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Chronik der Wende Sonnabend, der 4. November 1989 Schon seit dem frühen Morgen ist die gesamte Berliner Innenstadt mit Demonstranten gefüllt. Der Verkehr ruht vollständig. Schauspieler mit grün-gelben Schärpen und der Aufschrift „Keine Gewalf' wirken als Ordner und werden von allen wohlwollend akzeptiert. Mit der Volkspolizei wurde eine Sicherheitspartnerschaft verabredet. Uniformierte sind fast nirgends zu sehen, nicht einmal vor der Volkskammer und dem Staatsratsgebäude, wo fünf Stunden lang Hunderttausende vorbeiziehen, um Presse-und Versammlungsfreiheit zu fordern und radikale Reformen einzuklagen. Offizielle Schätzungen sprechen später von mehr als einer halben Million Menschen, der größten Demonstration in der Geschichte der DDR. Anfänglich ist alles sehr still, beinahe vorsichtig. Das Gerücht von eingeschleusten Provokateuren geht um, die den Vorwand für das gewaltsame Auflösen schaffen sollen. Doch mit der Zeit wird die Atmosphäre lockerer, tauchen immer originellere Transparente auf, werden die Rufe bissiger, die Gesänge lauter. Im DDR-Fernsehen, das ohne vorherige Ankündigung die Demonstration live überträgt, konstatiert der Kommentator: „Das Volk hat seine Sprachlosigkeit überwunden." Auf Transparenten, Spruchbändern und Plakaten steht erstmalig, was das Volk wirklich will und nicht, was die SED-Führung wie früher als Losungen beschlossen hat:
Zum Abschluß der Demonstration findet auf dem Alexanderplatz eine Kundgebung statt, zu deren Eröffnung der Schauspieler Ulrich Mühe ausspricht, was alle fühlen: „Es war einfach wunderbar." Noch nie hatte Berlin soviel gemeinschaftliche Entschlossenheit, spontanen Einfallsreichtum und bei aller Radikalität auch Besonnenheit erlebt. Genau von dieser Atmosphäre sind dann auch die Reden geprägt, bei denen offizielle SED-Vertreter Pfiffe ernten und Reformkräfte aller Gruppierungen jedoch viel Beifall finden. Stefan Heym meint: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation - der geistigen, der wirtschaftlichen, der politischen - nach all den Jahren der Dumpfheit und des Miefs, des Phrasengewäschs und bürokratischer Willkür." Christa Wolf verweist zugleich auf die Widersprüchlichkeit des begonnenen öffentlichen Dialoges: „Wir fürchten, benutzt zu weiden. Und wir fürchten, ein ehrlich gemeintes Angebot auszuschlagen. In diesem Zwiespalt befindet sich nun das ganze Land. Wir wissen, wir müssen die Kunst üben, den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen: Diese Wochen, diese Möglichkeiten werden uns nur einmal gegeben - durch uns selbst." Die Schauspielerin Steffi Spira zitiert aus dem Gedicht „Lob der Dialektik" von Bert Brecht: „So wie es ist, bleibt es nicht ... Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? ... Aus Niemals wird: Heute noch!" Christoph Hein warnt davor, die Euphorie dieser Tage mit den noch zu leistenden Veränderungen zu verwechseln. „Die Begeisterung und die Demonstrationen sind hillreich und erforderlich, aber sie ersetzen nicht die Arbeit. Lassen wir uns nicht von der eigenen Begeisterung täuschen! Wir haben es noch nicht geschafft: die Kuh ist noch nicht vom Eis ... Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft, auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklag bar ist, ... eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet." Nicht dabei ist Wolf Biermann, der 1976 ausgebürgerte Liedermacher. Obwohl von den Organisatoren zur Demonstration eingeladen, verweigern ihm die Grenzorgane am Bahnhof Friedrichstraße die Einreise. Auch wenn die schwierigste Phase der Umgestaltung noch bevorsteht, sind sich an diesem Tag alle darin einig: In den letzten vier Wochen hat sich in der DDR mehr verändert, als in vier Jahrzehnten zuvor. Der 4. November ist ein Markstein. Von nun an geht es nicht mehr zurück. Am gleichen Tag versammeln sich in Magdeburg 40 000 Bürgerauf dem Domplatz, um Politiker und Staatsfunktionäre zur gesellschaftlichen Erneuerung zu befragen. Mehrere tausend Demonstranten ziehen durch das Zentrum von Arnstadt und fordern die Zulassung des Neuen Forum. In Suhl protestieren 20 000 Bürger gegen die Errichtung einer neuen Mülldeponie. In Lauscha verlangen 3 500 Menschen die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die die Gründe für den Niedergang der Glaskunst aufdecken soll. Auch in Potsdam, Rostock, Plauen, Schwerin, Arnstadt, Altenburg und Dresden demonstrieren Zehntausende für Pressefreiheit, den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen. Die CDU-Fraktion fordert eine sofortige Tagung der Volkskammer. Angesichts der massiven Unmutsäußerungen in der Bevölkerung über das veröffentlichte Wahlergebnis vom 7. Mai 1989 gelte es, ein neues Wahlgesetz auszuarbeiten und erforderlicherweise vorgezogene Wahlen zu den örtlichen Vertretungen und Kreisen durchzuführen. Bei den Wahlen im Mai 1989 wurden offiziell 98,85 Ja-Stimmen gezählt. Oppositionelle Gruppen stellten jedoch vielerorts wesentlich mehr Nein-Stimmen fest. Die Wahlfälschungen waren ein auslösendes Moment für die Massenproteste und die Ausreisewelle. Am Abend erklärt Vize-Innenminister Dieter Winderlich in der „Aktuellen Kamera", daß Anträge auf ständige Ausreise nunmehr unbürokratisch entschieden werden. Bürger, die ausreisen wollten, sollten dies bei ihren zuständigen Polizeidienststellen beantragen und nicht den Weg über die CSSR nehmen. Seit den frühen Morgenstunden ist die Grenze zwischen der CSSR und der BRD für ausreisewillige DDR-Bürger offen. Damit soll eine erneute Besetzung der Bonner Botschaft in Prag vermieden werden. Für die Ausreise genügt der Personalausweis, während bisher besondere Visa oder eine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft notwendig waren. Mit dem Verfahren wird das „ungarische Modell" übernommen: Schon am 11. September hatte die Budapester Regierung die Grenze für DDR-Bürger aufgemacht. Wie die österreichischen Behörden mitteilten, sind inzwischen mehr als 50 000 DDR-Bürger auf diesem Weg in die Bundesrepublik ausgereist. Quelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende, Berlin 1994, S. 77-81 |