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Chronik der Wende Montag, der 6. November 1989 In den Medien wird der Entwurf für ein neues Reisegesetz veröffentlicht. Er stößt einhellig auf Ablehnung. Die vorgesehenen langen Bearbeitungszeiten und das stets aufs neue zu beantragende Ausreisevisum verärgern die Leute. Auch die Formulierung: „Die Genehmigung einer Privatreise begründet keinen Anspruch auf den Erwerb von Reisezahlungsmitteln" löst Protest aus. Es wird eine unkomplizierte, real handhabbare Lösung gefordert. In Dresden wird die Entscheidung des Ministerrates bekanntgegeben, das geplante Reinstsiliziumwerk in Dresden-Gittersee nun doch nicht zu bauen. Wegen der befürchteten Negativ-Folgen für die Umwelt hatten Bürgerinitiativen das Projekt seit Monaten bekämpft. Am Abend erlebt die Stadt ihre bis dahin größte Demonstration. In den Zug von mehreren Hunderttausenden reihen sich auch SED-Bezirkschef Hans Modrow und Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer ein. Auch in Halle demonstrieren 60 000 Menschen. Vor der SED-Bezirksleitung fordern sie den Rücktritt von Bezirkschef Hans-Joachim Böhme, der auch dem Politbüro angehört. In Karl-Marx-Stadt stellt sich Oberbürgermeister Eberhard Langner zum dritten Mal in einer Woche den Einwohnern und erklärt unter dem Beifall der 50 000, daß er, ohne Weisungen „von oben" abzuwarten, Vertreter des Neuen Forum in die kommunalpolitischen Aufgaben einbezogen habe. Auch der SED-Bezirkschef, Politbüromitglied Siegfried Lorenz, ergreift das Wort und bekennt: „Der Aufbruch in der DDR ist den Kundgebungen zu danken." Bei der traditionellen Montagsdemonstration in Leipzig ist die Atmosphäre gespannter als bisher. Die „Internationale" wird nicht mehr gesungen, der amtierende Bürgermeister kommt kaum, der neue 1. SED-Bezirkschef überhaupt nicht mehr zu Wort. „Zu spät, zu spät", skandieren Hunderttausende. Transparente fordern „SED muß weg" und „SED - das tut weh". Der unzureichende Entwurf des Reisegesetzes und die Unfähigkeit der Führung, spürbare Veränderungen durchzusetzen, haben die Stimmung zum Kippen gebracht. „Wir brauchen keine Gesetze - die Mauer muß weg!" ruft die Menge, und ein Redner („Ich heiße Olaf Reiche und wohne Grimmaische Straße 19") sagt bitter: „Jetzt sollen wir reisen dürfen, mit dem Bettelsack auf dem Rücken." Er schließt unter dem riesigen Beifall mit der unmißverständlichen Forderung: „Das Reisegesetz muß weg!" Am späten Abend meldet ADN, daß in der Zeit vom Sonnabend früh bis Montagmittag insgesamt 23 200 DDR-Bürger über die offenen Grenzen derCSSR in die Bundesrepublik ausgereist sind. Quelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende, Berlin 1994, S. 83f |