Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

Chronik der Wende

Mittwoch, der 8. November 1989

Am Vormittag beginnt das angekündigte ZK-Plenum der SED, von dem weitreichende Kaderveränderungen erwartet werden. Die offen zu Tage getretenen Widersprüche zwischen Parteiführung und Basis sind inzwischen auch Thema der Presse, während bisher an der Einheit dieses zentralen Machtfaktors im Lande nicht ge­zweifelt werden durfte.

Gegen Mittag verbreitet der Rundfunk dann die Meldung, daß das Politbüro - erstmals in seiner Geschichte - geschlossen zurückgetreten ist. Egon Krenz wird einstimmig zum Generalse­kretär wiedergewählt. In seiner anschließenden Rede versucht er, mit der Vergangenheit abzurechnen. Erstmals kritisiert er auch seinen politischen Ziehvater Erich Honecker: „Versuche einzel­ner Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, Alternativvorstel­lungen im Bereich der Ökonomie, in der Medienpolitik, in der Ju­gendpolitik, zu internationalen Aufgaben und zu anderen Fragen zur Diskussion zu stellen fanden keine Mehrheit, ja mehr noch, wurden verdächtigt, die Gesamtpolitik in Frage zu stellen." Und an anderer Stelle: „Es gab Anzeichen politischer Arroganz. Ent­scheidungen, die kollektive, besonnene Beratung erfordert hätten, entstanden aus spontaner, oftmals aus persönlicher Verärgerung. Der Blick für das Leben war verlorengegangen." Die Initiative zur Ablösung von Erich Honecker sei von ihm ausgegangen, berich­tet Krenz. Der ehemalige Generalsekretär habe aus den Debatten nach dem 7. Oktober keine Schlußfolgerungen gezogen. Darauf­hin sei auf einer Beratung des Sekretariats des ZK mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen am 12. Oktober die Vertrauensfra­ge gestellt worden. Am 17. Oktober hätte dann das Politbüro auf Vorschlag von Ministerpräsident Willi Stoph nach einer erneuten scharfen Auseinandersetzung den Beschluß gefaßt, Erich Honecker von der Funktion des Generalsekretärs zu entbinden so­wie die Genossen Joachim Herrmann und Günter Mittag abzube­rufen, was dann auch am 18. Oktober vom Zentralkomitee gebil­ligt worden sei.

Am Nachmittag versammeln sich in Berlin 50000 Mitglieder der SED-Parteibasis und rechnen in teilweise scharfen Worten mit der alten Führung ab. Immer deutlicher artikulieren sich Unmut über die Nachtrabpolitik und der Wille zu stärkeren Veränderun­gen.

Einer der Redner vor dem ZK-Gebäude bestätigt, daß Staats­und Parteichef Erich Honecker am 9. Oktober bereits den Befehl erteilt hatte, die Massendemonstration in Leipzig mit allen Mit­teln zu unterbinden. An diesem Tag hätte die DDR vor dem Bür­gerkrieg gestanden.

ZK-Sekretär Günter Schabowski informiert später die Presse darüber, daß bei der Neuwahl des Politbüros die bisherigen Mit­glieder Axen, Hager, Krolikowski, Mielke, Mückenberger, Neu­mann, Stoph, Sindermann und Tisch ausgeschieden seien. Drei Kandidaten, die sich dem ZK noch einmal zur Wahl gestellt hät­ten, wären durchgefallen. Hans Modrow sei ins Politbüro gewählt worden und auch dessen Kandidat für das Amt des Ministerprä­sidenten.

Das Innenministerium bestätigt am gleichen Tag die Anmel­dung des Neuen Forum und korrigiert damit seine frühere Ein­schätzung, daß für diese Vereinigung keine gesellschaftliche Not­wendigkeit bestehe.

Die IG Bau-Holz, eine der 16 Einzelgewerkschaften des FDGB, fordert Neuwahlen im kommenden Jahr und ein neues Wahlgesetz. Nach Ansicht von LDPD-Chef Gerlach sollte über ein neues Wahlgesetz per Volksentscheid abgestimmt werden. Sein Stellvertreter Hans-Dieter Raspe spricht sich im Parteiorgan „Der Morgen" für eine Streichung des in der Verfassung veran­kerten Führungsanspruchs der SED aus.

Am Abend verliest die Schriftstellerin Christa Wolf im Namen zahlreicher Künstler und Vertreter oppositioneller Gruppen im DDR-Fernsehen einen dramatischen Aufruf an alle Ausreisewil­ligen, ihre Entscheidung zu überdenken und im Lande zu bleiben: „Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nütz­liches Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisie­rung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unüber­sehbar ist: Jahrzehntealte Verkrustungen sind in Wochen aufge­brochen worden. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Land. Helfen Sie uns, eine wahrhaft demo­kratische Gesellschaft zu gestalten, die die Vision eines demo­kratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, daß er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hierbleiben wollen, Vertrauen."

Für ein Abebben der Ausreisewelle fehlen aber noch immer verbindliche Zusagen über freie Reisemöglichkeiten. Selbst die Angebote im Touristikprogramm, seit eh und jeh einseitig und un­zureichend, sollen sich noch verschlechtern. Das staatliche Rei­sebüro teilt mit. daß die Entwicklung im Auslandstourismus sta­gniere. Den rund 17 Millionen DDR-Bürgern könnten jährlich nur 1,1 Millionen Reisen angeboten werden und das bei immer schlechteren Bedingungen, wie Generaldirektor Horst Dannal mitteilt. Die Partner in der UdSSR, Bulgarien, Ungarn, Rumäni­en und der CSSR - wohin nahezu der gesamte Auslandstouris­mus geht - verlangten höhere Preise.

Am Abend wieder Demonstrationen im ganzen Land: In Neu­brandenburg sind 25 000 versammelt, in der Textilarbeiterstadl Limbach-Oberfrohna im Bezirk Karl-Marx-Stadt über 15 000 und in Frankfurt/Oder 2 500.

Quelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende,  Berlin 1994, S. 87-90

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