ESF 2010: Das Europäische Sozialforum am politischen Abgrund

Bericht aus Istanbul von Martin Suchanek

7-8/10

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„Das Sozialforum ist noch nicht tot, es vermodert nur am eigenen Laib“, so fasste ein Teilnehmer ironisch-verärgert, das Europäische Sozialforum (ESF) 2010 zusammen. Und tatsächlich: Die Bilanz des diesjährigen ESF in Istanbul ist ernüchternd. Mit 2.000 bis 3.000 – nach besonders optimistischen Schätzungen 5.000 - TeilnehmerInnen war es das kleinste aller bisherigen Foren.

Rund die Hälfte der TeilnehmerInnen kam aus der Türkei und Kurdistan, die andere aus verschiedenen Ländern Europas. Vertreten war wie immer eine große Bandbreite der Linken des Kontinents - von der Gewerkschaftsbürokratie über reformistische Parteien bis zu radikalen Linken.

Warum so wenige?

Über weite Strecken fehlte die Massenbasis, die Präsenz von AktivistInnen aus Kämpfen, politischen Organisation, Kampagnen oder Parteien. Das lag sicher an der schlechten Mobilisierung zum Forum. Das ESF in Istanbul wurde zwar von einem großen Teil der politischen Linken in der Türkei getragen, von den radikaleren Gewerkschaftsverbänden DISK und KESK sowie von der kurdischen Befreiungsbewegung und vom mesopotamischen Sozialforum. In der Stadt war das ESF jedoch vergleichsweise wenig präsent. Die Mitglieder und AnhängerInnen der Gewerkschaften wie der linken Organisationen und der kurdischen Befreiungsbewegung blieben zum allergrößten Teil fern.

Auch außerhalb der Türkei war die Mobilisierung schlecht. Das lag auch am fehlenden Material, technischen und organisatorischen Mitteln.

Doch niemand sollte vergessen, dass der türkische Staat wie auch die kommunalen Behörden in Istanbul dem Forum feindlich und ablehnend gegenüberstanden. Niemand sollte vergessen, dass die Mittel des Organisationskomitees in der Türkei gering bis verschwindend waren. Insgesamt stand ein Büro von rund 10 Quadratmetern zur Verfügung, das mit vier Tischen, einigen Stühlen und alten Computern ausgestattet war und kaum über finanzielle Mittel verfügte.

Der entscheidende Grund für die geringe Mobilisierung lag und liegt unserer Meinung nach aber auf einem anderen Gebiet. Zu keinem Zeitpunkt war klar, warum tausende AktivistInnen überhaupt kommen sollten, welche Beschlüsse, Initiativen usw. vom Forum ausgehen sollten, die den Kampf gegen die Krise, gegen den Krieg gegen das kurdische Volk oder die imperialistischen Kriege und Besatzungen im Nahen und Mittleren Osten voranbringen sollten.

Viele tauchten einfach nicht auf, weil das Europäische Sozialforum und viele seiner lokalen Ableger - darunter aus das Sozialforum in Deutschland - für die meisten aktuellen Kämpfe und Mobilisierungen längst keine Rolle mehr spielt. Auch wenn es momentan der einzige „Raum“ auf europäische Ebene ist, wo Tausende zusammentreffen und hunderte VertreterInnen verschiedener Organisationen die Koordinierung des Widerstandes vorantreiben können, so zeigte sich in Istanbul auch, dass eine große Mehrheit der informellen Führung des ESF, der dominierenden Kräfte aus linken Gewerkschaften, von attac, auf Vereinigungen, die der europäischen Linkspartei nahe stehen usw. das einfach nicht wollen.

Inhalt der Foren 

Das drückte sich auch in einem, auf den ersten Blick eigenartigen Widerspruch auf dem Forum aus.

Auf rund einen Drittel der etwa 200 Seminare wurde über die Krise und ihre Ursachen, über die Bilanz und Erfahrung von Kämpfen berichtet, aber auch über die Frage nach möglichen Alternativen zum Kapitalismus diskutiert. Weitere Schwerpunkte waren die Frage der Angriffe auf das Bildungssystem, auf die Jugend, auf Frauen, der Kampf gegen den imperialistischen Krieg wie auch gegen die zionistische Besetzung Gazas und die Solidarität mit Befreiungskämpfen wie jenen des palästinensischen und kurdischen Volkes.

In vielen Seminaren und Versammlungen wurde dabei immer wieder auf die Notwendigkeit entschlossener Aktionen verwiesen. Die Bewegung gegen die Krise müsse über Demos hinausgehen zu unbefristeten Streiks usw. Der Kampf müsse sich nicht gegen einzelne „Auswüchse“ des Kapitalismus, sondern gegen das kapitalistische System selbst richten, das sich in einer historischen Krise befinde. Daher wurde auch immer wieder der Ruf nach eine internationalen Koordinierung des Widerstandes laut.

Einzelne thematische Versammlungen sozialer Bewegungen oder von Netzwerken im Rahmen des ESF - so die Abschlussplena des „Education networks“ wie die „anti-imperialistische Versammlung, an deren Vorbereitung und Durchführung sich die „Liga für die Fünfte Internationale“ und REVOLUTION aktiv beteiligten - verabschiedeten auch Deklarationen in diese Richtung. 

Politischer Stillstand und Niedergang

Doch das waren nur Schritte in die richtige Richtung. Wenn das ESF auch politisch radikaler, linker, anti-kapitalistischer und interessanter war das vorhergehende Forum im schwedischen Malmö, so blieb es angesichts der aktuellen historischen Krise des Kapitalismus weiter hinter den Anforderungen des Klassenkampfes zurück, als fast alle bisherigen.

Das lässt sich am besten an der Abschlusserklärung erkennen. Dort heißt es: 

„Wir, die TeilnehmerInnen des ESF in Istanbul, bekräftigen, dass wir uns stark engagieren werden gegen jeden Krieg und jede Besatzung und wir sind für eine politische Lösung der Kurdenfrage. Wir haben uns auf die folgende Resolution verständigt:

Arbeiten wir gemeinsam zusammen in Europa gegen die Krise!

Im Rahmen der globalen Krise und angesichts der Offensive der EU, der Regierungen und des IWF (Weltwährungsfond) eine strenge Sparpolitik bzw. eine des sozialen Rückschritts durchzusetzen, haben die im ESF in Istanbul versammelten sozialen Bewegungen einen Aufruf zum gemeinsamen Handeln in Europa herausgegeben.

In ganz Europa bilden sich Mobilisierungen und Widerstandsbewegungen, um diese Maßnahmen in Frage stellen. Auf lange Sicht ist es dringend erforderlich, einen zusammenhängenden Kampf in ganz Europa zu entwickeln, der die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Verbände, Organisationen, Netzwerke und BürgerInnen zusammenbringt. Deshalb haben wir als ersten Schritt auf dem Weg zur Entwicklung von Mobilisierungen in ganz Europa einen Aufruf für den 29. September und die darum liegenden Tage herausgegeben.

Wir müssen alternative Maßnahmen entwickeln, die uns in die Lage versetzen, dass wir die sozialen Bedürfnisse und ökologischen Anforderungen erfüllen können.

Alle sozialen Bewegungen rufen zu einer europäischen Versammlung am 23./24. Oktober (bzw. 13./14. November) in Paris auf, um die Mobilisierung und Koordination unserer Bewegungen fortzusetzen, sie auszuwerten und über die Zukunft des ESF zu diskutieren.“

Diese Erklärung ist an Harmlosigkeit und politischer Unverbindlichkeit kaum zu überbieten. Sie offenbart das ganze Dilemma des Forums. Man konnte sich gerade darauf einigen, „um“ den 29. September herum etwas zu tun. Was, wofür, für welche Forderungen - all das bleibt offen. So wird die politische Initiative unwillkürlich dem europäischen Gewerkschaftsbund überlassen, statt den 29. September für eine Massenmobilisierung um klare Forderungen gegen die Krise zu nutzen und so den ETUC zu zwingen, über seine eigene lahme Mobilisierung hinauszugehen.

Wir - die Liga für die Fünfte Internationale - haben dazu folgendes Forderungsprogramm gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Massen vorgeschlagen: 

„(...) Daher ruft die Versammlung der sozialen Bewegungen alle Arbeiterorganisationen, Gewerkschaften und politische Parteien, soziale Bewegungen, die Jugend, Frauen- und Migrantenorganisationen dazu auf, sich in einem gemeinsamen Kampf auf dem ganzen Kontinent zu vereinigen: 

- Nein zu allen Kürzungspaketen von EU/EZB/IWF! Nein zu allen Kürzungen von Löhnen, Jobs, Renten, von Angriffen auf soziale Leistungen wie Bildung und Gesundheit! Streichung der Schulden von Griechenland und aller anderen Ländern, die durch die Krise und die Finanzmarktspekulation verarmt sind!

- Die Banken und großen Konzern müssen für die Kosten der Krise zahlen! Besteuerung der Reichen – nicht der LohnarbeiterInnen und Armen! Konfiskation der Vermögen der milliardenschweren Spekulanten, die die Krise nutzten, um enorme Reichtümer auf Kosten der Armen anzuhäufen! Um die Spekulation mit Devisen, Staatsanleihen und an den Aktienbörsen zu stoppen, müssen wir die Kontrolle über das Finanzssystem den privaten Unternehmen und Investment-Fonds entreißen. Entschädigungslose Enteignung der Banken und Finanzinstitutionen unter Arbeiterkontrolle!

- Stoppt die Massenentlassungen. Wir fordern Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust! Wir fordern die entschädigungslose Enteignung aller Unternehmen, die mit Schleißung, Entlassungen, Lohnkürzungen drohen, unter Arbeiterkontrolle!

- Stoppt die nationalistische und chauvinistische Kampagne gegen das griechische Volk! Internationale Solidarität mit den Kämpfen der griechischen ArbeiterInnen und Jugend!

- Aufbau von Anti-Krisen-Komitees und Bündnissen in jeder Städten oder Region und deren landesweite und internationale Koordinierung! Alle Gewerkschaften, alle Arbeiterorganisationen und –parteien, alle sozialen Bewegungen sollten sich solchen Aktionskomitees anschließen und gemeinsam direkte, kämpferische Aktionen organisieren: Massendemonstrationen, Solidaritätsaktionen in den Betrieben und Büros, Besetzungen, politische Massenstreiks!

- Die Abschlussversammlung des ESF in Istanbul schafft eine europaweite Koordinierung der Kämpfe gegen die Krise! Als ersten Schritt werden wir einen europaweiten Aktionstag mit Streiks und Massendemonstrationen gegen die Kürzungen und die Austeritätspakete im September 2010 organisieren!“

Als konkretes Datum schlugen wir vor, den 29. September zu einem solchen Tag zu machen.

Das wurde mit dem Hinweis abgelehnt, dass der Text „zu lang“ oder „nicht in der Sprache des ESF“ verfasst sei. An letzterem ist allerdings etwas dran. Wenn die „Sprache des ESF“ darin besteht, nichtssagende Formeln anzunehmen, so muss es eine Ende haben mit dieser „Sprache“. Genau damit wollen wir brechen, und damit muss das ESF brechen, wenn es eine politische Existenzberechtigung und einen realen Nutzen für die Kämpfe haben will.

Dazu muss es ein Ende haben mit der politischen Ausrichtung und Unverbindlichkeit, die hinter dieser Sprache liegt. Das ESF liegt - das hat Istanbul gezeigt - im Sterbebett. Ob es sich davon noch einmal erheben kann, ist fraglich. Doch gesunden kann es nur, wenn es seinen Beitrag leistet zum Kampf für ein Aktionsprogramm gegen die Krise, zur europaweiten, klassenkämpferischen Mobilisierung.

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel durch

ARBEITERMACHT-INFOMAIL
Nummer 495
5. Juli 2010


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