Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

MfS, ZAIG, 0/227, Berlin, 8.10.1989

ZAIG an Mielke, Irmler

Hinweise über Reaktionen progressiver Kräfte auf die gegenwärtige innenpolitische Lage in der DDR

Nach vorliegenden Hinweisen aus der Haupstadt und allen Bezirken der DDR schätzen viele progressive Kräfte, insbesondere Mitglieder der SED ein, daß die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR ernsthaft in Gefahr ist. Sie bekunden gleichzeitig ihre Bereitschaft, sich an die Seite der Partei zu stellen und die Arbeiter-und-Bauern-Macht vor allen Angriffen innerer und äußerer Feinde zu schützen. Sie treffen die Feststellung, daß sich die Stimmungslage der Bevölkerung der DDR weiter rapide verschlechtert hat. Ihren Darstellungen zufolge werde in vielen Meinungsäußerungen sowie in zahlreichen Eingaben und Stellungnahmen von Werktätigen zum Ausdruck gebracht, daß das System der Führung und Leitung politischer, ideologischer und volkswirtschaftlicher Prozesse in der DDR erstarrt sei. Die spürbare Zuspitzung vorhandener innenpolitischer Probleme und Schwierigkeiten sowie die Massenfluchten deuteten auf eine umfassende gesellschaftliche Krise in der DDR. Die Folge davon sei eine erhebliche Zunahme von Erscheinungen der Verunsicherung, der Ratlosigkeit und Resignation unter Parteimitgliedern, Mitarbeitern des Staatsapparates und weiteren aktiv gesellschaftlich tätigen Personen.

Unter den Werktätigen wachsen Zweifel an der Perspektive des Sozialismus in der DDR. Zahlreiche progressive Kräfte, darunter viele Werktätige vor allem älterer Jahrgänge, befürchten, daß es zu großen Erschütterungen in der Gesellschaft komme, die von der Partei nicht mehr beherrschbar seien. Bereits jetzt - so argumentieren sie - befände sich die DDR in einer Situation wie kurz vor den konterrevolutionären Ereignissen am 12 Juni 1953. Besorgt äußern sie sich vor allem über den weiter zunehmenden Vertrauens­schwund der Werktätigen gegenüber der Partei- und Staatsführung. Viele Werktätige, einschließlich zahlreiche Mitglieder und Funktionäre der Partei, sprechen ganz offen darüber, daß die Partei- und Staatsführung nicht mehr in der Lage und fähig sei, die Situation real einzuschätzen und entspre­chende Maßnahmen für dringend erforderliche Veränderungen durchzuset­zen. Sie könne angesichts ihrer altersmäßigen Zusammensetzung nicht mehr flexibel reagieren. Als besonders enttäuschend und teilweise mit großer Bitterkeit wird die Tatsache bewertet, daß sich die führenden Repräsentanten der DDR bisher nicht direkt und persönlich an die Werktätigen gewandt haben, um den Standpunkt der Partei zur gegenwärtigen innenpolitischen Situation darzulegen und damit zugleich Orientierungen für die politisch­ideologische Arbeit zu geben. Die bisher gehandhabte Methode, die die ganze DDR-Bevölkerung interessierenden persönlich berührenden Vorgänge aus­schließlich durch ADN und einige ausgewählte Kommentatoren bewerten zu lassen, sei Ausdruck des Mißtrauens der politischen Führung der DDR gegenüber dem Volk. Das zeige sich auch in der durch führende Vertreter der Partei und des Staates vergebenen Chance, ihre Auftritte im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR dafür zu benut­zen, klare und offene Worte für die derzeitige Situation zu finden und entsprechende Lösungswege anzudeuten.

Wiederholt wurde dieses Vorgehen in Zusammenhang gebracht mit der Informationspolitik der Partei, die nach Meinung vieler Parteimitglieder nichts mehr mit Leninscher Informationspolitik zu tun habe. Zahlreiche journalistisch tätige Personen vertreten in Kenntnis der konkreten Lage den Standpunkt, daß die DDR-Massenmedien die Bevölkerung nicht mehr errei­chen. Auf völliges Unverständnis stößt bei progressiven Kräften vor allem die fehlende politisch offensive Auseinandersetzung mit feindlichen, opposi­tionellen Kräften und mit von solchen Personenkreisen verfaßten und ver­breiteten antisozialistischen Pamphleten. Ein derartig passives und defensi­ves Verhalten würde der gegnerischen Seite Tür und Tor für deren ideologi­sche Offensive öffnen.

Es sei dadurch eine Lage entstanden, daß selbst zahlreiche Bürger, darunter insbesondere Angehörige aus den Bereichen Hoch- und Fachschulwesen, Kunst und Kultur sowie Studenten mit einer positiven Grundeinstellung sich mit Zielen und Inhalten der opositionellen Sammlungsbewegung „Neues Forum" identifizieren, die in dem Gründungsaufruf dieser Gruppie­rung enthaltenen politischen Grundinhalte und Forderungen akzeptieren und weiter verbreiten.

Unter Bezugnahme auf diese vorgenannten Probleme verweisen progres­sive Kräfte darauf, immer unsicherer zu werden in der Beurteilung der Lage und keine, die Werktätigen überzeugende Argumente zu besitzen. Dadurch scheuten sie sich immer mehr, überhaupt noch Auseinandersetzungen in den Betrieben zu führen. Hinzu komme, daß es nach wie vor Praxis sei, daß hauptamtliche Parteifunktionäre auf entsprechende Fragen der Parteimit­glieder keine Antworten geben oder versuchen, sich mit Zitaten aus entspre­chenden Parteidokumenten „über die Runden zu retten". In einigen Fällen wurde Parteimitgliedern beim Stellen von umbequemen Fragen mit Partei­strafen gedroht und damit jegliche Diskussion strikt unterbunden. In dem Bestreben, dennoch gemäß den Forderungen der Partei das politische Gespräch mit den Werktätigen fortzusetzen, bemühten sich diese Parteimit­glieder entsprechend ihrem Wissensstand darum, eigene Antworten und Lösungsvarianten zu erarbeiten, die jedoch nicht autorisiert seien, wenig Überzeugungskraft besäßen und angesichts der Unkenntnis der konkreten Situation teilweise auch von einem Abweichen von der Linie der Partei gekennzeichnet wären. Bei entsprechenden ideologischen Auseinanderset­zungen in den Arbeitskollektiven würden viele progressive Kräfte in brei­tem Umfang mit Diskussionen über die Existenz einer sogenannten Klasse der Priviligierten in der DDR (gemeint sind damit Funktionäre der Partei, Leiter staatlicher und wirtschaftsleitender Organe auf zentraler Ebene bis hin zu den Kreisen) sowie mit Hinweisen über die massenhafte Ausbreitung von Schieber- und Spekulantentum konfrontiert. Die dazu in sehr aggressi­ver Form geführten Diskussionen beinhalten das Argument, diese vorge­nannten Personenkreise seien die eigentlichen Nutznießer des Sozialismus. Offensichtlich sei auf ehrliche Art und Weise erworbenes Geld in unserer Gesellschaftsordnung nicht mehr gefragt.

Getragen von der Sorge um die Erhaltung der politischen Stabilität der DDR und der Abwendung von Gefahren frieden sozialistischen Staat erwarten und fordern viele Werktätigen insbesondere klassenbewußte Arbeiter aus Industrie und Landwirtschaft, Angehörige der Intelligenz sowie Mitarbeiter staatlicher und wirtschaftsleitender Organe einen unverzüglich beginnenden offenen Dialog der Parteiführung mit den Werktätigen über die anstehenden Pro­bleme.

Mitglieder und Funktionäre der SED, der befreundeten Parteien und gesell­schaftlicher Organisationen sowie Arbeitskollektive aus allen gesellschaftli­chen Bereichen fordern - zum Teil mit großem Nachdruck und sehr emotional geprägt -, daß die Partei- und Staatsführung unverzüglich eine umfassende kritische und reale Analyse der innenpolitischen Lage vornimmt, eine öffentli­che Diskussion über Lösungswege zur Uberwindung der vorhandenen Pro­bleme und über strategische Entwicklungslinien in Gang setzt sowie eine politische Offensive gegen feindliche oppositionelle Kräfte in der DDR einleitet.

Als vordringlich angesehene Veränderungen werden insbesondere genannt:

1. Volkswirtschaft

  • Aufzeigen einer klaren Perspektive der volkswirtschaftlichen Entwicklung in für alle Bürger der DDR faßbarer, überschaubarer und abrechenbarer Form
  • Durchsetzung moderner und wirksamer Methoden der Wirtschaftsfüh­rung, vor allem bezogen auf die Planung, Bilanzierung und Abrechnung unter Beachtung des Abbaues des administrativen Aufwandes im Planungs­prozeß,
  • weitere Erhöhung der Eigenverantwortung und Selbständigkeit der Betriebe,
  • Abbau des Mißverhältnisses zwischen der Größe der produktiven Bereiche und des Überbaues,
  • Veränderungen in der Subventionspolitik,
  • konsequente Durchsetzung des Leistungsprinzips

2. Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie

  • Entwicklung neuer Formen und Methoden zur Einbeziehung der Werktä­tigen in die Vorbereitung von Entscheidungen in allen Bereichen der Gesellschaft,
  • konsequente Durchsetzung des Prinzips der Mitbestimmung und Mitver­antwortung,
  • Entscheidungen zentraler Partei- und Staatsorgane für das Volk „durch­sichtiger machen",
  • Rechenschaftslegung der Partei- und Staatsfunktionäre auf zentraler Ebene vor dem Volk,

3. Informationspolitik

  • Beseitigung des Widerspruchs zwischen gesellschaftlichem Anspruch und der Wirklichkeit,
  • offenes und ehrliches Aufdecken aller Probleme und Schwierigkeiten, um gesamte Gesellschaft zu mobilisieren,
  • aktuell und offensiv reagieren auf Angriffe des Gegners und innere Feinde,
  •  Beendigung umfassender „Hofberichterstattungen" und einseitig orientier­ter Erfolgsmeldungen

4. Innerparteiliches Leben

  • Kritik wieder zum Entwicklungsgesetz der Partei zu entwickeln,
  • Gewährleistung einer offenen Atmosphäre, in der für alle Parteimitglieder die Möglichkeit besteht, sich mit Problemen und Hemmnissen auseinan­derzusetzen, sie bewegende Fragen offen auszusprechen,
  • Gewährleistung des ständigen Auftretens führender Parteifunktionare vor dem Parteiaktiv
  • volle Gewährleistung der innerparteilichen Demokratie.

zitiert nach: Armin Mitter, Stefan Wolle (HG), "Ich liebe Euch doch alle...", Befehle und Lageberichte des MfS, Januar- November 1989, Berlin 1990, S.204-207

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