Anti-Staatlichkeit ist heute wieder ein Eckpunkt radikaler
Kapitalismuskritik, doch in welchen praktischen Bewegung kann
sie sich Geltung verschaffen und was soll an die Stelle des
Staates treten?
In seiner
Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt Marx über die
Pariser Kommune:
„Wenn alle großen Städte sich nach dem Muster von Paris als
Kommune organisierten, könnte keine Regierung diese Bewegung
durch den plötzlichen Vorstoß der Reaktion unterdrücken. Gerade
durch diesen vorbereitenden Schritt würde die Zeit für die
innere Entwicklung, die Garantie der Bewegung gewonnen. Ganz
Frankreich würde sich zu selbstätigen und sich selbst
regierenden Kommunen organisieren, das stehende Heer würde durch
die Volksmiliz ersetzt, die Armee der Staatsparasiten beseitigt,
die klerikale Hierarchie durch die Schullehrer ersetzt, die
Staatsgerichte in Organe der Kommune verwandelt werden; die
Wahlen in die nationale Vertretung wären nicht mehr eine Sache
von Taschenspielerstücken einer allmächtigen Regierung, sondern
der bewusste Ausdruck der organisierten Kommunen; die
Staatsfunktionen würden auf einige wenige Funktionen für
allgemeine nationale Zwecke reduziert.
Das ist also die Kommune - die politische Form der sozialen
Emanzipation ….“
(Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Dietz Verlag Berlin 1963,
S. 173)
Nach meinem Kenntnisstand ist dieses „Konzept eines
revolutionären Bruchs“ in der Geschichte von Marxismus und
Arbeiterbewegung fast völlig unter die Räder geraten und ersetzt
worden durch einen "Staatssozialismus", der die Bedeutung der
zentralen Staatsmacht nicht nur betonte, sondern ihn auch
entsprechend ausbaute. (Das verband sozusagen Sozialdemokratie
der 2. und Kommunismus der 3. Internationale)
Die
Rätebewegung schien einen neuen, anderen Ansatz einer
anti-staatlichen Revolution zu begründen, aber es gelang nicht
Rätebewegung und Eroberung der Kommunen miteinander zu
verbinden. Unter den Sozialrevolutionären setzte sich viel mehr
eine „betriebszentrierte“ Betrachtungsweise durch und im
Bolschewismus verband sich das mit einer allmächtigen zentralen
Staatsgewalt, diesem Garanten einer Unterdrückung sozialer
Emanzipation
II.
Was soll das
mit dem „bürgerbewegten Protest“ gegen das Bahnhofsprojekt in
Stuttgart zu tun haben?
Erst mal gilt
es festzuhalten, dass hier eine ganze Menge lohnabhängiger
„Bürger“ sich in ihrer Kommune in eine wichtige
Investitionsentscheidung einmischen und ihren Protest gegen
Bundesbahn und Landesregierung auf die Straße tragen. Sie
greifen mit anhaltendem Widerstand in die Entscheidungsmacht von
Landesregierung und Konzern ein.
Nein, von einem
Willen zu sozialer Revolution ist diese Bewegung sicher nicht
getragen, aber sie tut etwas, was den Rahmen repräsentativer
bürgerlicher Demokratie im Ansatz sprengt. Sie beugt sich nicht
einfach zentraler staatlicher Macht und der
Investitionsentscheidung eines großen kapitalistischen Konzern.
Der Ort dieses
Widerstands ist die Kommune; eine Kommune, fest eingebunden in
den bürgerlichen Staat, beherrscht durch zentral-staatliche
Gewalten und weit entfernt davon, eine Kommune im Sinne der
Pariser Kommune zu sein. Aber wenn das anti-staatliche Konzept
der Pariser Kommune zum tragen kommen soll, dann muss der Kampf
auf kommunaler Ebene ja irgendwie beginnen. Stuttgart 21 ist ein
Ansatz für einen solchen Kampf. Solche Kämpfe müssten sich
ausweiten, wobei es unter anderem um folgende Ziele ginge:
-
Kommunalisierung
von Energieversorgung (die Anti-AKW-Bewegung wäre der Boden für
einen solchen Kampf)
- Kommunalisierung
der Lebensmittelversorgung
-
Kommunalisierung des
Transportwesen
-
Kommunalisierung des
Bildungswesens
-
schließlich
Kommunalisierung aller Staatsfunktionenen, einschließlich der
Militärgewalt
Diese
Perspektive einer anti-staatlichen Kommunalisierung wäre jedoch
nur dann ein Schritt in Richtung wirklicher Selbstverwaltung,
wenn er verbunden wäre mit den radikaldemokratischen Prinzipien
der Pariser Kommune (jederzeitige Abwählbarkeit der
Volksvertreter etc.)
Editorische Anmerkungen
Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen
Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.