Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

Chronik der Wende


Donnerstag, der 2. November 1989

 

Das ist der Tag der Rücktritte.

 

FDGB-Vorsitzender Harry Tisch vollzieht, was die Gewerk­schaftsbasis seit längerem fordert und er selbst schon angkündigt hatte. Nachfolgerin wird die 55jährige Annelis Kimmel. Sie hat einen Karriereweg hinter sich, wie er für viele Funktionäre typisch ist. Erlernen eines Berufes bzw. Studium einer Fachrichtung, in der man nie richtig arbeitet. In diesem Fall Maschinenbau. Gleich nach Abschluß der Ausbildung Übernahme einer Parteifunktion, dann später Delegierung zur Parteihochschule, wo der Grad des Diplom-Gesellschaftswissenschaftlers erlangt wird. Ab 1979 ist Annelis Kimmel Vorsitzende des Berliner Bezirksvorstandes des FDGB, Mitglied des FDGB-Präsidiums und der Bezirksleitung der SED in Berlin. 1981 erfolgte die Wahl in die Volkskammer, aber nicht als Abgeordnete der SED, sondern als Angehörige der FDGB-Fraktion.

 

Auch der dienstälteste SED-Bezirkssekretär, Hans Albrecht in Suhl, tritt zurück, nach dem Korruptionsvorwürfe immer lauter wurden.

 

Ihm gleich tut es Amtskollege Herbert Ziegenhahn in Gera. Konsequenzen aus früheren Verstrickungen ziehen zwei Spitzen­politiker der Blockparteien: Die Vorsitzenden der NDPD, Hein­rich Homann, und der CDU, Gerald Gotting, nehmen ihren Ab­schied. Gefordert werden auch der Rücktritt der Regierung Stoph und des Volkskammerpräsidiums. Dafür machen sich besonders die Liberal-Demokraten stark, die ihren Vorsitzenden Manfred Gerlach zum Parlamentspräsidenten vorschlagen.

 

Die Regierung behandelt auf ihrer wöchentlichen Sitzung die „kritische Lage im Lande", kündigt ein Reise- und Mediengesetz an und teilt mit, daß Bildungsministerin Margot Honecker bereits am 20. Oktober ihren Rücktritt eingereicht hat.

 

Generalleutnant Willy Nyffenegger, Polizeichef des Bezirkes Dresden, erklärt gegenüber der „Sächsischen Zeitung", daß die Volkspolizei aus den gewaltsamen Zusammenstößen der Ver­gangenheit gelernt habe und sich künftig für politische Lösungen, für einen fruchtbaren Dialog einsetzen werde. Sie werde daher Kundgebungen und öffentliche Aussprachen auf dem Theater­platz durch Bereitstellung von Tontechnik unterstützen.

 

Veränderungen im Sicherheitsapparat fordert Ex-Spionagechef Markus Wolf, der sich für eine öffentliche Kontrolle der entspre­chenden Behörden durch gewählte Volksvertreter ausspricht.

 

Dialogorientiert präsentieren sich die Vertreter der Reform­gruppen. Ludwig Mehlhorn von der Bewegung Demokratie Jetzt! erklärt in einem Interview mit der West-Berliner „tageszeitung": „Ich kann mir den Reformprozeß in der DDR schwer vorstellen in der Konfrontation mit der SED." Und auf die Frage nach dem Führungsanspruch der Partei: „Eine Demokratie kann auf Dauer nicht leben, wenn irgendeine Partei das Machtmonopol besitzt und dies auch noch in der Verfassung festgeschrieben ist. Der Führungsanspruch verschwindet nicht durch Deklaration. Es wird eines längeren, evolutionären Prozesses bedürfen, in dem wir uns alle verändern - auch die Partei. In diesem Prozeß müßte der SED die Chance gegeben werden, sich innerparteilich hin zu mehr De­mokratie zu wandeln. Da bin ich gar nicht so pessimistisch, daß das nicht geschehen wird."

 

In der gleichen Ausgabe nimmt auch der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), Ibrahim Böhme, Stellung. Zum Verhältnis zur SED sagt er: „Wir müssen aber er­kennen, daß wir an den über zwei Millionen Parteimitgliedern -allerdings werden es demnächst wesentlich weniger sein - nicht vorbeikommen und daß in der mittleren Ebene die meisten sach­kompetenten Leute zu finden sind, die zum überwiegenden Teil der SED angehören. Ich glaube, daß wir uns die Option mit einer Reform-SED schon auch deshalb offenhalten müssen, weil keine oppositionelle Gruppe und auch alle Gruppen zusammen nicht über eine abgeschlossene, den Perspektiven dieses Landes ent­sprechende Programmatik verfügt." (Auch seine Parteifreunde wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, daß er - genau wie Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch - zugleich Mitarbeiter der Staatssicherheit ist.)
Pragmatik deutet sich in der Wirtschaftspolitik der Regierung an. In Berlin kommt es zu Gesprächen mit EG-Kommissar Mar­tin Bangemann, bei denen die Bereitschaft der DDR zum Ab­schluß eines Handelsabkommens mit der EG signalisiert wird. Vor der Presse erklärt Bangemann, es habe Übereinstimmung ge­herrscht, daß man schnell von den klassischen Handelsbeziehun­gen auf staatlicher Ebene zu direkter Zusammenarbeit zwischen den Betrieben und der Gründung gemeinsamer Unternehmen kommen müsse.

 

Am Abend gibt es wieder Demonstrationen im ganzen Land. In Erfurt gehen 30 000 Menschen für radikale Reformen auf die Straße, 15 000 in Guben. jeweils 10 000 sind es in Gera und Halle.

 

Quelle: Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende,  Berlin 1994, S. 72-74

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