Rückblick auf jüngste Ereignisse und Kommentar
EU-Abschottung: Verstärkte Frontex–Flüchtlingsabwehr beschlossen – und ein Frontex- Grundrechtsbeauftragter angekündigt. Gegen Flüchtlingsabwehr protestieren!

von Birgit v. Criegern

7-8/11

trend
onlinezeitung

Im Nachrichtenticker mit europaweiten Medien bei „Borderline-Europe“  (www.borderline-europe.de) gehen täglich Berichte von den Dramen im Mittelmeer und auf den Seewegen in Richtung Europa ein sowie die Nachrichten von der Grenzüberwachungsagentur Frontex. Deren Verstärkung wird zwar derzeit auch kritisch von etlichen Tagesmedien gesehen, wobei diese aber ausschließlich mit dem ( quasi „andererseitigen,“ , „ausgleichenden“) Fehlen von Hilfsmaßnahmen seitens des Europaparlaments argumentieren. Besonders den Frontex-Diskurs möchte ich genauer betrachten. Oftmals werden in der öffentlichen Sprache bedenklicherweise doch kriminalisierende Begriffe aus dem Außenministerium und aus rechtspopulistischen Spektren ( dänische Volkspartei u. a.) übernommen, wonach „Illegale“, „Kriminelle“, und „Drogenhändler“ sowie „Schleuser“ mit Frontex abgewehrt würden. Ein Sprachgebrauch, der nach meiner Ansicht eine Leugnung von Flüchtlingselend und wirklichen Fluchtursachen beinhaltet und zu einer gefährlichen Kriminalisierung und Anonymisierung in Kollektiv-Schlagworten über das Objekt von MigrantInnen führt ( die aus diversen menschlichen und zivil notwendigen Gründen fliehen wie Kriegen, gewaltsamen innenpolitischen Konflikten, „Arabischer Frühling“, ökologische Zerstörung des Landes durch die reichen Industriestaaten z. B. in Regionen Somalias, in denen europäische Nuklearabfälle verklappt werden etc.), während bei solcher Kollektivierung eine Art europäische Volksgemeinschaft als Rechtstiftende und als Definitionsmacht über „Kriminalität“, „Legalität“ und auch über „Grundrecht“ bestärkt wird. Solch ein Diskurs ist abzulehnen.

Darüber hinaus ist immer wieder daran zu erinnern, dass die bloße Existenz der Abwehrstruktur, wiewohl sie jetzt schon rund sieben Jahre andauert, keine Gewöhnung von der europäischen Zivilgesellschaft erfahren darf. Es ist immer wieder von der Seite der Opfer aus zu sprechen, und die Existenz der Abwehr-Institution als eine errichtete Struktur und eine andauernde Schande anzuprangern. Deshalb möchte ich auch einigermaßen wachsam über den derzeitigen Diskurs über Frontex urteilen, in dem sich die Gefahr einer medialen Gewöhnung an diese Einrichtung abzeichnet.   

Zweierlei ist festzuhalten: Die jüngst beschlossene Erweiterung der Frontex-Agentur verdient die Empörung und braucht den Widerspruch der europäischen Gesellschaft. Und das jetzt öfter verlautende Wort von Grundrechts-Monitoring im Zusammenhang mit der Agentur benötigt eine ernste Hinterfragung.   

Verstärkte Flüchtlingsabwehr wurde am 23. Juni von den Staats- und Regierungschefs beschlossen, und das in der Zeit, in der die NATO in Libyen Kriegs- und Bomben-Einsätze befehligt. Die Grenzsicherungsagentur Frontex soll mehr Kompetenzen erhalten; so soll sie künftig von den Mitgliedsstaaten Beamte für ihre Einsätze verpflichtend anfordern können (bislang war die Agentur von schwankenden Mitarbeiten abhängig), und während sie bisher materielle Ausstattung mit Hubschraubern, Schiffen und Fahrzeugen ausleihen musste, soll nun eine eigene Ausstattung ermöglicht werden.

(Zugleich wurde auf EU-Ebene festgezurrt, was Innenkomissarin Cecilia Malmström Wochen zuvor angekündigt hatte, Berlusconi und Sarkozy rasch Folge leistend: Die Regelung, Schengen-interne Grenzkontrollen aufgrund vermeintlicher Flüchtlingsproblematik zeitweise und „nur unter außergewöhnlichen Umständen“ wieder einzuführen – die Kriterien für solche Umstände sollen bis zum Herbst von der EU-Kommission erarbeitet werden. )  

Das Sterben im Mittelmeer indessen geht weiter, und es stand nicht auf der Agenda in Brüssel, umfassenden Mitteln zu Lebensrettung, Bergung und Asylgewährung für die Menschen aus Subsahara und Nordafrika, die täglich zum Seeweg getrieben werden, entgegenzusehen.

Seit Anfang des Jahres sollen nach Schätzungen italienischer Medien mindestens 1600 Schutzsuchende aus Libyen im Mittelmeer gestorben sein, und bekanntermaßen liegt die Opferzahl der im Mittelmeer seit 1996 Ertrunkenen gut zehnmal höher. 

Doch der Beschluss auf dem Gipfel vom 23. Juni steht eher im Zeichen eines europäischen „Weiter so - mit Abschottung !“ – „Weiter so!“ signalisierten die Staatsoberhäupter, was die Ziele der Grenzüberwachungsagentur im Mittelmeer betraf, und „weiter so!“ übrigens auch mit Dublin II, wie die deutsche Regierung schon anläßlich diverser Anfragen von Linkspartei und anderen SprecherInnen klarmachte: Dublin II, diese europäische Regelung, die permanent zu wesentlichem Anteil die schlimmsten Verhältnisse in griechischen und italienischen Flüchtlingslagern bedingt, aber die nicht politisch angetastet, und in den hiesigen Medienberichten oft bagatellisiert oder gar nicht besprochen wird. Wie hier noch mal betont sei: Wenn europäische SprecherInnen die Gesetze nicht mehr kennen wollen, die Europa selbst mal (in 2003) zum großen Nachteil der Asylfreiheit gemacht hat, wird es natürlich einfach, von einer „Flüchtlingsschwemme“ zu fabulieren, wenn in Italien und Griechenland die Lager überfüllt sind, indes die dort anlandenden Menschen verpflichtet werden, im Erststaat zu bleiben. Einerseits: Ja, es befahren mehr Flüchtlinge seit dem „Arabischen Frühling“  die gefährlichen Fluchtrouten nach Europa und landen auch an. Andererseits ist die Zahl, wie immer wieder von Flüchtlingsbeauftragten, z. B. EU- Hochkommissar Antonio Guterres, betont wird, mit Leichtigkeit verkraftbar für die 500 Millionen europäischen EinwohnerInnen, und die Überfüllungen in den Lagern der südlichen Länder gehen nun mal auf das Konto von Dublin II. ( Beispielsweise ging ein Beitrag des „Fakt“-mdr-Magazins im ARD knapp am Problem vorbei, indem es zwar das Flüchtlingselend im griechischen Patras aufzeigte, aber die Dublin-II-Regelung nur marginal erwähnte. So stand der Beitrag eher im Lichte der aktuellen Diskussion um griechische Haushaltshilfen und der Frage nach Sanktionen, und ließ die erbärmlichen Verhältnisse in den Flüchtlingsbaracken als griechisch- hausgemachtes Problem aussehen.) In dieser Hinsicht rang sich die deutsche Regierung zu nichts mehr durch, als zu einer vorübergehenden Behörden-Empfehlung, von Rückführungen in die überlasteten Länder derzeit abzusehen. 

Protestierende Sätze, erschütterte Äußerungen hingegen kamen von NGO `s und Flüchtlingsbeauftragten, als die politische Einigung auf mehr Frontex bekannt wurde: So äußerte die Organisation Pro Asyl, erschüttert zu sein. „Eine Schande“ sei dieser Beschluss, kommentierte auch die Vereinigung der Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges, IPPNW, bedenke man, dass UNHCR schon Wochen zuvor an die EU-Staaten appelliert hätte, Menschen, die derzeit den Ausweg aus den libyschen Kriegswirren suchen, aufzunehmen – die Rede war von 15 000. Und es war schließlich seitens des Hochkommissars Antonio Guterres energisch geäußert worden, dass von einer vermeinten „Flüchtlingswelle“ keine Rede sein könne. Aber was die deutsche Regierung betrifft, hatte sie sich nur bereiterklärt, 150 Menschen, die in Malta gestrandet sind, vorübergehend aufzunehmen.  

Der IPPNW-Vorsitzende Michael Jochheim kritisierte außerdem die deutsche Regierung, die der NATO Technik und Bauteile für Bomben im Libyenkrieg in Aussicht stellte: „Das konterkariert eine Verhandlungslösung des Konflikts“. Solche kritischen Töne wurden überwiegend in den kleineren Zeitungen und Randmedien transportiert, wie der Saarländischen Online-Zeitung.

Und einzelne regionalen Initiativen wie z. B. die Bezirksversammlung von Hamburg-Altona forderten die Aufnahme von mehr Flüchtlingen aus Krisenregionen vom Bundesrat.

Und noch zitiert sei die schlichte Wahrheit, die das Hilfswerk von Caritas international formulierte: „Ließe Europa mehr Zuwanderung zu, müßten weniger Menschen ihr Leben auf gefährlichen Überfahrten gefährden.“ (presseportal 29.6.) 

Bei diesem Stand der Dinge ist es wichtig, dass in der Gesellschaft diesseits der europäischen Außengrenzen keine Beruhigung eintritt über die technische Grenzüberwachung, sondern dass die Abwehr von Flüchtlingen skandalisiert, und stetig nach den Ereignissen, die sich abspielen, gefragt wird. Und, um von meiner Perspektive aus nochmal zu verdeutlichen, was in medialen Berichten manchmal zusammenfällt: Es sind zwei Punkte an der neuesten Ausrichtung in der Festung Europa zu kritisieren: Erstens, dass keine Aufnahme (die diesen Namen verdient) von Flüchtlingen und Erleichterung der Asylwege erfolgte. Und zweitens die Frontex-Erweiterung. 

Doch solle der Agentur Frontex laut Ankündigung in Brüssel zukünftig auch ein „grundrechtliches Beraterforum“ beigeordnet werden. Die Agentur, einzelne politische Entscheidungsträger und  FlüchtlingssprecherInnen hatten in den vergangenen Jahren mehr Kontakte miteinander aufgenommen, und es resultierte wohl hieraus, dass sich nun ein „Experten-Forum“ entwickeln solle, über dessen Formierung Ende Juni aber nichts Genaueres mitgeteilt wurde. Dass es einige quere Verstrebungen zwischen Flüchtlingsschutz und Frontex sowie Politik gibt, ist eine jüngere Entwicklung dieser Jahre gewesen. Ein Nutzen in der Zielsetzung der Flüchtlingsschutzorganisationen an den Außengrenzen, besonders von  „Borderline-Europe“ mag auf der Hand liegen: Die unmittelbar involvierte und vor Ort tätige Flüchtlingsschutzorganisation kann durch Mitteilung an die Verantwortlichen wenigstens die schlimmsten Mißstände formulieren und deren rasche Abhilfe einfordern, vielleicht auch Druck ausüben. Es geht um konkrete Verhältnisse, in denen Leben gerettet werden können.

Aber was schwerlich im Kalkül der politischen Abwehr-ExpertInnen fehlen dürfte und eine künftige Gefahr sein könnte, ist, dass die Agentur in der öffentlichen Berichterstattung mit einem „Beraterforum“ künftig einen „Image-Katalysator“ erhalten kann, und dass im  gesellschaftlichen staatsbürgerlichen Bewußtsein eine Beruhigungswirkung eintritt, sich die Abwehr-Agentur also etabliert. Und deshalb ist von anderer Seite, von medialer Seite und von ebenso von Basisorganisationen, entschieden gegen eine solche Etablierung anzugehen.

Diesbezüglich: Ein verordneter Double-Bind spricht für mich aus der Pressemitteilung der Grünen. Aus ihren Reihen war in den vergangenen Monaten die Frage gestellt worden: "Ist Frontex mit den Menschenrechten vereinbar?“ und eine Studie erarbeitet worden. Und, wie schon öfter im politischen Bereich, zeichnet sich mit der Fragestellung einer bestimmten SprecherInnengruppe bereits die Entwicklung ab - natürlich kam kein klares Nein heraus. Mit ihrem Resultat hatte der Grünen-Innenausschuß eine Stellungnahme erarbeitet, um somit im EU-Parlament in die Tagung vom 23. Juni. Aus der Grünen-Pressemitteilung vom selben Tag: 

"Das Parlament konnte einige Forderungen im Bereich der Menschenrechte durchsetzen. So wird es, wenn Parlament und Rat noch offiziell zustimmen, die Verpflichtung für FRONTEX geben, Operationen abzubrechen, wenn es zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Zudem werden der Agentur ein Menschenrechtsbeauftragter und ein in Menschenrechtsfragen beratendes Gremium zur Seite gestellt. Abschiebeflüge sollen in Zukunft gemonitort werden und das Parlament soll mehr Informationen als bisher erhalten. Diese Verbesserungen können aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Vereinbarungen oft nur vage formuliert sind und viel Spielraum lassen. (…)“ 

Die Institution indessen wird beibehalten und die deklarierten Zielsetzungen werden beibehalten. Nun ist das erstmal haarsträubend, was der europäischen Gesellschaft hier als Verbesserung angedreht wird: „Einige Forderungen im Bereich der Menschenrechte“ wurden also durchgesetzt – welche denn nicht? Und warum nicht – wurden die entkräftet, oder einfach mal so fallen gelassen? Also ist einer Fortführung von Frontex mit etwas mehr Menschenrechten, aber nicht allen, ins Auge zu sehen? Wie ist eine gemonitor-te Abschiebung vorstellbar? Warum soll ein parlamentarisch verordnetes Monitoring vertrauenswürdig sein, solange innenpolitisch Flüchtlinge, die ihre Abschiebung verhindern, kriminalisiert werden?

Wie spielerisch hab ich mir den Spielraum zu denken, über den hier „nicht hinwegzutäuschen ist“? Offenbar kann es für die SprecherInnen einen Spielraum bei der Einhaltung von Menschenrechten geben. Soll in diesem Spielraum noch etwas stattfinden, oder ist der dann künftig von moralischen Appellen auszufüllen ( die in der Presse allerdings immer sehr gut ankommen)? Viele Fragen, während ich aber nicht vergessen will,  dass dieser Diskurs eine gedankliche Fußfalle ist. Abschiebungen, ob mit oder ohne Monitoring, sind zu stoppen! Frontex ist abzuschaffen! Die Ausrichtung der Ländergemeinschaft unter dem Begriff von Europa bzw. Schengen, die hier passiert und sich an eine solch unsichere Definition von Menschenrechtswahrung ( s. o.) bindet, während gleichzeitig die Kriterien für die Frontex-Erweiterung schon konkret eingetütet werden, ist für mich nicht hinnehmbar. 

Noch mal einen Blick auf diese Diskursführung gerichtet: Schon die Logik in der Zusicherung, die jetzt am 23. Juni erfolgte, empört mich , nachdem die Agentur bereits 6 Jahre lang bestand und tätig war: Das erinnert an die Logik der Bundesregierung, die nach der Fukushima-Atomkatastrophe „Stresstests“ für AKW zusicherte, uns also einer "sicheren" Atomkraft entgegenblicken ließ, während wir bislang unvermutet doch noch mit unsicherer Atomenergie gelebt hätten. Denn über die vergangenen Jahre hatte die Agentur am 23. 6. keineswegs Rechenschaft abgelegt- diese Rechenschaft wird derzeit noch von diversen Stellen eingefordert (siehe unten). Und auch die Erinnerung an die Berichte von Organisationen über Vorgänge im ägäischen Mittelmeer in 2008, wo Grenzbeamte Flüchtlingen ihre Trinkwasservorräte wegnahmen und diese auf Steininseln ihrem Schicksal überließen, ist mir noch gewärtig.  

Dabei ist hier hinzuzufügen, dass der fragliche Grundrechtsbeauftragte, der Frontex laut der neuerlichen Vereinbarung dauerhaft zur Seite stehen solle, wie Pro Asyl berichtete (und wie nur in wenigen Mainstream-Medien zu lesen stand), „ allerdings, anders als das EU-Parlament ursprünglich gefordert hatte, kein unabhängiger Beobachter, sondern selbst ein Frontex-Mitarbeiter sein soll.“  

Wenn mensch die erklärten Ziele der Frontex-Agentur von deren Homepage einsieht, bleibt meines Erachtens ein gesunder Aufschrei nicht aus, der fragen läßt: Inwieweit soll eine Grundrechts-Wahrung mit der Koordinierung von Abschiebeflügen vereinbar sein? Oder mit den „zusammengeführten Operationen zwischen Mitgliedsstaaten und anderen Staaten, um Grenzsicherheit an den Außengrenzen zu stärken“?  Wie soll ein Abbruch von Operationen, „wenn es zu Menschenrechtsverletzungen kommt“ ( so unsicher sind die Ausgangssituationen also) – laut dem Grünen-Entwurf -  vorstellbar sein?

Abschiebungen sind hingegen abzuschaffen, denn der Opfer von Abschiebungen und Rückführungsabkommen waren schon viel zu viele, wie beispielsweise die syrischen Kurden, die nach dem deutsch-syrischen Rückführungsabkommen von 2009 ( das trotz Protesten der kurdischen DemokratInnen und deutscher Flüchtlingsorganisationen umgesetzt wurde) in Syrien in Haft landeten und gefoltert wurden ( Berichte von Pro-Asyl und Antirassistischer Initiative Berlin). 

Es ist klar: Eine Umkehr zu fordern, bleibt die Sache der zivilgesellschaftlichen Proteste und der Selbstorganisationen und Flüchtlingsorganisationen. Und von diesem Standpunkt aus ist eine Gegenöffentlichkeit zu schwammigen und diplomatischen Presseberichten zu errichten. Die Vorgänge im Mittelmeer und an den Außengrenzen sind zu verfolgen und zu berichten, wie die Vorgänge in den libyschen Auffanglagern in der Sahara. Denn was die „zusammengeführten Operationen“ mit Nicht-Mitgliedsstaaten betrifft, beinhalteten sie bislang auch das italienisch-libysche Freundschaftsabkommen zur Rückführung von Flüchtlingen, die Gaddafis Wächtern übergeben wurden.  Menschenrechtsverletzungen in den libyschen Lagern wurden von der Selbstorganisaion Association Malienne pour les Expulsés (AME) in Mali dokumentiert, die regelmäßig die rückgeführten Menschen aus Subsahara nach ihren Erlebnissen befragte. Jene, die Flüchtlingsorganisation AME, drängt seit ihrer Aktivität und ihren Erfahrungsberichten auf Entschädigung für die Opfer und auf einen Stop der Abschiebungen und der Frontex-Tätigkeiten im Mittelmeer und an den Grenzen der EU-Abkommenspartner wie Libyen und Algerien, Tätigkeiten, welche von AME als völkerrechtswidrig und als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention bezeichnet werden. 

Die EU-Politik strebt jetzt auch die Wiedererrichtung der Kontrolle der libyschen Südgrenze an, also die Flüchtlingsabwehr, die zuvor mit Muammar Gaddafi vereinbart war, wieder mit anderen Staatsleuten ne auszurichten   (Focus-Mitteilung). 

Bemerkenswert ist auch, vor welchem Hintergrund das „weiter so“ in Brüssel signalisiert wird: Es war wenig später nach dem Bericht von „The Guardian“, dass ein Boot im Mittelmeer am 8. Mai kenterte und dass 61 von den Menschen, die aus Libyen aufgebrochen waren, ertranken. Und während der Europarat noch ankündigte, dass die Praxis der Frontex-Boote, welche dabei in den Gewässern unterwegs waren und möglicherweise die Hilferufe gehört haben könnten, untersucht werden müsse, steuerten die Regierungschefs in Brüssel auf ihre Entscheidung hin, die besagte Agentur mit mehr Kompetenzen auszustatten- plus dem besagten Beraterforum.

Und es ist der Moment, in dem Flüchtlinge in einem beispiellosen Prozeß aufgrund einer Rückführung nach Libyen den italienischen Staat anklagen. Eine sehr aufschlußreiche Mitschrift vom Prozeß gibt die kritische schweizerische Wochenzeitung www.woz.ch am 30.6. Auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention klagten 24 Migranten aus Somalia und Eritrea in Straßburg. Sie waren in einer Gruppe von 227 Flüchtlingen in drei Booten am 6. Mai 2009 von der italienischen Grenzpolizei Guardia di Finanza nahe Lampedusa aufgegriffen worden. Bei zufälliger Anwesenheit von zwei Journalisten auf einem Schiff der Grenzpolizei wurde damals festgehalten, was passierte: Die Grenzer bargen die Flüchtlinge aus dem Wasser, führten sie aber zurück in den Hafen von Tripolis. Die Betroffenen waren so verzweifelt, dass sich einige von ihnen nackt auszogen und drohten, sich ins Wasser zu stürzen.  

„Sadek Hirsi Jamaa und weitere Kläger,“ die betreffenden 24 von den Abgeschobenen, verwiesen im Prozeß auf ihr Recht auf Asylantrag, das wahrzunehmen sie auf dem Patrouillenboot verhindert worden wären - so äußert einer ihrer Anwälte, die italienischen Behörden hätten von ihnen Papiere des UNHCR konfisziert, die ihren Status als Flüchtlinge bescheinigten. Und sie klagten außerdem gegen den Verstoß gegen das Non-Refoulement-Prinzips durch die italienische Patrouille.  

Zu bemerkenswerten Aussagen der Verteidiger Italiens zählen etwa die Sätze: „Italien hat sich gemäss den Richtlinien der EU zur Abwehr der illegalen Migranten verhalten. Es müßten sich, wenn schon, alle Staaten hier rechtfertigen.... Die Beschwerde ist als nicht zulässig zu erklären, weil keine Sicherheit über die Identität der Kläger und somit für eine individuelle Beschwerde besteht.“

In dem Prozeß, der am 22. Juni (sic! einen Tag vor der Brüsseler Frontex-Erweiterung) eröffnet wurde und in einem halben Jahr zu einem Urteil führen soll, erklärten die Verteidiger des italienischen Staates die Ereignisse vom fraglichen 6. Mai zudem als „Rettungsaktion“. Wie unzureichend solch ein Rettungsbegriff sein kann, zeigt sich jedoch, wenn man die Bedeutung und die weitere Erfahrung nach der Rückführung von den Klägern selbst hört. So der Anwalt der Flüchtlinge: „In Libyen wurden sie mit Gewalt gezwungen, das Schiff zu verlassen. Die Mobiltelefone wurden ihnen abgenommen. (…) Ich habe letzte Woche Ermias Berhane, einen der Kläger, getroffen. Er konnte während der Nato-Bombardements einmal mehr aus Libyen flüchten und hat es diesmal nach Italien geschafft. Er hat mir von seinem Aufenthalt im sogenannt sicheren Libyen erzählt: wie er in ein Lager für illegale Migranten geschafft wurde, wo er über ein Jahr gefoltert und misshandelt wurde, bis er beinahe starb. Die libyschen Behörden ließen ihn bloß frei, weil sie seinen toten Körper nicht brauchen konnten.“ (woz.ch) 

Die Klage der 24 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea zeigt, gemäß der furchtbaren Erfahrung von Ermias Berhane (und mutmaßlich noch anderer), der an die libyschen Folterlager ausgeliefert worden war, dass das europäische Abwehrprinzip selbst die Gefahr für Leib und Leben birgt und für die Betroffenen bringen wird, wenn es umgesetzt wird.   

Ein grundrechtliches Beraterforum für die Flüchtlingsabwehr-Institution wird meiner Ansicht nach die Dynamik für die politisch Verantwortlichen bringen – und dies kann kaum in ihrem Kalkül fehlen - dass sich der Abschottungsdiskurs aufrechterhalten läßt, in dem die europäische Seite den Nicht-Mitgliedsländern ihre Bedingungen diktiert, und in dem die Zivilgesellschaft der Nicht-Mitgliedsstaaten zu reagieren und sich anzupassen hat, aber nicht gehört wird. Und einen Abschottungsdiskurs, in dem die Gesellschaften der Abschiebungsopfer sich weiterhin den alten Verhältnissen zu fügen haben – in dem eben nicht die Forderungen der Organisationen wie AME, Mali oder REFDAF (Réseau des Femmes d`Afrique, Senegal), die ihre Position auf dem Weltsozialforum in Dakar 2011 sehr deutlich darlegten, wahrgenommen werden, nämlich die Forderung nach Bewegungsfreiheit für die MigrantInnen der afrikanischen Länder, nach einem Abschiebestopp und der Gewährung von Asylverfahren anstatt von Abwehr durch die GrenzbeamtInnen. Die alten Sprecherrollen bleiben erhalten. Das ist eine für machtanalytische, kritische Basisbewegungen nicht hinnehmbare Situation – deshalb hat auch Frontex weiterhin den Protest von der Seite solcher Bewegungen nötig.  

Dazu kommt ein Aspekt, den ich auch nicht für einen Nebenaspekt halte: Für die europäische Gesellschaft könnte sich die Tendenz durchsetzen, dass mit der Zusicherung von „grundrechtlichen Aspekten“ eine Gewöhnung an „die Institution Abwehr“ ( um es hier einmal so zu nennen) eintritt. Und dass Sprachdenkmäler von „kriminellen Flüchtlingen“ und von „Drogenhändlern“ und Schleusern, von „Illegalität“ im Zusammenhang mit Migration und Flucht weiterbefestigt werden und noch mehr als bisher eine Dichotomie von „guten“ und „schlechten Werten“ ( Nord-Süd) in der internationalen politischen Szenerie bringen. 

Deshalb muss die Forderung nach der Abschaffung von Frontex weitergehen. Die Flüchtlingsabwehr muss gestoppt werden. Darum sind erst recht von unabhängiger Seite und von Opferseite, von den Flüchtlingen und von beobachtenden Organisationen vor Ort die Vorgänge im Mittelmeer , vor dem Abschottungszaun und in den Abschiebelagern der Sahara zu dokumentieren und für jeweilige Vorgänge die Verantwortung Europas einzuklagen.
 

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.