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Chronik der Wende Dienstag, der 7. November 1989 Den von der Regierung vorgelegten Entwurf des Reisegesetzes lehnt am Vormittag der Rechtsausschuß der Volkskammer als unzureichend ab. Er fordert zugleich die unverzügliche Einberufung des Parlaments zur Beratung über die Lage im Land. Er mißbilligt das Verhalten des Präsidiums der Volkskammer, das ungeachtet des Willens von mehr als dem dafür notwendigen Drittel der Abgeordneten die Sitzung verschleppt. Der Regierung bleibt nur noch der Rücktritt. Ihr gerade erst berufener Pressesprecher Wolfgang Meyer verliest einen letzten Appell an die Bevölkerung, „in dieser ernsten Situation alle Kraft dafür einzusetzen, daß alle für das Volk, die Gesellschaft und die Wirtschaft lebensnotwendigen Funktionen aufrecht erhalten werden". Bis zur Formierung eines neuen Kabinetts bleiben die Minister kommissarisch im Amt. Ihre letzte Entscheidung: Der Wehrkundeunterricht in den Schulen wird abgeschafft. Das Neue Forum fordert einen Reisepaß für jeden Bürger, generelles Ausreisevisum nach allen Staaten der Welt, das alle zwei bis drei Jahre erneuert wird. Weiterhin sprechen sie sich gegen eine Befristung der Reisedauer und willkürlich auslegbare Einschränkungen aus. Das Ausreisevisum sollte dazu berechtigen, jeden Tag die Grenze zu überschreiten, kurzfristig zu Ausstellungen, Veranstaltungen, Feiern und Besuchen fahren zu können -bislang eine utopische Vorstellung. Da noch immer nicht abzusehen ist, wie das Reiseproblem im Lande gelöst werden soll, hält der Ausreisestrom unvermindert an. In vielen Städten fehlt es bereits an Fachleuten, Ärzten und Mitarbeitern im städtischen Nahverkehr. Die Lücken in der Wirtschaft sollen jetzt durch Soldaten sowie Mitarbeiter des Sicherheitsapparates gestopft werden. Die Armee stellt 600 Fahrer für die Versorgung ab, gelernte Lokomotivführer, Fahrdienstleiter und Rangierer werden aus dem Wehrdienst zu zivilen Aufgaben im Verkehrswesen abbeordert. Auch das Ministerium für Staatssicherheit schickt 385 Mitarbeiter in die Wirtschaft. Zur Einberufung eines Sonderparteitages der SED noch in diesem Jahr rufen Mitarbeiter der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften auf. Ein entsprechender Beschluß soll auf der am gleichen Tag beginnenden 10. ZK-Tagung gefaßt werden. In einem offenen Brief fordern sie das Zentralkomitee auf, zu prüfen, welehe Politiker „ihre politische Verantwortung nicht wahrgenommen, ihre Macht und ihren Einfluß mißbraucht und sich dadurch diskreditiert haben". Jedes Politbüromitglied müsse persönlich Rechenschaft ablegen über seine Mitverantwortung. Die SED bleibe im Dialog unglaubwürdig, „wenn auf der obersten Führungsebene der Partei weiter Genossen agieren, die sich eindeutig opportunistisch verhalten haben und verhalten". Auch in den anderen, bisher mit der SED verbündeten Parteien brechen die Widersprüche auf. Die National-Demokratische Partei wählt nach zum Teil kontroverser Debatte Günter Hartmann zum neuen Vorsitzenden. Die Liberaldemokraten (LDPD), die den Umbruch teilweise mit befördert haben und daher zunächst ohne Führungswechsel auskommen, fordern einen Kassensturz und eine grundlegende Wirtschaftsreform. Am Nachmittag tagt erstmals die zeitweilige Untersuchungskommission der Berliner Stadtverordnetenversammlung zur Aufklärung der Übergriffe am 7. und 8. Oktober durch die „Schutz-und Sicherheitsorgane". Es kommt zu einer mehrstündigen Debatte über Verfahrensfragen, insbesondere über den Antrag von Marianne Birthler, Beauftragte der Kirchenleitung der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg, die Kommission mit einem zweiten, einem unabhängigen Untersuchungsausschuß zusammenzuschließen, der sich in der Vorwoche konstituiert hatte. Ihm gehören Ärzte, Psychologen, Schriftsteller, Juristen, Kirchenvertreter und Mitglieder verschiedener Basisgruppen an. Die Entscheidung wird zunächst vertagt. Einigen kann man sich auf die Schaffung eines Kontaktbüros im Roten Rathaus, wo betroffene Bürger Anzeige erstatten können. Quelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende, Berlin 1994, S. 83-87 |