschränkter Lebensstandard der Massen (im Kontrast zu der schnellen Erhöhung des Standards in der Bundesrepublik ). Dadurch ist der marxistische Gedanke weitgehend entwertet worden nicht nur in den führenden Klassen, sondern auch in den unteren Schichten der Bundesrepublik.

Wenn man an diese Tatsachen erinnert, darf man aber nicht vergessen, daß das Verhalten der UdSSR eine gewisse moralische Rechtfertigung hatte, bedenkt man die schweren Schäden die die Aggression des dritten Reiches ihr angerichtet hatten. In den von den deutschen Truppen besetzten Gebieten waren die produktiven Strukturen nahezu ganz zerstört worden. Der Großteil der Bevölkerung war einem unmenschlichen Terrorregime ausgesetzt oder zur Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft deportiert worden. Das dritte Reich hatte den Krieg gegen die UdSSR auf wirklich barbarische Weise geführt mit den Massakern an Kriegsgefangenen und Zivilisten und sich an keine Norm des Kriegsrechts gebunden gefühlt. Es ist daher verständlich, dass die UdSSR große Reparationen verlangte. Mit den Verträgen von Potsdam war das Gebiet der gegenwärtigen DDR der UdSSR zugeschlagen worden und mußte hohe Reparationen einlösen. Und so arbeitete lange Zeit diese Zone nicht für die eigene Bevölkerung, sondern für die Sowjetunion. Eine wirtschaftliche Plünderung dieses Ausmaßes kann nicht lange Zeit ohne die Ausübung von Terror vor sich gehen. Man versteht also, daß in einer Zone, die folglicherweise in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gebremst wurde, sich in der SED, die praktisch seit Beginn eine stalinistische Partei war, nicht mal nach dem 20. Parteikongress der KPdSU jene liberaleren Tendenzen entwickeln konnten wie in anderen kommunistischen Parteien Osteuropas.

Aber auch unter Berücksichtigung dieser objektiven Umstände, die die Entfremdung der SED erklären und auch unter Anerkennung der gegenwärtigen materiellen Bedingungen und der gegenwärtigen Geisteshaltung der SED, bleibt die Tatsache, daß psychologisch die Mehrheit der Arbeiter in der DDR sich in Widerspruch mit dem herrschenden System fühlt und dieser Gegensatz zwischen dem Arbeiterbewußtsein in der DDR und der herrschenden Bürokratie, sich fortgesetzt im politischen Bewußtsein der Arbeiterklasse in der Bundesrepublik widerspiegelt.

Als Konsequenz dessen hat die KPD, die 1946 beachtliche Wahlerfolge in den am meisten industrialisierten Regionen der heutigen Bundesrepublik verzeichnen konnte (die Arbeiter hatten nicht vergessen, daß vom ersten bis zum letzten Tag des dritten Reiches die Kommunisten an der Spitze des Widerstands waren) , nach 1948 rasch jeglichen Einfluss auf die Arbeiterklasse in Westdeutschland verloren. Wie alle anderen Parteien der alten kommunistischen Internationale war die KPD Anfang 1948- nach einer kurzen Tauperiode- wieder der stalinistischen Richtung verbunden und deshalb konnte sie nicht mehr die Situation in der Sowjetischen Besatzungszone, jetzt DDR, kritisieren. In kurzer Zeit zog sich die Mehrheit derjenigen, die in der Weimarer Republik und während des Widerstandes gegen das dritte Reich Kader gewesen waren, aus dem Parteileben zurück. Schon bei den Wahlen zum Bundestag 1949 hatte die KPD nur die Hälfte der Stimmen von 1946 erreicht. Bei den Wahlen von 1953 verschwand sie aus dem Bundestag, da sie die 5% Klausel nicht erreichte. Im Jahr 1956 wurde sie erneut verboten und von der alten Führungsklasse in die Illegalität getrieben. Diese Klasse hatte sich des Staatsapparats der Bundesrepublik bemächtigt und erfüllte die Bedürfnisse der amerikanischen Außenpolitik, nämlich im Sinne des Antikommunismus die politische Situation in Westdeutschland zu stabilisieren (die Fälle Globke und Grewe sind symptomatisch für eine generelle Tendenz).

Das Verbot der KPD, der Stempel der Illegalität, den die wachsende Verschärfung des Strafrechts jeder prokommunistischen Orientierung aufdrückte, die Presseaktionen (die Presse war fast ausschließlich zu Diensten der Bundesregierung) und auch jene Arbeiterorganisationen, die beschlossen hatten, sich der Bundespolitik anzuschließen, bewirken, als prokommunistisch alle Gefolgsleute der marxistischen Ideen zu diffamieren, die darauf bestehen, die immer mächtigeren Monopole zu verstaatlichen. Diese systematische Diffamation verbreitete sich auch bald auf die politischen Gruppierungen, die sich der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu widersetzen versuchten: eine Wiederbewaffnung, die sich unvermeidlich unter der Führung der ehemaligen Generäle der Naziwehrmacht vollzogen hatte.

In der Arbeiterbewegung Westdeutschlands gab es seit Beginn der Restauration eine starke Opposition gegen die Wiedererlangung der Macht der dominierenden Klassen und Gruppen der letzten Periode der Weimarer Republik und des dritten Reiches. Dies insbesondere nach der Währungsreform von 1948. Diese Bewegungen gegen die Restauration, die antraten, das Bewußtsein der Arbeiterklasse insbesondere unter der jungen Generation wieder zu wecken, hatten kein eigenes Organisationszentrum geschaffen. Die Leitungszentralen der SPD und des DGB hatten nämlich immer gehofft, die schlimmsten Konsequenzen der Restauration durch Kompromisse mit der von den Westmächten unterstützten deutschen Führungsschicht zu vermeiden. Die Massenbewegung gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik , die seit 1950 in zwei großen Wellen die Arbeiterorganisationen mobilisierte, hat deshalb kein praktisches Ergebnis erzielt. Die Führer dieser Bewegungen haben wohl die Mängel der SPD und des DGB kritisiert, sie waren aber weder in der Lage, sich eine andere Organisationsstruktur noch sich eine klare strategische Linie zu geben: nach jeder Niederlage sahen sie sich erneut gezwungen sich nach einer politischen Gruppierung zu orientieren, die ihr organisatorische Hilfestellung und ein gemeinsames Bewußtsein geben konnte. Aber mit dem wachsenden Wohlstand und nach jedem Mißerfolg schwand ihr Einfluß auf die Massen bis zur folgenden Oppositionswelle; sie schafften nicht die notwendige Zustimmung der Massen zum Aufbau eines eigenen politischen Aktionszentrums.

Man darf sich daher nicht wundern, daß nach jeder Niederlage der Einfluß der Stalinisten- die ja bis 1956 legal und aktiv waren- stieg. Dieser Einfluß war besonders stark auf die jungen Führungskader dieser spontanen Oppositionsgruppen und nährte die illusorische Hoffnungen auf einen positive demokratische Entwicklung in der DDR. Bis 1956 war eine verhältnismäßig offene Diskussion über diese Problematik noch möglich zwischen Gruppen, die diese Illusionen nicht teilten auf der einen Seite und Stalinisten und jungen Führungskadern mit pro-stalinistische Illusionen auf der anderen Seite. Mit dem Verbot der KPD ist auch diese Möglichkeit verschwunden: von jenem Moment an hieß jeder offene Angriff auf einen Gewerkschaftsfunktionär oder einen jungen Intellektuellen, der auch nur naive pro-stalinistische Illusionen hatte, ihn einer strafrechtlichen Verfolgung der deutschen Justiz auszusetzen. Es sei hinzuzufügen, daß dieser Wandel nicht mit dem Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht begann, sondern mit den Änderungen des Strafgesetzbuches von 1951, in denen jede kommunistische Aktivität unter Strafe gestellt wurde.

Konsequenterweise hat sich in der Arbeiterbewegung der Bundesrepublik nach 1951,und besonders nach 1956, eine äußerst ambivalente Situation gebildet. Auf der einen Seite besitzt die Linke der Bewegung weder ein eigenes Organisationszentrum noch Massen-Druckerzeugnisse (die Lizenzpflicht der Presse, die schon mit dem klaren antisozialistischen Ziel der Besatzungsmächte eingeführt wurde, ist nur abgeschafft worden, als das Publizieren von Zeitungen und Zeitschriften ohne große finanzielle Mittel nicht mehr möglich war); auf der anderen Seite hatten die Stalinisten an der Macht in der DDR, am Anfang halblegal, dann total illegal, die notwendigen Mittel zur Verfügung zum Aufbau und zum Unterhalt eines eigenen Apparates und damit auch der Presse gegen Oppositionsgruppen ( in der DDR, ndR.). Sie sind daher praktisch die einzigen, die die Gedanken der verschiedenen Oppositionsgruppen (in der Bundesrepublik , n.d.R.) beeinflussen können.

Objektiverweise ist das Verbot der KPD für die Stalinisten eine Schutzmaßnahme geworden: es ist in der Tat nicht möglich, offen die stalinistischen Funktionäre anzugreifen, denn eine solche Attacke bewirkt eine Anzeige beim bundesdeutschen Polizeiapparat, der übrigens noch weitgehend aus ehemaligen Gestapo- Funktionären zusammengesetzt ist. Auf diese Weise können die Stalinisten vermeiden, daß die Aus-wirkungen der verheerenden Politik der Gruppe Ulbricht in der DDR ihren Einfluß auf jene Funktionäre der Arbeiterjugend und die Arbeiterbewegung generell zunichtemacht, die durch ihre tägliche Erfahrung zu einem neuen Klassenbewußtsein beitragen. Auf der anderen Seite erlaubt dies den rechten Führungs-kräften in der SPD und im DGB, die seit der Mitte der 60er Jahre auf jede geistige Beziehung zur Tradition der Arbeiterbewegung verzichten und gänzlich den gehässigen und unkritischen Antikommunismus der bundesdeutschen Außenpolitik übernommen haben, jede Kritik aus der Linken als pro-stalinistisch anzuprangern. Es gestattet ihnen somit, aus den Massen jene linken kritischen Gruppen zu isolieren, die der stalinistische Terror, der relativ niedrige Lebensstandard und der Mangel an Meinungsfreiheit in der DDR von diesem Regime entfernen würde.

Die Gegensätze der verschiedenen Gruppen der augenblicklichen deutschen Linken müssen aufgrund dieser Situation bewertet werden. Jede weitere Orientierung der Apparate von SPD und DGB nach rechts erzeugt unvermeidlich Widerstand von neuen Oppositionen in den Arbeiterorganisationen und linken Intellektuellen- Vereinigungen. Und da in der gegenwärtigen Situation diese Richtungen sich nur schwerlich eigenständig behaupten können, kommt in ihnen die hartnäckige Illusion wieder auf, die Auflösung des sozialistischen Bewußtseins der deutschen Arbeiterbewegung in Zusammenarbeit mit den stalinistischen Gruppen eindämmen zu können. Das Verbot der KPD und ihrer politischen Freunde verhindert, diese Illusion offen zu bekämpfen, die konsequenterweise (vielleicht nur vorrübergehend) auch gut gebildete und kritische Funktionäre erfaßt. Diese würden jedoch nach einiger Erfahrung nicht zögern sie als solche anzuerkennen und zu überwinden. Aber aufgrund des Stadiums der Unsicherheit in der sie sich befinden isolieren sich diese Funktionäre von den Genossen und verlieren somit jeden politischen Einfluß. Wenn sie jedoch in dieser Phase der Unsicherheit öffentlich von jenen Linken, die sich der Gefahr bewußt sind, aufmerksam gemacht würden, zögen sie die Aktionen der Polizei auf sich.

Man muß noch die Tatsache hinzufügen, daß das hysterische antibolschewistische Klima der öffentlichen bundesdeutschen Meinung, das sich nach 1960 auch in der offiziellen Politik der SPD widerspiegelt, auf viele Fragen politische Ideen hervorgebracht hat, die jeder sinnvollen linken Gruppierung widersprechen und die aus verschiedenen Gründen auch von den Stalinisten bekämpft werden. Z.B. zur Frage der staatlichen Existenz der DDR gibt es keinen Zweifel , daß jede vernünftige politische Betrachtung von der Anerkennung ausgehen muß, daß in der soziologischen Realität dieser Staat existiert und jede deutsche Politik, die glaubt, diese tatsächliche Situation ignorieren zu können, jede Möglichkeit, die deutsche Frage zu lösen, ausschließt. Objektiverweise ist das Resultat einer solche Politik kein anderes als den stalinistischen Terror in der DDR zu bestärken; und trotzdem wird jede Kritik an der offiziellen Politik, sowohl an der bundesdeutschen als auch an der SPD und des DGB von den Parteien und der bundesdeutschen Presse als pro-stalinistisch verleumdet. Und weil auf der anderen Seite jede Diskussion zwischen den politischen demokratischen Kräften und den Stalinisten (die die offizielle Politik aus anderen Gründen kritisieren) aus den oben geschilderten Gründen unmöglich ist, haben die dominierenden Richtungen der öffentlichen Meinung immer die Möglichkeit, jede Kritik als stalinistisch zu brandmarken. Auf der anderen Seite haben die Stalinisten die Möglichkeit, diese zweideutige Situation aufrecht zu erhalten, die es ihnen erlaubt, in andere Oppositionsgruppen einzudringen. Das gleiche tritt ein beim Problem der Massenaufrüstung der Bundesrepublik (dessen gegenwärtiger Militärhaushalt, der im Prinzip von der SPD gebilligt wurde, auf 15 Milliarden DM stieg), wie auch bei den vorgesehenen Grundgesetzänderungen im Falle des Notstands (sprich Notstandsdiktatur).

Diese Widersprüche traten in dramatischer Weise beim Fall von Viktor Agartz hervor, ehemals führender Wirtschaftsexperte des DGB. 1954-55 in Ungnade gefallen, machte er eine Zeit der Unsicherheit in der Beurteilung der Entwicklung der DDR durch, die zu seiner totalen Isolierung führte. Auch wenn er diese Unsicherheiten seit langer Zeit überwunden hat, ist seine Isolierung bei den linken Kräften geblieben. Analoges ist in der Gruppe zu finden, an deren Spitze der Redakteur der „Andere Zeitung“, Dr. Gleisberg, stand. Im Kreis dieser Wochenzeitung ( auch noch heute die wichtigste in ihrer Art) gibt es noch welche, die nicht den wachsenden bürokratischen Terror in der DDR anerkennen. Jedoch auch in diesem Kreis wächst die Kritik an den Verhältnissen in der DDR, ohne daß es jedoch möglich war die Isolierung dieser Gruppe zu durchbrechen oder mit ihr zu einer Klärung zu kommen.

Die einzige organisierte Gruppe der deutschen Linken die dieses Problem gelöst hat und die in Theorie und Aktion eine präzise politische Position eingenommen hat (und die in ihren Reihen keine pro-stalinistischen Unsicherheiten erlaubt) ist die studentische Organisation SDS. Aber in der allgemeinen Feindschaft, die den verschiedenen linken Strömungen in der Bundesrepublik begegnet, wird auch der SDS von der öffentlichen Meinung und von den offiziellen Arbeitnehmer- Organisationen als „pro-kommunistisch“ verdächtigt und bleibt außerhalb der Universität relativ isoliert (jedoch nicht unter den Studenten). Die einzige linkssozialistische Zeitschrift, die gegenüber den pro-stalinistischen Ambivalenzen immun geblieben ist, ist die Monatszeitschrift „Sozialistische Politik“. Sie ist jedoch praktisch ohne Einfluß aufgrund ihrer geringen Auflage.

In dieser Situation ist die Wahrscheinlichkeit eines breiten Wiedererwachens des sozialistischen Bewußtseins in der Bundesrepublik augenscheinlich nicht sehr hoch. Es ist wahr, daß die objektiven Klassengegensätze sich demnächst verschärfen könnten, wie es vor kurzem eine Rede des Wirtschaftsministers Erhard zeigte. Es ist auch wahr, daß die Orientierungen der internationalen Politik und die militärische Ausrichtung (der hohe Militärhaushalt, die Verlängerung des Grundwehrdienstes, die Notwendigkeit von Verhandlungen mit der DDR) die Bevölkerung der Bundesrepublik veranlassen, die sozialistische Opposition gegenüber einer abenteuerlichen bundesdeutschen Politik zu unterstützen, die den gesamten westlichen Block mitreißen würde. Aber die brutalen Maßnahmen der Clique um Ulbricht (wie die des 13.August 1961)liefern besonders den Kräften immer neue Argumente , die Interesse haben, die anti-bolschewistische Hysterie aufrecht zu erhalten. Die unmittelbar bevorstehenden Grundgesetzänderungen werden auch einen Teil der Mitglieder von SPD und DGB zwingen, die Augen besser aufzumachen : aber es existiert heutzutage kein Zentrum, um das sich oppositionelle Strömungen zu einer wirklichen politischen Kraft verfestigen könnten.

Die Bildung eines solchen Zentrums setzt voraus, daß eine auch kleine Gruppe von linken Intellektuellen und Gewerkschaftsführern diese Situation klar erkennt und ohne der „öffentlichen Meinung“ , der Presse und den Zentralen der politischen Parteien der Bundesrepublik Zugeständnisse zu machen (die alle auf eine Politik der Macht und der Verschärfung der internationalen Spannung ausgerichtet sind) sich von der Politik der Sozialdemokratie und der kommunistischen Partei auf eine Art und Weise unterscheidet, die klar und verständlich auch für die Masse der deutschen Arbeitnehmer ist.

+++++++++

Lesehinweis

  • Wolfgang Abendroth
    2. Mai 1906 bis 15. September 1985
    Ein intellektuelles Porträt von Richard Albrecht