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Zwei Berichte aus der TAZ vom 23. Januar 1997
Linke und Hyperlinke
Diskussion zum Geburtstag des Online-Magazins „Trend": Linke Gruppen entdecken die Solidarität im World Wide Webvon Tilman Baumgärtel
An der Theke sitzen ein paar Jungs mit hochgezogenen Schultern und schlürfen Tee. Ein Barmann in Unterhemd und Schlabberhose bastelt an der Kaffeemaschine, die keinen Wasserdampf mehr für den Cappuccino rausblasen mag. Hier soll eine Veranstaltung zum Internet stattfinden, dem Riesenhype?
Das Jugendzentrum „Chip" in Berlin Kreuzberg sieht noch fast so aus wie damals, als das „Netzwesen" noch eine Sache für Hacker, Fanatiker und Cypherpunks war. Zwei Computer, um die sich kleine Grüppchen geschart haben, fast alles Männer. Und eine Stunde nach Veranstaltungsbeginn fehlt noch immer das Treiberprogramm, um Web-Pages mit einem Projektor an die Wand des turnhallenartigen Saals zu werfen.
Aber es ist eben nur fast wie früher: Zwischen bunten Haaren schieben sich auch Achtundsechziger und Traditionslinke mit Bierbauch an den Büchertischen vorbei. Nicht nur von „Compilern" und „Suchmaschinen", auch von „Gegenöffentlichkeit" und „Soli-daritätsgruppen" ist die Rede. Und habe ich da nicht sogar ein kariertes Palästinensertuch gesehen? Unter dem Titel „Alles nur bunte Reklametafeln an der Datenautobahn" haben sich linke und linksradikale Onliner versammelt, eingeladen vom „BerliNet" (www.berlinet.de), einer Mailbox mit Internet-Verbindung.
Anlaß der Veranstaltung: der erste Geburtstag des Online-Magazins Trend (www.berlinet.de/ trend/), das sich als „publizistisches Projekt zur Schaffung einer linken und radikalen Öffentlichkeit in World Wide Web und Internet" versteht. Bald nach seiner Gründung haben sich auch andere linke Magazine dem „großen Treck in den Cyberspace" angeschlossen. Allein auf dem Server von BerliNet hegen heute fast ein Dutzend Online-Ausgaben linker Zeitschriften. Friede den Festplatten. Gruppen, die sonst nichts miteinander zu tun haben wollten, teilen sich den Rechner: „Poonal", eine Nachrichtenagentur für Meldungen aus Lateinamerika, der Kurdistan-Rundbrief, die Zeitschrift Antirassistischer Gruppen, die Jugendumweltzeitung Juckreiz.
Für denTrend-Redakteur Karl-Heinz Schubert konnte das Internet „die Dialogfähigkeit der Linken wiederherstellen". Es biete die Chance, zerstrittene Fraktionen wieder zu vernetzen - und sei es durch Hyperlinks. Auf der Trend-Homepage heißt es ausdrücklich: „Schickt uns Eure Artikel, Presseerklärungen, Aufsätze, Veranstaltungshinweise per Email oder als Diskette. Wir veröffentlichen eure Texte im Internet."
Eine ideologische Zensur findet nicht statt. Als Beilage des monatlichen Ezines erschienen unter anderem Beiträge aus so verschiedenen Blättern wie Bahamas, Linkskurve, dem anarchistischen A-Ku-rier und der irischen Widerstandsgruppe „Spirit of Resistance". Doch Schuberts Optimismus überzeugt nicht alle. „Wir sind nur im Netz, weil man das heutzutage machen muß", sagt ein Vertreter der „Roten Hilfe". Neue Mitglieder seien damit nicht gewonnen worden, dafür wolle man sich weiter der traditionellen Mittel, der Demos und Broschüren bedienen. Allerdings werde die Kommunikation leichter - das Briefeschrieben entfällt.
Auch Dritte-Welt-Gruppen wollen die E-Mail nicht mehr missen. „Poonal" verschickt seinen wöchenthchen Infodienst inzwischen nicht mehr nur mit der Schneckenpost, sondern auch über eine Mailingliste. Doch für die politischen Debatten der Linken sind Fido-Net oder andere Mailboxen immer noch beliebter als das Internet. Es gibt Schätzungen, nach denen nur ein Prozent der deutschsprachigen Webseiten politische Inhalte haben.
Trotzdem verteidigen die Trend-Macher ihr Engagement im „Grafikgewitter": Erstens dürfe man das Internet nicht einfach kommerziellen Anbietern überlassen. Und zweitens könnten im Web nicht nur „zerhackte Debatten" wie im Usenet und in den Mailboxen, sondern auch längere Texte und sogar vergriffene linke Klassiker zugänglich gemacht werden. Inzwischen ist der Projektor-Treiber eingetroffen, und zum Beweis kann Michael Klockmann von der Zeitschrift AntirassistischerGruppen seine eigenen Webseiten vorführen. Dafür hat er die HTML-Sprache gelernt. „Dabei leidet allerdings der Kollektivgedanke", wendet Schubert ein. Die Produktion eines Online-Magazins werde Experten übertragen.
Mehr Fragen als Antworten also. Was tun, wenn der Staat gegen Linke im Web vorgeht, wie jüngst gegen die Zeitschrift radikal auf dem niederländischen Server von xs4all? Beim nächsten Treffen soll überlegt werden, wie man in einem solchen Ernstfall möglichst schell Mirrorsites und andere Formen der gegenseitigen Unterstützung organisieren kann. Ganz und gar ist die Solidarität nicht digitalisierbar. Denn, sagt Trend-Redakteur Schubert, dieses Treffen „ist auch ein Versuch, aus dem Virtuellen zurückzukehren. Wenn hier nicht wirkliche Menschen zusammen kommen, um zusammen Politik zu machen, dann hat sich diese Veranstaltung nicht gelohnt." Hat sie aber doch.
Linke Links: Mit trend im Netz
Unbegrenzte Textmengen: Von der Gewerkschaftszeitung zur »virtuellen Flugibörse«von Ann Stafford
Das World Wide Web (WWW), das weltweite Computernetz, kennt kein Privateigentum. Jede Person hat Zugang, vorausgesetzt sie hat einen Computer mit Netzanschluß. Nach dem Vorbild des Amsterdamer »xs4all« (Zugang für alle) können linke Gruppen bei »BerliNet« und der Berliner online-Zeitung trend ihre Texte kostenlos im Computernetz veröffentlichen.
Rund 50 Menschen, mehrheitlich männlich, versammelten sich am vergangenen Sonnabend im Kreuzberger Jugend- und Freizeitzentrum Chip und feierten den ersten Geburtstag von trend, einer Zeitung, die nicht als Papierausgabe existiert, sondern nur am Computerbildschirm zu bewundern ist. Das Projekt will eine linke und radikale Gegenöffentlichkeit im Internet schaffen und fügt die deutschsprachigen Texte monatlich zu einer Art »virtueller Flugibörse« (Zitty) zusammen. Wöchentlich werden Berliner Veranstaltungstermine im WWW den Leserinnen zur Verfügung gestellt. 4000- bis 6000mal monatlich werden die trend-Seiten besichtigt.
Bei trend und BerliNet veröffentlichen die unterschiedlichsten Gruppierungen, von der antinationalen Zeitung bahamas über die Antirassistische Initiative, das anarchistische Wochenblatt A-Kurier, die Irisch-Republikanischen Nachrichten bis hin zum Forum für libertäre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung espero. trend sei eine Plattform von unterschiedlichen linken Strömungen, von denen einige sonst nicht miteinander reden würden, freut sich Redaktionsmitglied Karl-Heinz Schubert. Für ihn ist trend ein Beitrag zur Dialogfähigkeit der Linken, um Leute an einen Tisch zusammenzubringen, damit sie endlich gemeinsam ein Projekt entwerfen, um die Gesellschaft zu überwinden. Zweck der Zeitung sei die »radikale Kritik der kapitalistischen Verhältnisse und die Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft«, sagt Schubert.
Auf Papier existierte trend als Kreuzberger Zeitung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), berichtete auch über außergewerkschafti-che Themen und kritisierte den mangelnden Antirassismus bei der GEW Der GEW-Bezirksleitung paßte die Ausgabe vom Juni 1995 gar nicht, sie wollte sie einstampfen und strich die Gelder für die Druckkosten. Die Redaktion brachte die Ausgabe in Eigenregie heraus und entschloß sich dazu, sich der Zensur mit dem Gang ins Computernetz zu entziehen. Hinzu kamen Mitglieder des Westberliner Info, das 1990 zuletzt erschien. Am 18. Januar 1996 erschien trend erstmals im Netz.
Eine trend-Ausgabe besteht aus 70 bis 120 Dateien. Durch den unbegrenzten Speicherplatz könnten Beiträge nicht ohne weiteres abgewiesen werden wie bei Papierausgaben, denn das Argument »Tut uns leid, wir haben unsere 40 Seiten schon voll, vielleicht bringen wir den Artikel nächstes Mal«, ziehe hier nicht, es müsse eine inhaltliche Auseinandersetzung geführt werden, warum ein Artikel nicht erscheine, erläutert Schubert. Auch sonst ändert sich im Internet die Arbeitsorganisation für die Redaktion völlig. Es besteht die Möglichkeit von Querverweisen auf andere Web-Seiten, sowie auf Archive von älteren Zeitschriftenausgaben. Es können Flugblätter und andere Texte zur Verfügung gestellt werden, die nicht mehr im Alltagszugriff erhältlich seien. So sei bei trend ein vergriffener Text von Robert Kurz von einigen hundert Leuten auf die eigene Festplatte geladen worden. Zum Thema 40 Jahre KPD-Verbot veröffentlichte trend eine Serie. Damit könne wichtiges Wissen, das nicht untergehen dürfe, als gesellschaftlicher Gedächtnisspeicher erhalten bleiben, sagt Schubert.
Die Adresse von trend im Netz: http:/www.berlinet.de/Trend/