Erklärung Erich Honeckers
zu seinem Rücktritt auf der 9. SED-ZK-Tagung:
(...)
Nach reiflichem Überlegen und im Ergebnis der gestrigen Beratung
im Politbüro bin ich zu folgendem Entschluss gekommen:
Infolge meiner Erkrankung
und nach überstandener Operation erlaubt mir mein Gesundheitszustand
nicht mehr den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschicke unserer
Partei und des Volkes heute und künftig verlangen. Deshalb bitte ich das
Zentralkomitee, mich von der Funktion des Generalsekretärs des ZK der
SED, vom Amt des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und von der
Funktion des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zu
entbinden. Dem Zentralkomitee und der Volkskammer sollte Genosse Egon
Krenz vorgeschlagen werden, der fähig und entschlossen ist, der
Verantwortung und dem Ausmaß der Arbeit so zu entsprechen, wie es die
Lage, die Interessen der Partei und des Volkes und die alle Bereiche der
Gesellschaft umfassenden Vorbereitungen des XII. Parteitages(*)
erfordern.
Liebe Genossen!
Mein ganzes bewusstes
Leben habe ich in unverrückbarer Treue zur revolutionären Sache der
Arbeiterklasse und zu marxistisch-leninistischen Weltanschauung der
Errichtung des Sozialismus auf deutschem Boden gewidmet. Die Gründung
und die erfolgreiche Entwicklung der sozialistischen Deutschen
Demokratischen Republik, deren Bilanz wir am 40. Jahrestag gemeinsam
gezogen haben, betrachte ich als die Krönung des Kampfes unserer Partei
und meines eigenen Wirkens als Kommunist.
Dem Politbüro, dem
Zentralkomitee, meinen Kampfgefährten in der schweren Zeit des
antifaschistischen Widerstandes, den Mitgliedern der Partei und allen
Bürgern unseres Landes danke ich für jahrzehntelanges gemeinschaftliches
und fruchtbares Handeln zum Wohle des Volkes.
Meiner Partei werde ich
auch in Zukunft mit meinen Erfahrungen und mit meinem Rat zur Verfügung
stehen.
Ich wünsche unserer Partei
und ihrer Führung auch weiterhin die Festigung ihrer Einheit und
Geschlossenheit und dem Zentralkomitee weiteren Erfolg.
(ND, 19. 10. 1989)
*) Der
XII. Parteitag war auf der 7. Tagung des ZK der SED für den 15.-19. Mai
1990 beschlossen worden. Auf ihrem Sonderparteitag am 8./9. und
16./17. Dezember 1989 hörte die SED formal auf zu existieren. Aus
ihr ging die PDS hervor, die sich mit der WASG 2007 zur Partei "DIE
LINKE" zusammenschloss.
Egon Krenz:
Rede zur Wahl des Generalsekretär des Zentralkomitees der SED
Liebe Genossinnen und
Genossen!
(...) Ich
danke dem Zentralkomitee für sein Vertrauen. Mir ist das Gewicht der
Verantwortung bewusst, der ich mich stelle. In Eurem Auftrage, im
Interesse unserer Partei und unseres Volkes bin ich bereit, diese
Pflicht zu übernehmen. Wenn man mich fragt, was mich in dieser Stunde
bewegt, dann gibt es nur eine Antwort: Das ist der Gedanke an viel
gemeinsame Arbeit. Miteinander zu reden und zu streiten ist wichtig.
Sich gegenseitig zu verständigen ist notwendig. Miteinander zu arbeiten,
unsere Perspektive zu planen und mit Vernunft zu regieren aber bleibt
das Entscheidende. Nur so werden wir die hohen Erwartungen unserer
Parteimitglieder, aller Bürger unseres Landes an den XII. Parteitag, an
die Gestaltung unserer Zukunft erfüllen.(...)
Mit der heutigen Tagung
des Zentralkomitees weisen wir aus, dass wir ohne Zaudern auf dem Weg
fortschreiten, der mit der Erklärung des Politbüros vom 11. Oktober
eingeschlagen worden ist. Das unterstreicht:
Diese Erklärung ist kein Papier der Taktik. Eine Partei wie
unsere hat keine anderen Interessen als das Volk. Wenn es um dessen
Geschicke geht, zählt vor allem der Mut zur Wahrheit, zählen
Überzeugungskraft und Standhaftigkeit. Dazu bekennen wir uns mit dieser
Tagung des Zentralkomitees erneut. Unser Gesicht ist dem Volke
zugewandt.
Zur Wahrheit, zu der wir
stehen, gehört auch, dass wir unbeirrt dem Gesetz der Geschichte folgen,
dass der Sozialismus die einzige humanistische Alternative zum
Kapitalismus ist. Unser historischer Optimismus resultiert aus dem
Wissen von der Unabwendbarkeit des Sieges des Sozialismus, den Marx,
Engels und Lenin begründet haben. (...)
Fest steht, wir haben in
den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem
Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig
die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Mit der heutigen Tagung werden
wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und
ideologische Offensive wieder erlangen. In der Kollektivität der Führung
unserer Partei auf allen Ebenen liegt eine entscheidende Quelle unserer
Kraft. (...)
Unsere
marxistisch-leninistische Partei ist ein großer erfahrener Kampfbund.
Sie hat immer an der Spitze der sozialistischen Revolution in unserem
Lande gestanden und alle gesellschaftlichen Umwälzungen geführt. So wird
es auch diesmal sein. Die kollektive Kraft unserer Partei beruht auf der
politischen Erfahrung und auf der Lebenskenntnis der über 2,3 Millionen
Kommunisten. Klar geführt durch das Zentralkomitee, stehen sie
unerschütterlich zu den Errungenschaften, Werten und Idealen des
Sozialismus.
Schulter an Schulter haben
wir viele Prüfungen bestanden. Gemeinsam haben wir historische Siege
erfochten und aus Niederlagen gelernt. Das Wichtigste war immer unser
einheitliches und geschlossenes Handeln, der Verlass aufeinander, die
Übereinstimmung von Wort und Tat. Die Geschichte der DDR bezeugt die
mobilisierende gesellschaftliche Kraft unserer Partei.
(...)
Wie die Deutsche
Demokratische Republik die Heimat aller ihrer Bürger ist - unabhängig
von ihrer sozialen Stellung, ihrer Weltanschauung oder Religion -, so
ist es das Recht und sollte es als Pflicht von allen empfunden werden,
ihre Gedanken in die Politik ihres Staates einzubringen. So wie es die
Verfassung unserer Republik vorsieht. Das Bündnis der in der Nationalen
Front vereinten demokratischen Kräfte unseres Landes bleibt eine
tragende Säule unserer sozialistischen Gesellschaft.
Als Partei der
Arbeiterklasse wenden wir uns an die Arbeiterinnen und Arbeiter unseres
Landes, an die führende Klasse unserer Gesellschaft, sich mit uns den
Aufgaben der weiteren Stärkung des Sozialismus zu stellen. Von ihrem
Fleiß, Einsatzwillen und politischen hängt viel für das Wohl und Wehe
unserer Deutschen Demokratischen Republik ab.(...)
Die Probleme, die sie
angesprochen haben - die Diskontinuität in der Produktion, die
ungenügende Durchsetzung des Leistungsprinzips, die ungerechtfertigten
Disproportionen zwischen Produktion und Warenangebot, die schleppende
Verwertung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse für die Produktion,
die unzureichende Exporteffektivität und anderes mehr - stehen auf der
Tagesordnung der von uns zu lösenden Aufgaben. (...).
Niemand darf zulassen, dass die besten Eigenschaften der Arbeiterklasse,
ihr Qualitätsbewusstsein, ihr Fleiß, ihre politische Standhaftigkeit und
ihr Veränderungswille unzureichend genutzt werden.
Wir wenden uns an alle
Genossenschaftsbäuerinnen und -bauern, die fest in ihren
Genossenschaften verwurzelt sind, an die Land- und Forstarbeiter. Unter
nicht leichten Witterungsbedingungen sorgten sie in den vergangenen
Jahren für das Brot des Volkes. Wir setzen auch in diesem Jahr und
künftig auf ihre Fähigkeit, bäuerliche Erfahrung und wissenschaftliche
Erkenntnis auf den Feldern und im Stall für eine weiter steigende
Produktion zu nutzen.
Wir wenden uns an die
hochgebildete und politisch engagierte Intelligenz unseres Landes, an
die Wissenschaftler, die Schriftsteller, Künstler und alle
Kulturschaffenden, an die Ingenieure, Pädagogen und Mediziner. Ihre
Erfahrung und ihr Rat, mit dem sie das Antlitz unseres Landes
unverwechselbar mitgestaltet haben, ist mehr denn je gefragt. Wir gehen
davon aus, dass sich die Angehörigen der Intelligenz auch künftig als
leistungsbewusste, kreative und verlässliche Partner unserer Partei und
der ganzen Gesellschaft erweisen werden. Wenn es um einen attraktiven
Sozialismus geht, darf es keine Begrenzung für Forscherdrang und
Schöpfertum geben.
Wir wenden uns an die
Frauen unseres Landes, die in Familie, Beruf und gesellschaftlichem
Leben unentbehrliche Stützen unserer Gesellschaft sind. Ohne sie und
ihre Leistungen ist unsere Gesellschaft nur die Hälfte wert. Sie braucht
ihre Talente und Fähigkeiten, ihren bewundernswerten Einsatz für das
Glück ihrer Familien und unseres Volkes.
Wir wenden uns an alle
Handwerker und Gewerbetreibenden. Sie leisten einen großen Beitrag für
unsere Gesellschaft und haben im Sozialismus eine gesicherte
Perspektive.
(...)
Wir wenden uns an die
Jugend. Ihre aktive Mitgestaltung der Gesellschaft ist charakteristisch
für unsere Republik. Wir wollen der jungen Generation zur Seite stehen,
damit sie den Sinn ihres Lebens bewusst in unserer Gesellschaft
verwirklichen kann. Die Jugend will und soll mitbestimmen bei allen
Entscheidungen, die ihr Leben betreffen. Sie muss sich noch stärker
selbst verwirklichen können. Sie braucht unser Vertrauen und das
Erlebnis, Verantwortung zu tragen. Sie braucht eine größere Hinwendung
der ganzen Gesellschaft, der Eltern, der Schule, der Freien Deutschen
Jugend und der Pionierorganisation "Ernst Thälmann". Jede moralische,
geistige und pädagogische Investition in die Jugend ist eine Investition
in die Zukunft des Sozialismus.
Wir wenden uns an unsere
Soldaten, an alle Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane. Unser
Volk weiß, was es ihrem Einsatz zu danken hat, damit jeder täglich
seiner friedlichen Arbeit nachgehen kann. Die sicher geschützte
Arbeiter-und-Bauern-Macht bleibt die erste Voraussetzung für alles, was
sich unsere Gesellschaft in gemeinsamer Arbeit für eine gute gemeinsame
Zukunft vorgenommen hat.
Wir wenden uns an die
Kampfschar der Veteranen des antifaschistischen Widerstandes und der
Aktivisten der ersten Stunde. Sie haben den Grundstein gelegt für den
sozialistischen deutschen Staat. Ihre Erfahrungen aus dem Klassenkampf,
ihre Standhaftigkeit in kompliziertesten Lebenssituationen, ihre
unerschütterliche Überzeugung von der schöpferischen Kraft der
Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, ihr beispielhaft gelebtes Leben
bleiben unverzichtbar für unser weiteres Vorwärtsschreiten.
(...)
Wir wenden uns an die
Vertreter der Kirchen, an alle religionsgebundenen Bürgerinnen und
Bürger unseres Landes. Die sozialistische Gesellschaft braucht und will
ihre Mitarbeit. Uns verbindet mehr, als uns trennt. Das wollen wir
deutlicher aussprechen und für das Wohl unseres Staates, in dem wir alle
leben, in gegenseitiger Achtung noch mehr nutzen und ausbauen.
Wir wenden uns an alle,
mitzuarbeiten, mitzuplanen und mitzuregieren. Lasst uns gemeinsam
anpacken, was wir anzupacken haben. Das fünfte Jahrzehnt der Deutschen
Demokratischen Republik hat begonnen. Jeder, der seinen Beitrag für die
Stärkung und Verteidigung unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht geleistet
hat, kann guten Gewissens stolz darauf sein. Unsere strategische
Orientierung für die ausgewogene Einheit von Wirtschafts- und
Sozialpolitik bleibt gültig. Es gibt keinen Grund, Erreichtes
geringzuschätzen und in Frage zu stellen, nur weil noch nicht Erreichtes
neue Fragen aufwirft. (...)
Unser Programm ist die
Ausgestaltung der sozialistischen Gesellschaft, ihre fortwährende
Erneuerung. Da gibt es keinen Stillstand, darf es keinen geben.(...)
Jeder hat in den letzten
Monaten gespürt: Wir erleben die Verschärfung von Widersprüchen bei der
Verwirklichung des Programms unserer Partei und der Beschlüsse unseres
XI. Parteitages. Die Probleme in der Volkswirtschaft, im Binnenhandel
und auf den Außenmärkten haben zugenommen. Es häuften sich ungelöste
Fragen bei der bedarfs- und qualitätsgerechten Versorgung der
Bevölkerung. Ungereimtheiten bei der Durchsetzung des Leistungsprinzips
nahmen zu. Lohnpolitik, Subventionen und soziale Leistungen werden
lebhaft diskutiert. Sorgen macht uns die Erhaltung der natürlichen
Umwelt.
Wo angestrebte Ideale
schon als Errungenes angesehen werden und über den unbestreitbaren
Erfolgen die Widersprüche des Lebens aus dem Blick geraten, da werden
allerdings Initiativen gebremst. Wenn die Bürger unseres Landes als
sachkundige und aufgeschlossene Partner von Partei und Staat wirken,
wird selbst eine bittere Wahrheit zum gemeinsamen Handeln im gemeinsamen
Interesse motivieren. Im übrigen:
Bescheidenheit steht uns
weitaus besser zu Gesicht als überzogene Selbstdarstellung. Genossinnen
und Genossen aus den Bezirks- und Kreisparteiorganisationen, vor allem
auch aus Grundorganisationen unserer Partei in den Betrieben, verweisen
seit längerem mit Nachdruck auf die Einhaltung unseres Statuts. Es
verpflichtet bekanntlich jedes Parteimitglied, unabhängig von
Verdiensten und Funktion, "gegen Subjektivismus, Missachtung des
Kollektivs, Egoismus und Schönfärberei aufzutreten und gegen die
Neigung, sich an Erfolgen zu berauschen gegen jeden Versuch anzukämpfen,
die Kritik zu unterdrücken und sie durch Beschönigung und Lobhudelei zu
ersetzen, sowie die Kritik und Selbstkritik von unten in jeder, Weise zu
fördern".
Wir können nicht
übersehen, dass die traditionelle Stärke unserer Partei, ihr
Vertrauensverhältnis mit dem Volk, beeinträchtigt ist. Daraus ziehen wir
selbstkritische Schlussfolgerungen für unsere Arbeit. Wir übersehen
gleichzeitig nicht, dass die Gegner des Sozialismus - die äußeren wie
die inneren - verstärkt versuchen, daraus Vorteile für sich zu ziehen.
Sie wittern Morgenluft und setzen darauf - ohne das Risiko offener -,
die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurück zu "reformieren".
Mehr als hunderttausend
darunter nicht wenig junge Leute - sind aus unserem Land weggegangen.
Das ist ein weiteres Symptom für die entstandene komplizierte Lage.
Ihren Weggang empfinden wir als großen Aderlass. Jeder von uns kann die
Tränen vieler Mütter und Väter nachempfinden. Wir haben manchen
menschlichen, wir haben politischen und ökonomischen Verlust erlitten.
Diese Wunde wird noch lange schmerzen. Nicht wenige Äußerungen von
Ausgereisten vor der Kamera westlicher Fernsehstationen haben aber auch
die Würde und den Stolz ihrer Eltern, Freunde und Kollegen und vieler
von uns verletzt. Das entbindet jedoch niemand von der Pflicht, bei sich
und in seiner Umgebung darüber nachzudenken, warum uns so viele Menschen
den Rücken gekehrt haben. Nur wenn wir uns rückhaltlos den Ursachen, die
in unserer Gesellschaft entstanden sind, zuwenden, werden wir denen, die
sich auch jetzt noch mit dem Gedanken der Ausreise tragen,
möglicherweise einen Anstoß geben, ihren Entschluss zu überdenken. Wir
brauchen sie. An dieser Stelle aber ist vor allem ein Wort des Dankes an
jene Bürgerinnen und Bürger zu sagen, die ohne Zögern im Interesse der
Menschen zusätzliche Belastungen auf sich genommen haben, die aus dieser
Lage entstanden sind.
Mit der Erklärung des
Politbüros vom 11. Oktober wurde im Sinne unserer Politik von
Kontinuität und Erneuerung die Tür breit geöffnet für den ernstgemeinten
Dialog. Wie sich zeigt, gewinnt die öffentliche Debatte auf der Suche
nach den besten Losungen für die weitere Ausgestaltung des Sozialismus
in der DDR schnell an Substanz. Das wird niemanden verwundern, der im
Gespräch mit den Bürgern - ob an ihrem Arbeitsplatz, im Freundeskreis,
im Urlaub, bei vielen Gelegenheiten - immer wieder ein stark
entwickeltes staatsbürgerliches Bewusstsein, großen Sachverstand,
politisches Interesse und politische Urteilsfähigkeit feststellen
konnte. Darauf setzen wir.
Die sozialistische
Gesellschaft braucht die Debatte, weil sie eine aufgeklärte Gesellschaft
ist. Sie braucht den wissenden, gut informierten Bürger, der aus eigenem
freiem Willen für sein Gemeinwesen handelt. Sie braucht den Bürger, der
in Entscheidungen, die ihn und sein Land betreffen, einbezogen sein
will. Sie braucht den selbstbewussten und kritischen, den mündigen
Bürger. Wir lassen uns von der festen Überzeugung leiten, dass alle
Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind.
Unsere Gesellschaft
verfügt über genügend demokratische Foren, in denen sich die
unterschiedlichsten Interessen der verschiedenen Schichten der
Bevölkerung für einen lebenswerteren Sozialismus äußern können. Die
breite Entfaltung der sozialistischen Demokratie in der DDR sollte
jedoch von niemandem als Freibrief für verantwortungsloses Handeln
missverstanden oder gar für Gewalt- und Zerstörungsakte missbraucht
werden. Auf solche Handlungen kann es nur eine Antwort geben: Sicherung
von Ruhe und Ordnung, der friedlichen Arbeit der Bürger, der Schutz der
Werte, die wir alle geschaffen und für die wir alle zu bezahlen haben.
Wer sich gegen die Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung wendet,
der muss sich indes fragen lassen, ob er ein anderes gesellschaftliches
System als die übergroße Mehrheit unseres Volkes will? Für uns ist klar:
Der Sozialismus auf deutschem Boden steht nicht zur Disposition!
Für den Dialog, den wir
mit aller Entschiedenheit erstreben, sind also zwei Voraussetzungen
hervorzuheben:
Erstens: Alles, worüber
wir uns einig sind und worüber wir uns streiten, muss eindeutig in
seinem Ziel sein: den Sozialismus in der DDR weiter auszubauen, die
sozialistischen Ideale hochzuhalten und keine unserer gemeinsamen
Errungenschaften preiszugeben. Wer das in Zweifel zieht, stellt das
Lebenswerk von Generationen in Frage.
Zweitens : Unsere
sozialistische deutsche Republik ist und bleibt ein souveränes Land. Wir
lösen unsere Probleme selbst. Ich gebe hier den in vielen Gesprächen der
letzten Tage und Wochen geäußerten Forderungen und Protesten von
DDR-Bürgern Ausdruck, wenn ich Bonn und die von dort gelenkten Medien
auffordere, sich nicht länger massiv in die inneren Angelegenheiten der
DDR einzumischen. Das betrifft auch den absurden Versuch, unserer Partei
vorzuschreiben, wie sie den Dialog zu führen hat. Was in der DDR zu tun
und zu lassen ist, welche Reformen wir durchführen, wird einzig und
allein in der DDR entschieden. Das war so, das ist so, und das wird auch
so bleiben. Uns ist bewusst, dass der Gegner nicht nachlassen wird, uns
am Zeuge zu flicken. Das ficht uns nicht an. Nicht er, sondern die
Menschen mit ihren Sorgen und ihrer Bereitschaft zur Mitarbeit sind der
Maßstab für unsere Arbeit.(...)
Wir sind im Sinne des
Grundlagenvertrages weiterhin für gedeihliche Nachbarschaft und
gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit. Die mehr als 30 Verträge und
Abkommen zwischen beiden Staaten bleiben auch für die Zukunft von
Gewicht. Zusammenarbeit schließt ein, immer davon auszugehen, dass es
bei der Verwirklichung des Grundlagenvertrages stets um die Interessen
beider Vertragspartner und ihrer Bürger geht. Auf dieser Basis sind wir
bereit, Handel und Wandel zwischen beiden deutschen Staaten zu festigen
und möglichst auszubauen - wohl wissend, was von stabilen Beziehungen
zwischen beiden deutschen Staaten für die europäische Sicherheit
abhängt. Daraus resultierte die Einschätzung unseres Politbüros in
seiner Erklärung vom 11. Oktober, dass die aggressive,
völkerrechtswidrige Einmischung von Politikern und Medien der BRD in die
inneren Angelegenheiten der DDR als in höchstem Maße friedensstörend
empfunden werden muss. Ein deutscher Staat, der die staatliche Ordnung
des anderen deutschen Staates zu untergraben versucht, gefährdet die
Sicherheit Europas und unterläuft die Idee vom gemeinsamen europäischen
Haus.
Wir bekennen uns zu
unserer Friedenspflicht. Deshalb verfolgen wir weiterhin die Politik des
Dialogs, damit sich Vernunft und Realismus durchsetzen können. Zur
friedlichen Koexistenz, zu Abrüstung, Entspannung und zwischen Ost und
West sehen wir keine vernünftige Alternative. Mit dem Ziel, die
gemeinsame Verantwortung beider deutscher Staaten für ein friedliches,
geregeltes und gleichberechtigtes unterschiedlicher
Gesellschaftsordnungen zu vertiefen, sind wir bereit, Wege und
Möglichkeiten zu prüfen, um langfristig die Beziehungen zwischen der DDR
und der BRD enger und vertraglich geregelt zu gestalten sowie
kooperative und ständige Formen der wirtschaftlichen, ökologischen,
politischen, kulturellen, humanitären und touristischen Zusammenarbeit
zu entwickeln.
Wenn die Regierung der
Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag dazu leisten will, sollte sie
die volle Respektierung der Staatsbürgerschaft der DDR auf der Basis
unzweideutiger völkerrechtlicher Regelungen und Gesetzgebungen
gewährleisten, den Verzicht auf jede Form einer staatlichen Einvernahme
der Bürger unseres Staates erklären, ferner die Entwicklung von
Kontakten der Volkskammer der DDR und des Bundestages der BRD,
regelmäßige Konsultationen zwischen Parteien und Gewerkschaften sowie
der wirtschaftsleitenden Organe und anderer staatlicher Einrichtungen
konstruktiv fördern. Die Hand der DDR zur Zusammenarbeit im Interesse
der Menschen und der europäischen Idee bleibt auch gegenüber der BRD
ausgestreckt.(...)
Das Bündnis und die
Zusammenarbeit mit der KPdSU und mit allen sozialistischen
Bruderparteien gehören zu den Grundlagen unserer Politik. Für die DDR
zählen die effektivere Zusammenarbeit im RGW und die ständige Festigung
des politischen Bündnisses der Warschauer Vertragsstaaten zu den
grundlegenden Bedingungen ihres weiteren Voranschreitens.(...)
Die zunehmende Vielfalt
ist zweifellos ein Gesetz der Entwicklung des Sozialismus. Gerade diese
Unterschiedlichkeit, der Reichtum an Neuem, von sich Erprobendem mit all
den Risiken, die damit verbunden sind, verlangt das Aufeinander zugehen,
den Austausch von Erfahrungen, Meinungen und Problemstellungen. Nie war
das Klima dem dienlicher und dafür fordernder als heute. Wir haben die
Zeichen der Zeit zu erkennen und entsprechend zu reagieren, sonst wird
uns das Leben dafür bestrafen. Diese Erfahrung der sowjetischen
Kommunisten, auf die unser Kampfgefährte Michail Gorbatschow zum
DDR-Jubiläum hingewiesen hat, wird uns m unserer künftigen Arbeit
begleiten.
Das Zentralkomitee
versichert allen Bruderparteien und unseren Kampfgefährten in der
internationalen Arbeiterbewegung, allen Streitern für gesellschaftlichen
Fortschritt und Frieden, dass sich alle wie bisher auf die
Klassensolidarität der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und
der Arbeiter-und-Bauern-Macht in der DDR verlassen können.
(...)
Vor uns und allen
Bürgerinnen und Bürgern steht ein Berg von Arbeit. Niemand hat ein
Zaubermittel, ihn von heute auf morgen zu bewältigen. Für manches wollen
wir, nach Meinungsstreit zum gemeinsamen Handeln kommend, bald spürbare
Lösungen finden. Anderes wird seine Zeit brauchen, und für manches, was
notwendig wäre, wird es gegenwärtig schwer sein, die materiellen und
finanziellen Mittel zu finden. Wir können nicht über unsere Verhältnisse
leben.
Die folgenden Tagungen
unseres Zentralkomitees werden auf der Basis exakter Analysen der
Parteiführung und von Experten im kollektiven Meinungsaustausch des
grundlegende für den XII. Parteitag unserer Partei im Mai 1990
ausarbeiten. Die Vorbereitung des Parteitages soll und wird zu einer
breiten demokratischen Aussprache unserer Partei und des ganzen Volkes
werden.(...)
Schwerpunkte auf
ökonomischem Gebiet sind die Erfüllung der abgeschlossenen Verträge, die
materiell-technische Sicherung der Produktion, erforderliche
Entscheidungen zu offenen Fragen der Zulieferindustrie, Erschließen
aller Möglichkeiten, um die Versorgung der Bevölkerung mit Waren,
Dienstleistungen und Ersatzteilen zu verbessern. Besonders wichtig ist,
die Handelstransporte zu gewährleisten. Das alles sind Sofortmaßnahmen.
Sie zu lösen ist Sache des Ministerrates, der Minister und
Generaldirektoren, der Leiter der Betriebe und Handelseinrichtungen. Wir
wissen, wie viel Anstrengungen dafür nötig sind. Sofortmaßnahmen allein
genügen jedoch nicht.
Unbestreitbar ist, dass
Erfolge in der dynamischen Entwicklung der Produktion, in der Meisterung
der Schlüsseltechnologien, in der Intensivierung der Wirtschaft und auf
sozialpolitischem Gebiet erzielt wurden. Die ehrliche Analyse offenbart
aber auch, dass die Auswirkungen des Rückgangs der Akkumulationsrate und
besonders der Akkumulation in den produzierenden Bereichen
schwerwiegender sind als bisher eingestanden. Die Konzentration der
ohnehin zu geringen Investitionen auf bestimmte ausgewählte Zweige hat
zum Zurückbleiben der Zulieferindustrie geführt. Dort sind nicht wenige
Ausrüstungen mittlerweile verschlissen. Das führt zu einem hohen
Instandsetzungs- und Reparaturaufwand sowie zu starkem Ersatzteilbedarf.
Im Einklang mit vielen
Diskussionen unter den Werktätigen ist das Leistungsprinzip in vollem
Umfang konsequent durchzusetzen. Für eine kontinuierliche Produktion ist
volkswirtschaftliche Proportionalität unverzichtbar. Sie ist derzeit
nicht ausreichend gewährleistet. Das erfordert, die Akkumulation in den
produzierenden Bereichen zu erhöhen, aber auch auf einige vorgesehene
große Investitionsobjekte zu verzichten.
Die Bilanz unseres
Wohnungsbauprogramms ist eindrucksvoll. Sein Effekt könnte weitaus
größer sein, wenn Wohnungswirtschaft und Wohnraumvergabe besser
organisiert und geleitet würden. Hier liegen Verantwortung und Chance
für eine bürgernahe Arbeit der kommunalen Organe.(...)
Bei allem, was wir tun,
muss uns immer wieder bewusst sein:
Versprechungen, für die es keine Deckungen gibt, sind nicht unsere
Sache. Vielmehr geht es darum, mit höchster Anspannung zu arbeiten, um
die schwierige Situation gemeinsam zu verändern.
Wir werden uns auch mit
dem weiteren Ausbau des sozialistischen Rechtsstaates zu befassen haben.
Dabei gehen wir von dem Grundsatz aus, dass vor dem Gesetz alle Bürger
gleich sind. In diesem Sinne wird der Ministerrat einen
Gesetzgebungsplan vorbereiten und Vorschläge für die öffentliche
Erörterung von Gesetzesentwürfen unterbreiten. Von grundlegender
Bedeutung ist, dass der Ministerrat der DDR seine verfassungsmäßigen
Kompetenzen als Regierung der Arbeiter-und-Bauern-Macht voll wahrnimmt
und wahrnehmen kann. Den demokratischen Zentralismus werden wir in
unserer Partei wie in der breiten Öffentlichkeit im Leninschen Sinne
praktizieren, d. h. die Meinungsbildung auch von unten nach oben
respektieren, genauso wie Kritik ohne Ansehen der Person üben und
Beschlüsse erst nach Diskussion und Meinungsaustausch fassen.
Zur Ausgestaltung unseres
Rechtsstaates gehören der weitere Ausbau der Verfassungskontrolle durch
größere Vollmachten des Verfassungs- und Rechtsausschusses der
Volkskammer, die Einheit von Volksaussprache und gründlicher, sicher
auch kontroverser Diskussion grundlegender Gesetze in der Volkskammer,
die Erhöhung der Eigenverantwortung der Städte und Gemeinden und andere
herangereifte politische Notwendigkeiten.
Wir meinen, es liegt im
Interesse der ganzen Gesellschaft, die Arbeit der Volkskammer als
höchstes demokratisches Gremium unseres Staates bis zum Ende ihrer
Legislaturperiode im Jahre 1991 so zu qualifizieren, dass die Tätigkeit
der Abgeordneten und der Ausschüsse der Volkskammer für die
Öffentlichkeit noch sichtbarer wird.
Das Politbüro hat der
Regierung der DDR den Vorschlag unterbreitet, einen Gesetzesentwurf über
Reisen von DDR-Bürgern ins Ausland vorzubereiten. Wir gehen davon aus,
dass dieser Entwurf nach öffentlicher Aussprache in der Volkskammer
behandelt und beschlossen werden sollte. Im Zusammenhang damit könnten
ebenfalls die zeitweilig getroffenen einschränkenden Maßnahmen zum
Reiseverkehr in sozialistische Bruderländer aufgehoben beziehungsweise
modifiziert werden.
Die Wahrheit gebietet aber
deutlich zu sagen, dass die Weigerung der BRD, die Staatsbürgerschaft
der DDR uneingeschränkt zu respektieren, ein sehr ernstes Hindernis
bleibt für die Verwirklichung der von uns in Aussicht genommenen
Schritte für den Reiseverkehr in die BRD, nach Berlin (West) und andere
kapitalistische Staaten.
(...)
Für die Vorbereitung des
XII. Parteitages hat der von den Massenmedien widerzuspiegelnde Dialog
eine große Bedeutung. Wir versprechen uns davon viele sachkundige
Vorschläge zur Lösung der Entwicklungsfragen unserer Gesellschaft, aber
auch - das sei hier gesagt - stärkere öffentliche Auseinandersetzung mit
Erscheinungen, die dem Wesen des Sozialismus und unserer Politik
widersprechen. Dazu ermutigen wir die Redaktionen.
Unsere Republik hat
talentierte, fähige Journalisten mit Freude an ihrer Arbeit, am
politischen Kampf, mit Ideen und Phantasie. Sie drängen darauf, im
Gedankenaustausch mit ihren Lesern, Hörern und Zuschauern unsere
Gesellschaft als schöpferische Gemeinschaft von politisch aufgeklärten,
politisch engagierten und politisch verantwortungsbewusst handelnden
Menschen voranzubringen.
Natürlich bedeutet das für
jeden Journalisten, auch die Fährnisse solcher Verantwortung zu sehen.
Unsere Presse kann nicht Tribüne eines richtungslosen, anarchistischen
Geredes werden. Sie wird mit Sicherheit kein Tummelplatz für Demagogen
sein, und sie muss wie die Politiker - darauf achten, dass komplizierte
Sach- verhalte und Fragen nicht durch allzu flinke und simple Antworten
verwässert werden. Es ist gut, dass die Presse schon selbst in den
vergangenen Wochen Maßstäbe hervorgebracht hat, wie Journalisten ihrer
gesellschaftlichen Verantwortung, aber auch ihren Möglichkeiten
wirkungsvoll gerecht werden können.(...)
Mehr denn je sind jetzt
feste politische Standpunkte und die kämpferische Haltung jedes
Kommunisten gefragt, um die Politik unserer Partei an jedem Arbeitsplatz
und im Wohngebiet offensiv zu vertreten. Selbst dann, wenn einer nicht
sofort auf jede Frage eine Antwort hat, muss und kann er zeigen, hinter
welcher Fahne er marschiert. So haben es Kommunisten immer gehalten, und
so halten wir es erst recht heute. (...)
Wie sehr wir uns in dieser
Stunde des Ernstes der Lage bewusst sind, der zu den heutigen
Entscheidungen geführt hat - wir spüren und erkennen zugleich die große
Chance, die wir uns selbst eröffnet haben, um in engster Verbindung mit
dem Volk, im Dialog mit allen Bürgern unseres Landes, in einer
gesellschaftlichen Atmosphäre der Offenheit, des Realismus, des
gemeinsamen Zupackens die neuen Positionen auf unserem sozialistischen
Kurs zu bestimmen, der uns sicher an die Schwelle der Jahrhundertwende
führen wird.
Unsere Macht ist die Macht
der Arbeiterklasse und des ganzen Volkes unter Führung der Partei. Wir
haben sie erstritten nicht um unser selbst willen, sondern für das Wohl
des Volkes. Wir halten sie fest und werden sie von den Kräften der
Vergangenheit nicht antasten lassen, nicht um unser selbst willen,
sondern zum Besten unseres Volkes. Wir werden die Macht stetig besser
nutzen für einen starken Sozialismus, für einen festen Frieden, für eine
gute und sichere Gegenwart und Zukunft unseres Volkes. Es wird in
unserer Deutschen Demokratischen Republik keinen anderen Sozialismus
geben als den, den wir gemeinsam mit allen schaffen und verteidigen.
Alles liegt in unserer Hand, alles liegt in unserer Gemeinsamkeit, alles
liegt in der Einheit und Geschlossenheit unserer Partei.(...)
(ND, 19. 10. 1989)