Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

Chronik der Wende

Freitag, der 3. November 1989

Nach harscher Kritik tritt Leipzigs Oberbürgermeister, Dr. Bernd Seidel, zurück. Er hatte sich lange Zeit einem ernsthaften Dialog mit den Bürgern verweigert.

Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst, Herbert Bi­schoff, stellt sein Amt zur Verfügung, nachdem ihm die Basis „Ver­letzung innergewerkschaftlicher Demokratie" und die „Mißach­tung gewerkschaftlicher Interessenvertretung" vorgeworfen hatte.

Die Tageszeitungen enthalten noch mehr Überraschungen. Das „Neue Deutschland" entschuldigt sich bei den Lesern für einen Be­richt vom 21. September 1989, in dem ein Koch der Schlafwa­gengesellschaft MITROPA angegeben hatte, er sei in Budapest mit einer Menthol-Zigarette betäubt und über Österreich in die BRD verschleppt worden. Damit sollte offensichtlich der Eindruck er­weckt werden, DDR-Bürger würden nicht aus Enttäuschung und Verärgerung das Land verlassen, sondern von Schlepperbanden re­gelrecht entführt werden. Recherchen hatten inzwischen ergeben, daß die dargestellte Geschichte so niemals stattgefunden hatte.

Einige Ärgernisse, die jahrelang tabuisiert waren, kommen nun öffentlich zur Sprache. Postminister Rudolph Schulze gesteht ein, daß es noch Jahre dauern wird, die rund eine Million laufenden Anträge auf den Anschluß eines Telefons realisieren zu können. Jährlich erhalte er 100 000 Eingaben zu diesem Thema. Er ver­anschlagt die Investitionen zur Erfüllung der Telefongesuche auf rund neun Milliarden Mark.

Die Zeitungen in Dresden veröffentlichen an diesem Tag erst­mals die Umweltdaten für die Region. Das Sekretariat der SED-Bezirksleitung unter Leitung von Hans Modrow legt ein Positions­papier vor, das deutliche Reformansätze erkennen läßt. Darin heißt es:

Weder von Sondervorrechten noch von Privilegien, sondern nur von der eigenen Leistung darf abhängen, was sich der ein­zelne leisten kann. Wir fordern in diesem Zusammenhang einen anderen Umgang mit dem Geld. Es steht für unsere Arbeit und muß Wert haben, wenn wir etwas kaufen ... Wir wollen einen Sozialismus neuer Qualität, der sich an den Bedürfnissen der Menschen, an tiefer Menschlichkeit, wahrer sozialistischer De­mokratie und dem Erhalt der Umwelt orientiert. Es hat sich viel angehäuft, was unser Leben belastet und grundlegend verändert werden muß. Dazu braucht unser Land eine neue Führung, die die tiefgreifende Erneuerung des Sozialismus will und auch zielstre­big leiten kann."

Für Eingeweihte unmißverständlich wird hier gegen den Kurs von Egon Krenz Position bezogen. Alle zentra­len Medien übergehen das Dresdener Papier geflissentlich.

Der Philosophiekongreß endet nach dreitägiger Aussprache, ohne substanzielle Ergebnisse gebracht zu haben. Es sei der letz­te im alten Stil gewesen, beteuert Prof. Dr. Manfred Buhr von der Akademie der Wissenschaften. Die jungen Teilnehmer sind un­zufrieden mit dem Verlauf und berufen für Anfang Dezember ei­nen alternativen Kongreß ein. Soziologen geben auf dem Kongreß Ergebnisse von aktuellen Befragungen in einem Kombinat be­kannt, die bislang nicht veröffentlicht werden durften. Es ging darum, ob sich die Arbeiter an den Entscheidungsprozeßen im Lande beteiligt fühlen, gegliedert nach den gesellschaftlichen Be­reichen. Während sich auf der Ebene der direkten Arbeitskollek­tive 38,8 % der Befragten kaum vertreten fühlten, waren es auf Betriebsebene 82, im Territorium 84,5, und in der Gesellschaft sa­hen sich 90,1 % kaum beteiligt.

Am Abend wendet sich Staats- und Parteichef Egon Krenz überraschend mit einer von Fernsehen und Rundfunk übertra­genen Erklärung an alle Bürger. Es sind nur noch wenige Stun­den bis zur angekündigten Großdemonstration in Berlin, die seit Wochen von Theaterleuten und Künstlern vorbereitet wird und erstmals auch offiziell genehmigt wurde. Es werden Hunderttau­sende erwartet, und der Druck auf die Führung nimmt spürbar zu. Um den Protesten die Spitze zu nehmen, kündigt Krenz weitrei­chende Reformen und den Rücktritt führender Politiker an. In Aussicht gestellt werden die Abdankung der SED-Politbüromit­glieder Herrmann Axen (ZK-Sekretär für Außenpolitik), Kurt Ha­ger (ZK-Sekretär für Ideologie), Erich Mielke (Minister für Staatssicherheit), Erich Mückenberger (Chef der Parteikontroll­kommission) und Alfred Neumann (Vizepremier). Das von Krenz angekündigte Programm umfaßt die Einrichtung eines Verfas­sungsgerichtshofes, die Reformierung des politischen Systems, Verwaltungsreformen, die Einführung eines zivilen Wehrersatz­dienstes, zeitliche Begrenzung bei Wahlfunktionen, eine tiefgrei­fende Wirtschaftsreform, Demokratisierung der Kaderpolitik und umfangreiche Änderungen in der Bildungspolitik.

uelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende,  Berlin 1994, S. 75-77

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