Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

Am 10.9.1989 veröffentlichte die Bürgerbewegung Neues Forum ihren Aufruf „Aufbruch 89". Dessen Schlusssatz lautete: „Die Zeit ist reif". Auch viele Unterhaltungskünstler empfanden so. Toni Krahl, damals Vorsitzender der Sektion Rock beim Komitee für Unterhaltungskunst, erinnert sich: „Wir hatten am 12. September Sektionsleitungssitzung. Da wurde mal nicht nur über die sonst üblichen Dinge geredet — Trommelstöcke, Autoreifen, Einfuhrgenehmigungen -.sondern dass man nicht stumm zusehen dürfe, wie das Land den Bach runtergeht." Zusammen mit Hugo Laartz (Modern Soul), Tamara Danz (Silly), Martin Schreier (Stern Meißen) Jürgen Ehle und Wolfgang Schubert (beide Pankow) sowie der Sängerin Angelika Weiz und dem Liedermacher Jürgen Eger suchte er am 14.9. Bärbel Bohley auf. Die Mitbegründerin des Neuen Forums drückte ihnen den Aufruf in die Hand und ließ sie allein. „Dann fing die Eierei an. Jeder fand irgendwelche Lücken oder eine Stelle, die ihm nicht so recht zusagte. Ich hatte das Gefühl: Keiner ist mutig genug, zu unterschreiben; das inhaltliche Hin und Her wird bloß vorgeschoben." Am 18.9. trafen sie sich in einem größeren Kreis Gleichgesinnter wieder, um einen eigenen Text zu verfassen.

Kein feiges Abwarten mehr - Text der Rocker-Resolution vom 18.9.1989

Wir, die Unterzeichner dieses Schreibens. sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftli­chen Alternative und über die unerträgliche Ignoranz der Staats- und Parteiführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhalt. Es geht nicht um "Reformen, die den Sozialismus abschaffen", sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Denn jene momentane Haltung gegenüber den existierenden Widersprüchen gefährdet ihn.

Wir begrüßen ausdrücklich, daß Bürger sich in basisdemokratisch organisierten Gruppen finden, um die Lösung der anstehenden Probleme in die eigene Hand zu nehmen; dieses Land braucht die millionenfache Aktivierung von Individualität; die alten Strukturen sind offenbar kaum in der Lage dazu. So haben wir den Aufruf des Neuen Forums zur Kenntnis genommen und finden in dem Text vieles, was wir selber denken und noch mehr, was der Diskussion und des Austausches wert ist. Wir halten es für überfällig, alte Feindschaften abzubauen und zu überwinden. Es ist nun wichtig, daß der politische Wille großer Teile der interessierten Bevölkerung eine positive Besprechung "von oben" findet. Das heißt auch, Anerkennung dieser Gruppen, ihre Tolerierung und Einbeziehung in das Gespräch und in die Gestaltung dieser Gesellschaft, wie es die Verfassung der DDR mit ihren Bestimmungen gebietet. Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen , vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheit sind.

Das Anwachsen rechtsextremer und konservativ-nationaler Elemente auch bei uns, das Beliefern gesamtdeutscher Anschauung ist ein Ergebnis fehlenden Reagierens auf angestaute Widersprüche und historisch unverarbeitete Tatsachen. Linke Kräfte fallen dieser Politik des Festhaltens erneut zum Opfer. Wir wollen in diesem Land leben, und es macht uns krank, tatenlos mitansehen zu müsssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche einer gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw. ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern eine Öffnung der Medien für diese Probleme. Wir fordern Änderung der unaushaltbaren Zustände. Wir wollen uns den vorhandenen Widersprüchen stellen, weil nur durch ihre Lösung und nicht durch ihre Bagatellisierung ein Ausweg aus dieser Krise möglich sein wird.
Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Vorraussetzungen. Die Zeit ist
reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns.

Berlin, 18.9.89
 

Gerhard Schöne, Andre Herzberg ("Pankow"), H.E. Menzel, Jörn Brumme, Joachim Gersdorff, Charly Eitner, Ernst Lemke, Reiner Navrath, Ingo Griese, Jürgen Ehle ("Pankow"), Gerhard Laartz, Carsten Muttschall, Toni Krahl ("City"), Martin Schreier, Tamara Danz ("Silly"), Frank Schöbel, Markus Lonnig, Rüdiger Barton, H.H. Junck, Gerd Sonntag, H.J. Reznicek ("Silly"), Uwe Haßbecker ("Silly"), Jürgen Abel, Lutz Kerschowski, Jürgen Eger, R. Kirchmann, Angelika Weiz, Conny Bauer, Thomas Hergert, Tina Powileit, Wolfgang Fiedler, Kurt Denkler, Beate Bienert, Jens Schultz, Lothar Krämer, Christian Liebig, Matthias Lauschus, Bernd Romer ("Karat"), Tine Römer, Dietmar Halhuber, Norbert Bischoff, Ralf Zimmermann, Heiko Lehmann, Ines Krautwurst, u.a.

Quelle: Bernd Lindner, DDR - Rock & Pop, Köln o.J., S.201

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