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Neue Chronik der DDR - 7. August - 31. August 1989 Berlin 1990 (gedruckt in der DDR) 7.
August 1989 Aufklärung über den Hintergrund dieser nebulösen Information erfährt der DDR-Bürger aus einer von ADN verbreiteten Erklärung des stellvertretenden Sprechers des Außenministeriums der DDR, Dr. Denis Ruh: „Seit einigen Tagen führen bundesdeutsche Medien eine lautstarke Kampagne um einige DDR-Bürger, denen in der BRD-Botschaft in Budapest widerrechtlich Aufenthalt gewährt wird und die auf illegalen Wegen in die BRD gelangen wollen. (...) Ein solches Verhalten von ausländischen Vertretungen der BRD (stellt) eine grobe Einmischung in souveräne Angelegenheiten der DDR dar." Im Außenministerium der Bundesrepublik Deutschland, „das sich in diese Kampagne eingeschaltet" habe, „sollte man wissen, daß nach dem Völkerrecht die Botschaften der BRD keinerlei Rechte haben, für DDR-Bürger, zum Beispiel in Reise- und Visaangelegenheiten, tätig zu werden. Die Wahrnehmung sogenannter Obhutspflichten gegenüber Bürgern anderer Staaten durch die BRD ist eine typische großdeutsche Anmaßung, die aufs schärfste zurückgewiesen werden muß." Der Sprecher verweist darauf, daß in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Juli 1989 3,5 Millionen DDR-Bürger in das nichtsozialistische Ausland, darunter 3,288 Millionen nach der BRD und Berlin (West) reisten. „Unbekannt ist in Bonn auch nicht, wie human die DDR entsprechend ihren Gesetzen Familienzusammenführungen regelt. (...)" Der Leiter des ungarischen Reisebüros in Berlin
weist laut ADN „verleumderische Behauptungen westlicher Medien und
Politiker über Einschränkungen im Touristenverkehr zwischen der DDR und
der Ungarischen Volksrepublik" zurück. „Der Reiseverkehr zwischen beiden
Ländern verlaufe normal. Man rechne in diesem Jahr mit 1,8 Millionen
Reisenden der DDR nach Ungarn." In Bonn appelliert BRD-Minister Rudolf Seiters, Chef
des Bundeskanzleramtes, an ausreisewillige DDR-Bürger, nicht den Weg über
diplomatische Vertretungen der Bundesrepublik zu gehen, dadurch würden
„mehr Probleme geschaffen als gelöst". Er nennt in diesem Zusammenhang
die Zahl von 46. 343 Personen, die bis Ende Juli 1989 legal aus der DDR in
die BRD gekommen seien. Die 158 in der Budapester BRD-Botschaft befindlichen DDR-Bürger werden nach Angaben des ungarischen Innenministeriums von den zuständigen DDR-Behörden zur Rückkehr aufgefordert; ihnen wird-Straffreiheit zugesichert. In der SED-Zeitung „Neues Deutschland" und anderen
Tageszeitungen der DDR stimmen organisierte Leserbriefe der
Sprechererklärung des DDR-Außenministeriums (7. 8. 1989) kritiklos zu. ADN meldet: Aus Nachrichtensendungen von BRD-Medien wird bekannt, daß Dr. Dulsberg „über die Situation der Ausreisewilligen in der Ständigen Vertretung und den bundesdeutschen Botschaften" informierte und „eine persönliche Botschaft zum Flüchtlingsproblem von Bundeskanzler Helmut Kohl an DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker" übermittelte. In einer ARD-Fernsehsendung nennt der DDR-Schriftsteller Stefan Heym die derzeitige Ausreisewelle von DDR-Bürgern „ein fürchterliches Phänomen", das drohe, „die ganze DDR zu vernichten". Die DDR-Führung müsse „kontrolliert" Freiheit geben und einen Sozialismus schaffen, dem sich die Menschen zuwenden. 12. August 1989 „Neues Deutschland" veröffentlicht unter der Überschrift „Der 13. August 1961 - seine Ursachen und Folgen" einen nicht gezeichneten Kommentar. Darin heißt es unter anderem:
Unter der Überschrift „Zwei Welten" verbreitet ADN folgende Meldung: „Immer wieder wird in der Bundesrepublik die
Behauptung aufgestellt, es entwickle sich Neonazismus wie in der BRD auch
in der DDR. Das ist purer Unsinn, denn allein durch die Tatsache, daß
jeder Ansatz neonazistischer Umtriebe entsprechend den in der DDR
geltenden Gesetzen hart geahndet wird, erweist sich das Ganze als Lüge.
Der Unterschied zwischen der DDR und der BRD besteht schon allein darin,
daß die neonazistischen Republikaner des ehemaligen Angehörigen der
SS-Leibstandarte Adolf Hitler, Schönhuber, und andere Organisationen
dieser Art dort zugelassen sind und in der DDR jede nazistische
Vereinigung verboten ist. (...) Die Verleumdungen gegen die DDR sollen
offenbar dazu dienen, die Weltöffentlichkeit von der wachsenden
neonazistischen Gefahr in der Bundesrepublik abzulenken." Nach Informationen von BRD-Fernsehanstalten haben 15 ausreisewillige DDR-Bürger die Ständige Vertretung der BRD in Berlin verlassen; 116 bleiben zurück. In der BRD-Botschaft in Budapest halten sich rund 180 DDR-Deutsche auf. Im Gemeindesaal der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow treffen sich am Abend 400 Menschen verschiedener oppositioneller Gruppen. „(...) Der Physiker Dr. Hans-Jürgen Fischbeck ist
erster Redner. Er vertritt die innerkirchliche Gruppe „Absage an Prinzip
und Praxis der Abgrenzung", und seine Botschaft ist der Aufruf an die
DDR-Opposition, eine landesweite Sammlungsbewegung für die
Erneuerung zu gründen, die eine ,identifizierbare Alternative' bietet.
,Uns geht es nicht mehr darum, nur als Basisgruppen in allen Teilen der
DDR zu überleben. Wir wollen deutlich machen, daß es hier Menschen gibt,
die Ideen entwickeln, die Konzepte zur Veränderung vorlegen können und die
ansprechbar sind.' Diese Bewegung soll bei der nächsten Wahl die
Alternative bilden, auch wenn sie sich jetzt nicht als Partei formieren
kann. (...) Sein Vorschlag ist in einigen strategisch planenden
Gruppierungen der rund 500 Basisinitiativen der DDR seit Monaten
diskutiert - worden und sollte eigentlich noch unter der Decke bleiben.
Doch die Ausreisewelle ist auch für die Opposition, die im Lande bleiben
will, eine Gefahr (,wenn sich alle durch die enge Öffnung quetschen,
bekommen die anderen keine Luft mehr'), und deshalb will man den
Ausreisewilligen möglichst schnell eine Alternative aufzeigen. (...)
Dabei will die Bewegung keine Untergrundstrukturen bilden, sondern von
vornherein mit dem Anspruch auftreten, daß ihre Tätigkeit legal ist und
innerhalb des sozialistischen Systems möglich sein muß. (...)" 14. August 1989 Der ungarische Außenminister Gyula Horn empfängt in
Budapest DDR-Botschafter Gerd Vehers zu einem Gespräch und verkündet den
Standpunkt seiner Regierung im Zusammenhang mit den DDR-Bürgern, die sich
in der Budapester BRD-Botschaft aufhalten. Über den Inhalt der Gespräche
wird nichts bekannt. Im ungarischen Fernsehen erklärt Innenminister Istvän Horvath, Budapest könne nicht „Schiedsrichter" zwischen der BRD und der DDR sein, sein Land sei auch kein „Sprungbrett zum Westen" für Touristen aus sozialistischen Ländern. In einer von der ungarischen Nachrichtenagentur verbreiteten Mitteilung bestätigt die Konsularabteilung der Botschaft der DDR in Ungarn, daß der Aufenthalt von Bürgern der DDR in der Budapester Botschaft der BRD für diese bei einer Rückkehr in die DDR keine Folgen haben wird. Das träfe auch auf Bürger der DDR zu, die keine gültigen Reisedokumente mehr besitzen. In Berlin übergibt der Leiter der Ständigen Vertretung der BRD im Außenministerium ein Schreiben von BRD-Kanzler Helmut Kohl an SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Eine Abordnung des Erfurter Kombinats Mikroelektronik übergibt Erich Honecker die ersten Funktionsmuster von 32-bit-Mikroprozessoren für Ingenieurarbeitsstationen zum automatisierten Entwurf von Schaltkreisen, anderen Erzeugnissen der Elektronik sowie des Maschinenbaus. In seiner aus diesem Anlaß gehaltenen Rede geht Honecker mit keinem Wort auf die Ausreisewelle von DDR-Bürgern ein. Statt dessen erklärt er u. a.:
(ND, 15. 8. 1989) 16. August 1989 Gegenüber dem Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in Berlin, Dr. Franz Bertele, legt das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR „entschieden Verwahrung gegen völkerrechtswidrige Aktivitäten der Botschaft der BRD in der Ungarischen Volksrepublik gegenüber Bürgern der DDR ein". Nach Angaben der BRD-Regierung halten sich in ihren Botschaften in Budapest 171, in Prag 40, in Warschau ein und in der Ständigen Vertretung Berlin 116 DDR-Bürger auf. In einem Pressegespräch erklären Mitglieder der Zentralleitung des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, in der DDR sind die sozialökonomischen und geistigen Wurzeln von Faschismus und Krieg für immer ausgerottet worden. 17. August 1989 Staatsratsvorsitzender Honecker richtet an BRD-Kanzler Kohl ein Schreiben. Über den Inhalt dieses Briefwechsels (siehe 14. 8. 1989) ist Stillschweigen vereinbart. 18. August 1989 In der SED-Zeitung „Neues Deutschland" erscheint ein mit „W. M." gezeichneter Kommentar: „Unsere Verbundenheit mit der CSSR und der 21. August 1968". Darin heißt es u. a.:
In Berlin empfängt der stellvertretende DDR-Außenminister Herbert Krolikowski den BRD-Minister und Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters, auf dessen Wunsch. Krolikowski erklärt, die DDR lehne alle Versuche ab, über den Aufenthalt in Vertretungen der BRD die Ausreise aus der DDR erzwingen zu wollen, da die gesetzlichen Regelungen in der DDR für alle Bürger iri gleicher Weise verbindlich seien. Die BRD wird aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, daß die sich in den BRD-Vertretungen befindlichen Bürger der DDR diese verlassen und sich in ihre Heimatorte begeben. Für sie werden sich keine strafrechtlichen Folgen ergeben. 19. August
1989 Die Nachrichtenagentur ADN
meldet, daß sich Partei- und Staatschef Erich Honecker in der vergangenen
Woche „wegen eines Gallensteinleidens einer Operation unterzogen" habe
und sich auf dem Wege der Genesung befinde. Auf der Tagung des Präsidiums des Hauptvorstandes der CDU erklärt der Parteivorsitzende Gerald Gotting u. a. zur 40jährigen Existenz der DDR: „(...) In diesen vier
Jahrzehnten ist uns christlichen Demokraten zur Gewißheit geworden: In
unserem Staat dient alle Arbeit dem Wohl des Nächsten und dem Frieden -
hier ist unser Vaterland, dem wir verbunden sind und das wir aktiv
mitgestalten, weil wir hier so leben und wirken können, wie es uns durch
die gesellschaftlichen Konsequenzen aus christlicher Ethik, durch die
Lehren der Geschichte, durch unser eigenes Wollen und Streben geboten
ist. (...)" Das CDU-Führungsgremium wendet sich gegen alle Versuche, die
deutsche Frage offenzuhalten. In einer Fernseh-Korrespondenz berichtet Olaf Dietze aus Bonn über die Pressekonferenz von BRD-Kanzler Helmut Kohl u. a.:
In der BRD-Botschaft in Prag
halten sich 140 ausreisewillige DDR-Bürger auf.
26. August 1989 Eine Initiativgruppe - Ibrahim Böhme, Martin Gutzeit, Markus Meckel und Arndt Noack - ruft dazu auf, eine sozialdemokratische Partei in der DDR zu gründen. Als allgemeine Zielbestimmung wird eine ökologisch orientierte soziale Demokratie genannt. 28. August 1989 Nach Berichten von
BRD-Medien warten 1.400 DDR-Bürger in Budapest in
Auffanglagern auf ihre Ausreise in die BRD. In Berlin treffen sich die Außenminister der DDR, Oskar Fischer, und der Ungarischen Volksrepublik, Gyula Horn. In der von ADN über dieses Treffen verbreiteten Nachricht heißt es:
Die Information verschweigt vollkommen den Standpunkt der ungarischen Regierung zu dieser Frage. Erst durch Informationen der BRD-Medien erfährt die DDR-Bevölkerung, daß Gyula Horn nach einem Bericht von Radio Budapest erklärt, daß die ungarische Regierung in bezug auf die ausreisewilligen DDR-Bürger „nur an einer solchen Regelung teilzunehmen bereit ist, die im Einklang mit den Verpflichtungen seines Landes hinsichtlich der internationalen Menschenrechte und seiner humanitären politischen Praxis steht". In Prag erklärt DDR-Botschafter Helmut Ziebart, die „DDR möchte, daß ihre Staatsbürger, die sich gegenwärtig in ausländischen Botschaften befinden, nach Hause zurückkehren und dort ihre legale Ausreise betreiben".
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