N.N. Stellungnahme aus der Interim Nr. 536 vom 18.10.2001

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Mit Luftangriffen auf die afghanischen Städte Kabul, Kandahar und Jalalabad haben die US-Streitkräfte mit Unterstützung britischer Verbände am 7, Oktober 2001 ihren angekündigten Vergeltungsschlag für die Attentate gegen das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington begonnen. Für diese Selbstmordaktionen, bei denen am 11. September mehr als 5000 Menschen getötet worden waren, wurde al-Qaida, ein von Usama Bin Ladin koordiniertes Netzwerk verschiedener islamistisch-faschistischer Gruppen, das Stützpunkte in Afghanistan unterhält, verantwortlich gemacht. Auf Antrag der USA hatte die NATO als Reaktion darauf am 2. Oktober erstmals den "Bündnisfall" nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags erklärt.

Es ist Krieg!

Bereits am 12. September hatte der NATO-Rat prophylaktisch die Feststellung des Bündnisfalls in Aussicht gestellt, ohne dass bis dahin überhaupt ein Angreifer konkret benannt werden konnte. Nicht ohne Grund wurden von den deutschen Medien in den Tagen danach Parallelen zum Sommer 1914 gezogen, als die "Blankovollmacht" des Deutschen Reiches für Österreich-Ungarn vom 6. Juli 14 einen Krieg um die Neuaufteilung der Welt ausgelöst hatte. Auch die US/NATO-Militäraktionen werden langfristig, aber nachhaltig die Kräfteverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien verändern und Auswirkungen auf das Verhältnis der imperialistischen Staaten untereinander haben.

Die Zustimmung zur Erklärung des Bündnisfalls und die Versicherung der "uneingeschränkten Solidarität" (Bundeskanzler Schröder am 12. September) zu den USA durch die Bundesregierung erklären sich aus den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in der Region.

Am 10. Mai 2001, wenige Tage vor Außenminister Fischers Besuch in den zentralasiatischen GUS-Republiken Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan (20. - 24. Mai) hatte Achim Schmüllen, Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Artikel publiziert, der die Überschrift "Neues 'great game' in Zentralasien? Die Stabilität der Region ist gefährdet - Europa sollte sich aus ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen engagieren" trug. Er entwarf darin ein Kriegsszenario für die Jahre nach 2015, in denen die europäische" Erdölfelder erschöpft und daher die mittelasiatischen Vorkommen wichtig werden und die afghanischen Taliban das usbekische Fergana-Tal besetzen, um dort die Opiumproduktion, mit der sie den Weltmarkt beherrschten, zu steigern.

Die USA hatten unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September ihre Entschlossenheit zu militärischen Aktionen verkündet, der deutschen Bourgeoisie blieb, um ihre Ziele weiter verfolgen zu können, nichts übrig außer einer Teilnahme an diesem Spiel, auch unter der Bedingung, dass bis auf weiteres die USA die Spielregeln bestimmen. In Afghanistan ist die Bevölkerung Bauernopfer in diesem "great game" des Westens und Geisel in den Händen von Usama Bin Ladin und des Taliban-Regimes. Bereits die Androhung militärischer Vergeltung durch die US-Regierung hat Hunderttausende Afghaninnen auf die Flucht getrieben, die Nachbarstaaten Iran (am 16.9.) und Tadschikistan (am 20.9.) schlössen daraufhin ihre Grenze. Abgeschnitten von Versorgungslieferungen, drohen mehrere Millionen zu verhungern. Der iranische Plan, mit Unterstützung des UNHCR "Pufferzonen" zum "Auffangen der Flüchtlingsströme" zu errichten, orientierte sich am NATO-Einsatz im Kosovo. Auch dieser wurde schon als strategische Auseinandersetzung mit dem Islamismus verstanden: Joschka Fischer hat am 3. Mai 2001 in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger erklärt, ohne Eingreifen von NATO-Truppen in den Kosovo-Krieg hätten "islamische Fundamentalisten" die Flüchtlingslager unter ihre Kontrolle gebracht.

Ein Krieg des "Nordens" gegen den "Süden"?

In verschiedenen Stellungnahmen "kritischer Intellektueller", aus dem kirchlichen und Multikulti-Milieu oder von Gruppen aus der reformistischen Linken (autonome Gruppen äußerten sich eine Spur differenzierter) wurde und wird versucht, die Attentate von New York und Washington in einen Zusammenhang mit den katastrophalen Folgen der Globalisierung und der neo-kolonialen Politik der westlichen Industriestaaten zu stellen.

Zwangsläufig werden bei solchen "Erklärungen" die Fakten entweder ignoriert oder zurechtgebogen: Die Taliban, wie auch schon die anderen Mudjaheddin-Gruppen in Afghanistan, wurden von der CIA aufgebaut, finanziert und mit Waffen versorgt. Nähere Beschreibungen des von ihnen nach der Eroberung des größten Teils des Landes errichteten feudalistisch-patriarchalen Regimes dürften sich erübrigen, allerdings ist die Diskriminierung ethnischer Minderheiten (Usbekinnen, Tadschikinnen, vor allem aber schiitischen Hasara) durch die Taliban, die sich überwiegend aus der Volksgruppe der Paschtunen rekrutieren, weniger bekannt als andere Herrschaftsmethoden. 

Der Multimillionär Usama Bin Ladin gehörte als Erbe eines Bauuntemehmens mit Kontakten zum Königshaus der feudal geprägten Oligarchie Saudi-Arabiens an, die in ihrem Land ein multinationales Proletariat, vorwiegend aus anderen Ländern des arabischen Raums und des Mittleren und Femen Ostens, ausbeutet. Hausangestellte, überwiegend Frauen, werden teilweise gezwungen, in Verhältnissen zu leben, die sich von Sklaverei nur wenig unterscheiden. Auch diejenigen, die verdächtigt werden, die Selbstmordattentate ausgeführt zu haben, stammten zumindest teilweise aus den herrschenden Klassen der arabischen Emirate am Golf. Durch ihre Herkunft und ihren Status als Studenten waren sie auch in Europa und den USA, wo sie lebten, privilegiert, ganz sicher jedenfalls gehörten sie nicht zu denjenigen, die im Trikont oder als lllegalisier-te/Marginalisierte in den Metropolen tagtäglich um das Überleben kämpfen müssen. Es ist also offensichtlich, dass weder die Taliban, noch al-Qaida oder andere islamistisch-faschistische Gruppen, die zwischen Algerien und Afghanistan aktiv sind, die Unterdrückten des Trikonts repräsentieren, sondern sich an der Unterdrückung der Menschen und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Südens beteiligen. Sie sind Teil des Problems, nicht Teil seiner Lösung.

Die Konflikte A zwischen ihnen und den imperialistischen Metropolen sind mit den Attentaten vom 11. September und den Militäraktionen vom 7. Oktober eskaliert. Für Antirassistinnen und Kommunistinnen gibt es keinen Grund, in diesen Verteilungskämpfen zwischen globalen, regionalen und lokalen Ausbeutern für irgendeine Seite Verständnis zu zeigen oder gar Partei zu ergreifen.

Gesellschaftliche Brüche und Entwicklungen

Eine eindeutige Abgrenzung ist auch deshalb wichtig, weil sich in den Tagen nach dem 11. September gezeigt hat, dass in der deutschen Bevölkerung ein gewisser klammheimlicher Antiamerikanismus wohl weiter verbreitet ist als gemeinhin angenommen wird. Im Versuch, dieses Gefühl rational zu rechtfertigen, wurden die Anschläge als Reaktion auf die us-amerikanische Nahost-Politik und insbesondere die Unterstützung Israels gedeutet, von da aus war es in nicht wenigen Fällen bis zum antisemitischen Klischee des "großen jüdischen Einflusses in den USA" dann nicht mehr weit. Die neo-nazistische Szene, die aus genau dieser antisemitischen Haltung heraus die Attentate bejubelt hat, war vermutlich nur deshalb nicht in
der Lage, die Situation zu ihren Gunsten auszunutzen, weil für die Durchschnittsbürgerinnen der Schock über die Zahl der Toten und die Abneigung gegen Muslime und Araber genauso groß ist wie die Schadenfreude über die Zerstörung der Symbole us-amerikanischer Macht.

Dagegen hat das politische Establishment in der Bundesrepublik von Anfang an versucht, an diese anti-islamischen Ressentiments in der Bevölkerung anzuknüpfen, indem die Selbstmordanschläge als "Angriff gegen die gesamte zivilisierte Welt" und überhaupt "die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens" (Aufruf aller sechs Bundestagsparteien zur Solidaritätsdemonstration am Brandenburger Tor, 14.September) dargestellt wurden. Mit der Mobilisierung eines kulturellen Rassismus sollte eine möglichst breite gesellschaftliche Basis für eine Unterstützung der US/NATO-Militäraktionen gesichert werden. Zwar würde die rassistische Propaganda nach einigen Tagen von offizieller Seite etwas zurückgefahren, die Praxis aber weitergerührt: Seit dem l. Oktober läuft eine bundesweite Rasterfahndung, mit der "Terroristen", die angeblich unauffällig unter den Migrantinnen leben, "aufgespürt" werden sollen. Auch die Neue Rechte spricht unter Bezug auf Samuel P. Huntington von einem "Kampf der Kulturen", interpretiert ihn jedoch ethnopluralistisch als Kampf um die Bewahrung einer eigenen, als authentisch verstandenen Kultur. Diese gelte es in Bezug auf Deutschland sowohl gegen den amerikanischen Hegemonialanspruch als auch gegen das Vordringen außereuropäischer Kulturkreise wie des islamischen zu verteidigen, wozu auch gleich praktische Vorschläge gemacht werden: Eine "verschärfte Ausländerpolitik (Forcierung von Abschiebungen, Verminderung der Einbürgerungen)", so Josef Schüsslburner in der Jungen Freiheit vom 21. September. Und um auch wirklich keine Unklarheiten über die eigenen Absichten aufkommen zu lassen, zieht Werner Olles in der gleichen JF-Ausgabe eine Verbindung von Huntington zu Oswald Spengler und der Konservativen Revolution. Die Neue Rechte kann auf diese Weise einerseits an den vom Establishment in der Mitte der Gesellschaft angestoßenen kulturrassistischen Diskurs, andererseits an die vom hessischen CDU-Vorsitzenden Roland Koch eingeforderte Debatte um die "nationale Identität" anknüpfen. Die Schnittmenge neurechten und neokonservativen Gedankenguts dürfte dabei so groß sein, dass die Neue Rechte in Deutschland weiter an Einfluss gewinnen wird.

Unschwer abzusehen ist auch, dass durch diese komplexe Entwicklung die Fragmentierung der Gesellschaft entlang ethnischer und kultureller Linien und in den Migrationsminderheiten die Tendenz zum Partikularismus zunehmen wird. Die Antwort darauf kann nur heißen:

Den antifaschistischen und antirassistischen Kampf hier führen!

Es ist notwendig, einen antirassistischen und antifaschistischen Widerstand aufzubauen, der allen Tendenzen zu ethnischen und religiösen Spaltungen und Segmentierungen in der Gesellschaft entgegentritt und sich deshalb sowohl gegen alle Formen von Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch gegen nationalistische Tendenzen in den ethnischen Minderheiten richtet. Damit das möglich sein kann, müssen wir, zusätzlich zu den Analysen und Diskussionen über Faschismus, Rassismus und Patriarchat, eine historisch-materialistische Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Islamismus führen, die diesen Namen auch verdient. Der kulturrassistischen Mobilisierung und den Verschärfungen innerhalb des institutionellen Rassismus durch sogenannte "Anti-Terror-Maßnahmen", die von der Bundesregierung beschlossen wurden (z.B. die regelmäßige Überprüfung von Personen "aus dem arabischen Raum" durch die Verfassungsschutzämter) und darüber hinaus geplant besten zu begegnen, indem die Kämpfe, die sich schon gegen die Residenzpflicht für Flüchtlinge, gegen oder das "Asylbewerberleistungsgesetz" entwickelt haben, weitergeführt und gestärkt werden. Die im Sommer angezettelte Debatte um "Mißbrauch" und daher notwendigen Umbau der sozialen Sicherungssysteme ist zwar nach dem 11. September verstummt, die dabei gemachten _ Vorschläge stehen aber immer noch im Raum, schließlich muss und wird der "Krieg gegen den Terrorismus" durch entsprechende Einschnitte im sozialen Bereich finanziert werden.
Dass ein "Zuwanderungsgesetz" in der von der Regierungskoalition geplanten Form höchstwahrscheinlich gestorben ist, ist nicht weiter bedauerlich, wird aber das rechte Spektrum nicht davon abhalten, in nächster Zeit die "nationale Identität der Deutschen" zu thematisieren. Wir, die revolutionäre Linke, sollten darauf die Frage nach der Gesellschaft, d.h. nach den sozialen Beziehungen der hier lebenden Menschen zueinander, stellen und zugleich mit unseren i Vorstellungen von einem herrschaftsfreien und selbstbestimmten Leben beantworten. 

Oktober 2001