Peter Trotzig
Kommentare zum Zeitgeschehen

Stuttgart 21 – bloß „bürgerbewegter Protest“?
 

7-8/11

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Anti-Staatlichkeit ist heute wieder ein Eckpunkt radikaler Kapitalismuskritik, doch in welchen praktischen Bewegung kann sie sich Geltung verschaffen und was soll an die Stelle des Staates treten?

In seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt Marx über die Pariser Kommune:
„Wenn alle großen Städte sich nach dem Muster von Paris als Kommune organisierten, könnte keine Regierung diese Bewegung durch den plötzlichen Vorstoß der Reaktion unterdrücken. Gerade durch diesen vorbereitenden Schritt würde die Zeit für die innere Entwicklung, die Garantie der Bewegung gewonnen. Ganz Frankreich würde sich zu selbstätigen und sich selbst regierenden Kommunen organisieren, das stehende Heer würde durch die Volksmiliz ersetzt, die Armee der Staatsparasiten beseitigt, die klerikale Hierarchie durch die Schullehrer ersetzt, die Staatsgerichte in Organe der Kommune verwandelt werden; die Wahlen in die nationale Vertretung wären nicht mehr eine Sache von Taschenspielerstücken einer allmächtigen Regierung, sondern der bewusste Ausdruck der organisierten Kommunen; die Staatsfunktionen würden auf einige wenige Funktionen für allgemeine nationale Zwecke reduziert.
Das ist also die Kommune - die politische Form der sozialen Emanzipation ….“

(Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Dietz Verlag Berlin 1963, S. 173)
Nach meinem Kenntnisstand ist dieses „Konzept eines revolutionären Bruchs“ in der Geschichte von Marxismus und Arbeiterbewegung fast völlig unter die Räder geraten und ersetzt worden durch einen "Staatssozialismus", der die Bedeutung der zentralen Staatsmacht nicht nur betonte, sondern ihn auch entsprechend ausbaute. (Das verband sozusagen Sozialdemokratie der 2. und Kommunismus der 3. Internationale)

Die Rätebewegung schien einen neuen, anderen Ansatz einer anti-staatlichen Revolution zu begründen, aber es gelang nicht Rätebewegung und Eroberung der Kommunen miteinander zu verbinden. Unter den Sozialrevolutionären setzte sich viel mehr eine „betriebszentrierte“ Betrachtungsweise durch und im Bolschewismus verband sich das mit einer allmächtigen zentralen Staatsgewalt, diesem Garanten einer Unterdrückung sozialer Emanzipation 

II.

Was soll das mit dem „bürgerbewegten Protest“ gegen das Bahnhofsprojekt in Stuttgart zu tun haben?

Erst mal gilt es festzuhalten, dass hier eine ganze Menge lohnabhängiger „Bürger“ sich in ihrer Kommune in eine wichtige Investitionsentscheidung einmischen und ihren Protest gegen Bundesbahn und Landesregierung auf die Straße tragen. Sie greifen mit anhaltendem Widerstand in die Entscheidungsmacht von Landesregierung und Konzern ein.

Nein, von einem Willen zu sozialer Revolution ist diese Bewegung sicher nicht getragen, aber sie tut etwas, was den Rahmen repräsentativer bürgerlicher Demokratie im Ansatz sprengt. Sie beugt sich nicht einfach zentraler staatlicher Macht und der Investitionsentscheidung eines großen kapitalistischen Konzern.

Der Ort dieses Widerstands ist die Kommune; eine Kommune, fest eingebunden in den bürgerlichen Staat, beherrscht durch zentral-staatliche Gewalten und weit entfernt davon, eine Kommune im Sinne der Pariser Kommune zu sein. Aber wenn das anti-staatliche Konzept der Pariser Kommune zum tragen kommen soll, dann muss der Kampf auf kommunaler Ebene ja irgendwie beginnen. Stuttgart 21 ist ein Ansatz für einen solchen Kampf. Solche Kämpfe müssten sich ausweiten, wobei es unter anderem um folgende Ziele ginge:

  • Kommunalisierung von Energieversorgung (die Anti-AKW-Bewegung wäre der Boden für einen solchen Kampf)
  • Kommunalisierung der Lebensmittelversorgung
  • Kommunalisierung des Transportwesen
  • Kommunalisierung des Bildungswesens
  • schließlich Kommunalisierung aller Staatsfunktionenen, einschließlich der Militärgewalt

Diese Perspektive einer anti-staatlichen Kommunalisierung wäre jedoch nur dann ein Schritt in Richtung wirklicher Selbstverwaltung, wenn er verbunden wäre mit den radikaldemokratischen Prinzipien der Pariser Kommune (jederzeitige Abwählbarkeit der Volksvertreter etc.)

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.