BELGIEN: Nationalistische Rechte in Flandern klare(r) Wahlsieger
„Moderater“ flämischer Separatist wird mit Koalitionsgesprächen zur Regierungsbildung in Brüssel beauftragt

von Bernard Schmid

7-8/10

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Auf den ersten Blick fühlt man sich um genau 30 Jahre zurückversetzt, in die Gründungsgeschichte der bundesdeutschen Grünen. Auf der Bühne steht ein beleibter Herr, den die bürgerliche Presse als „schlecht angezogen“ bezeichnen wird, um ihm ferner eine „unmodische Frisur“ zu attestieren. Der Mann und seine Umstehenden schwenken alle Sonnenblumen in die Kameras, um ihren Wahlerfolg zu feiern. Handelte es sich tatsächlich um einen Grünenpolitiker der frühen achtziger Jahre, die Fernsehkommentatoren würden sich unentwegt fragen, ob er nicht „eine andere Republik“ wolle. 

Doch der untersetzte Politiker – Jahrgang 1970, in den Sturm- und Drang-Jahren der deutschen Ökopartei wäre er also noch ein bisschen sehr jung gewesen – strebt nicht „eine andere Republik“ an. Korrekt müsste es lauten: Er strebt eine Republik und einen anderen Staat an. Nämlich durch den Austritt aus dem Königreich Belgien, besser gleich auch seine Abschaffung, und die Schaffung eines eigenständigen niederländischsprachigen Staates: Flandern.  

Und hier sind offenkundig auch schon alle Gemeinsamkeiten mit der einstmaligen westdeutschen „Protestpartei“ erschöpft. (FUSSNOTE[1]) Diese proklamierte damals inbrünstig Ideale wie „ökologisch, sozial, gewaltfrei und basisdemokratisch“ an und proklamierte, postnational zu sein, „global zu denken und lokal zu handeln“. Die schönen Utopien und das Globale sind dagegen die Sache des Bart de Wever nicht. Seine Ideale lauten: Nationalismus pur, Unser Geld bleibt hier!; und der Leitsatz vieler seiner Wähler könnte sinngemäb lauten: Was haben wir eigentlich mit den sozialen Problemen im anderen Landesteil, im – französischsprachigen – „faulen Süden“ Belgiens, also in Wallonien, zu schaffen? Na also. Soll man uns doch in Ruhe lassen damit! - Allerdings ist de Wever politisch geschickt genug, dieses Ressentiments zwar zu bedienen und zu befeuern, aber nicht mit offenen Hetztiraden gegen die französischsprachigen Belgier aufzutreten, die ihm noch zum Vorwurf gemacht werden könnten. Bart de Wever führte zwar in den letzten Jahren u.a. Agitprop-Aktionen durch, bei denen man ihn etwa am Lenkrad eines mit falschen, – offenkundig – ungültigen Geldscheinen prall gefüllten LKWs sitzen sah, „um den Skandal der Geldtransfers von Flandern nach Wallonien anzuprangern“. In der Öffentlichkeit spricht Bart de Wever jedoch stets von der Geldverschwendung, die durch die „bundesstaatlichen Strukturen“ verursacht würde, und attackiert verbal die Bundesstaatlichkeit Belgiens. Doch greift er in aller Regel die Empfänger von tatsächlichen oder vermeintlichen Netto-Transferleistungen, wie die wallonischen Sozialversicherten, nicht offen als solche, als Personengruppe an. 

Dieses Profil überzeugte am Sonntag, den 13. Juni dieses Jahres 28,2 Prozent der Wähler in der bevölkerungsreicheren Nordhälfte Belgiens, also in Flandern. So viele Stimmen erhielt die Partei des politischen Newcomers Bart de Wever dort. Im Jahr 2003 hatte die „Neue Flämische Allianz“ (N-VA), die man ungefähr als nationalistisch-konservativ einstufen kann, noch 3 Sitze im belgischen Bundesparlament eingenommen. Jetzt sind es ihrer 27.

 „Verdampfen“ der belgischen Bundesstaatlichkeit? 

Und das Verrückte ist: Noch vor kurzem hatte de Wever im Wahlkampf verkündet, sein Ziel für Belgien sei es, dieses „verdampfen“ zu lassen. Zwischen der Ebene der Europäischen Union und jener der Regionen, also Flandern und Wallonien (zuzüglich des Sonderfalls Brüssel und eines kleinen deutschsprachigen Zipfels an der östlichen Landesgrenze), solle der Bundesstaat einfach wegdampfen, verpuffen. In Bälde wird de Wever nun genau diesen Bundesstaat möglicherweise regieren oder mit regieren. Denn seit dem Wahlsonntag zeichnet sich eine Art von Yalta-Abkommen zwischen der Sozialdemokratie in der französischsprachigen Südhälfte, Wallonien, und der nationalistischen Rechten in Flandern ab: Jeder der beiden Wahlsieger bleibt in seiner Hemisphäre unangefochten Herr im Haus, um aber das Ganze auf übergeordneter Ebene irgendwie zu managen, schliebt man einen Pakt ab. Elio Di Rupo, der Chef der wallonischen Sozialisten, die in ihrer Landeshälfte die 30-Prozent-Marke überschreiten konnten, und de Wever lassen sich gegenseitig in Ruhe, versuchen aber irgendwie, den belgischen Gesamtstaat zusammen zu regieren. So lange er noch existiert. Eine solche Lösung zeichnet sich in den letzten Tagen bei den Konsultationen, die König Albert II. mit verschiedenen Parteien durchführt – und von den nur die offen neofaschistische flämische Rechte in Gestalt der Partei Vlaams Belang (Flämisches Interesse) ausgeschlossen blieb – immer deutlicher ab.  

Am Donnerstag, den 17. Juni 10 wurde Bart de Wever durch den belgischen König Albert II. „zum ,Informateur’ ernannt“, also zu Deutsch, mit den Koalitionsgesprächen zur Regierungsbildung beauftragt. Erwartet wird, dass diese in Bälde abgeschlossen sein werden, woraufhin – nach dem in Holland und Belgien geltenden Schema bei der Regierungsbildung - ein ,formateur’ eingesetzt wird, der danach dann das nächste Kabinett zusammensetzen wird. Diese Aufgabe dürfte nach derzeitigem Informationsstand möglicherweise vom wallonischen Sozialisten Elio Di Rupo übernommen werden. Spekuliert wird derzeit auch darüber, dass Bart de Wever mutmablich nicht den Posten des Regierungschefs übernehmen möchte, um keine Verantwortung für den belgischen (bundesstaatlichen) Laden insgesamt tragen zu müssen – dass aber seine eventuellen Koalitionspartner umgekehrt ggf. wohl darauf drängen werden, dass er mindestens des Amt eines Vize-Premierministers übernimmt und dadurch auch Verantwortung trägt. (Vgl. http://levif.rnews.be/ )

 Abdampfen dürfte, falls es wirklich zu einem erheblichen „gestaltenden Einfluss“ der flämischen Nationalisten auf die Geschicke des Landes kommt, im Endeffekt aber vor allem die belgische Sozialversicherung: Bart de Wever und seine Leute fordern ihre eilige Aufteilung in getrennte Kassen für das reichere Flandern und das – früher, zu Zeiten der Schwerindustrie bis in die sechziger Jahre, wohlhabendere und jetzt spürbar ärmere – Wallonien. Denn viele unter den Flamen - deren Sprache nach der Gründung Belgiens bis ins späte 19. Jahrhundert tatsächlich durch die rein französischsprachige Bourgeoisie vorübergehend unterdrückt worden war - spielen in Belgien zwar seit Jahrzehnten gerne die Dauerbeleidigten. Nur, dass ihre Landeshälfte, dank Häfen und Dienstleistungsindustrie, längt die mit Abstand reichere; und ihr einstiger Revanchewunsch längt zum Chauvinismus der (verhältnismäbig) Reichen ähnlich dem der italienischen Lega Nord geworden ist.

Die Sozialistische Partei (die vor allem im frankophonen Landesteil stark ist) schwingt sich bislang zum Garanten für eben diese Sozialversicherung auf. Ein Kompromiss zwischen den Vorstellungen der beiden Parteien, die künftig miteinander koalieren sollen, wirkt wie die sprichwörtliche Quadratur des Kreises. Oder wird ihnen das quasi Unmögliche, eine Annäherung der schier überbrückbaren Positionen, gelingen? In naher Zukunft kann man vielleicht beobachten, welchen Ausgang dieser Versuch fürs Erste nimmt. 

Eine Karriere, die weit rechts begann 

Der studierte Historiker Bart de Wever begann seinen Aufstieg in Kreisen der nazibelasteten äubersten Rechten, wo sein Vater – früherer Parteigänger der nazi-nahen Vereinigung VNV - schon seit Jahrzehnten aktiv war. Kurz nach seiner Geburt 1970 im flämischen Mortsel (oder, je nach Quelle, im zarten Alter von einem Jahr) schrieb sein Vater ihn als Parteiglied bei der damaligen flämischen nationalistischen Einheitspartei ,Volksunie’ – einer eher bürgerlichen Partei, die aber vor ihrem Regierungseintritt 1977 einen starken rechtsextremen Flügel aufwies, der sich daraufhin in den späten Siebzigern abspaltete – ein. Als Student der Geschichtswissenschaft an der Katholischen Universität Louvain firmierte de Wever 1991 und 92 gleichzeitig als Chefredakteur einer weit rechts stehenden Zeitschrift, die eher ein katholisch-reaktionäres Profil aufwies. Im Jahr des Abschlusses seines Studiums, 1996, traf er mit dem französischen Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen - damals ein wichtiges Idol bei flämischen Nationalisten - zusammen[2], Fotos von ihrem damaligen Händedruck befinden sich noch heute im Umlauf. Und noch im Jahr 2007 griff er die Kommunalregierung von Antwerpen, der flämischen Metropole, an, nachdem diese eine Entschuldigung für das Verhalten ihrer Stadt gegenüber den örtlichen Juden im Zweiten Weltkrieg formuliert hatte. De Wever nannte diese Entschuldigung „grundlos“ und rein parteipolitisch motiviert[3].

Aber de Wever steht heute durchaus nicht auf dem offen profaschistischen Rechtsaubenflügel. Vielmehr ist es ihm gelungen, den Nazi-Bewunderern, die es in Flandern nicht zu knapp gibt und die sich weitgehend im Umfeld des Vlaams Belang bewegen, zumindest vorläufig politisch den Wind aus den Segeln zu nehmen. -Ähnlich, wie es Nicolas Sarkozy 2006/07 durch schneidiges Auftreten und Sprüche vorübergehend bei den Parteigängern Jean-Marie Le Pens gelungen war, auch wenn dies schon wieder Schnee von gestern ist.

Dabei hat die „Neue Flämische Allianz“ ideologisch kein rechtsextremes Gesamtprofil. Auch wenn es ihr (ähnlich wie Sarkozys Regierungspartei UMP in den Jahren 2007 bis 09) gelungen ist, in ausgewählten, zentralen Punkten – in ihrem Falle etwa der Frage der flämischen Ansprüche gegen den Zentralstaat Belgiens – Signale zu setzen, die die rechtsextremen Wähler anziehen. Die N-VA tritt für Pro-EU-Positionen ein, während der Vlaams Belang (ähnlich wie andere rechtsextreme Partei) die Europäische Union in ihrer jetzigen Form als supranationalen Verbund ablehnt. In der Einwanderungsfrage fordert die N-VA ähnlich wie andere (bürgerliche) flämische Partei eine bessere „Integration“ der Einwanderer, und verlangt von ihnen eine gewisse Anpassung, während der rechtsextreme VB strikt für den Ausschluss der Einwanderer aus „dem Volk“ eintritt. Bei den letzten Wahlen traten je eine türkisch- und eine marokkanischstämmige Kandidatin für die N-VA an und wurden auch gewählt. Solches wäre beim Vlaams Belang wohl undenkbar.

N-VA im Aufwind, faschistische extreme Rechte im Absinken

Die N-VA ist eine neue Partei, sie entstand 2001 aus den Trümmern der früheren bürgerlich-nationalistischen Einheitspartei in Flandern seit den fünfziger Jahren, der ,Volksunie’ (vgl. Info-Kasten) , von der sich auch der rechtsextreme spätere Vlaams Blok und heutige Vlaams Belang ab 1977/78 abgespalten hatte. Im zurückliegenden Jahrzehnt war die „Neue Flämische Allianz“ vor allem, als Koalitionspartner auf ihrer Rechten, mit den flämischen Christdemokraten (CD&V). Im Unterschied zu den flämischen Christdemokraten und auch den Liberalen von der OpenVLD möchte Bart de Wevers Partei aber nicht nur wirtschaftliche Vorteile durch stärkere Vollmachten seiner Region, zu Lasten des belgischen Bundesstaats, herausholen. Er strebt (jedenfalls im Prinzip) wirklich an, Letzteren zu überwinden und zu einer weitgehenden Autonomie oder völligen Unabhängigkeit Flanderns zu gelangen. Wie genau, das steht historisch noch offen.

Die ,Volksunie’
Die ,Volksunie’ wurde im Dezember 1954 gegründet, als Nachfolgerin der « Christlichen flämischen Volksunie », die bei den Parlamentswahlen im April 1954 als Wahlkartell flämischer Nationalisten angetreten war und einen (einzigen) Sitz erobert. Es handelte sich um das erste Wieder-Auftauchen des flämischen Nationalismus als politische Kraft nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Verlauf er aufgrund massiver Nazikollaboration vieler seiner Anhänger zunächst auf Jahre hinaus diskreditiert worden war. Die ,Volksunie’ nahm ungefähr den Platz einer christlichen (christdemokratischen) « Volkspartei » ein und hatte gleichzeitig ein flämisch-nationalistisches Profil. Infolge ihres ersten Eintritts in eine belgische Bundesregierung, 1977, verlor sie viel an politischer Dynamik, und ihr verbliebener rechtsextremer Flügel spaltete sich ab, um die « Flämische Volkspartei » unter Lode Claes zu gründen. Letztere vereinigten sich kurz darauf mit der « Flämischen Nationalen Partei » unter Karel Dillen, die sich ihrerseits schon 1971 von der « zu links » gewordenen ,Volksunie’ abgespalten hatte, um gemeinsam den Vlaams Blok zu gründen. Die ,Volksunie’ selbst deckte mit ihren Positionen zeitweilig auch das sozialdemokratische oder Mitte-Links-Spektrum mit ab. Dies wurde erheblich dadurch erleichtert, dass aufgrund der Sozialstruktur Flanders dort keine etablierte Linke oder Sozialdemokratie von Gewicht existiert, denn die flämische Sozialistische Partei befand sich stets in einer Minderheitsposition: Die belgische Bourgeoisie hatte im 19. und frühen 20.
Jahrhundert in Flandern stehts die Enstehung industrieller Zentren verhindert, weil sie die Entwicklung einer stärkeren Arbeiterbewegung unterbinden mochte, und die vorhandenen industriellen Produktionen bewusst und gezielt über kleinere Städte verteilt. Der politische Flügel der Arbeiterbewegung, der sich überall gegenüber kleinbürgerlichen und bürgerlichen politischen Kräften in der Minderheit befand, wurde auf diese Weise in seiner Entwicklung behindert. Daraus resultierte langfristig eine weitgehend politische Hegemonie der Rechten (unterschiedlicher Schattierungen) über Flandern.

Von Juli 2008 bis zum 22. September 2008 war die N-VA, an der Seite der flämischen Christdemokraten, auch Regierungspartei auf regionaler Ebene und war mit ihrem Minister Geert Bourgeois in der Regionalregierung Flanderns vertreten. Ihr Aufstieg vollzog sich in den letzten Jahren zum Teil auch auf Kosten des mittelbar aus einer Nazi-Kollaborateurstradition kommenden Vlaams Belang. Der VB, damals die einzige offen separatistische politische Kraft in Flandern, erzielte bei den flämischen Regionalparlamentswahlen vom 13. Juni 2004 noch satte 24 Prozent in der Region. (Am 15. November desselben Jahres, und infolge einer Einstufung der Partei durch den Obersten Gerichtshof als „rassistisch“ - ein Urteil, das für den Stopp der staatlichen Parteienfinanzierung für den Vlaams Blok führte - änderte die rechtsextremen Partei ihren Namen in Vlaams Belang, „Flämisches Interesse“.) Auf bundesstaatlicher Ebene hatte der VB bei den Parlamentswahlen am 10. Juni 2007 noch 19 Prozent der flämischen Stimmen eingesammelt. Bei der Wahl zum flämischen Regionalparlament vom 07. Juni 2009 waren es „nur“ noch 15,3 % der Wählervoten. Jetzt fiel er, im Juni 2010, auf 12,6 Prozent der in Flandern bei der Wahl zum Bundesparlament abgegebenen Stimmen.

Hinzu kommt noch eine weitere, als rechtspopulistisch eingestufte Kraft, die nach ihrem Chef benannte „Liste Dedecker“ (LDD)[4], die sich teilweise an Sarkozy und Silvio Berlusconi orientiert. Sie macht auch schon mal mit dem „Ausländerthema“ Wahlkampf, wie ansonsten nur der Vlaams Belang, während sie bei der „Unabhängigkeitsfrage“ etwas leisere Töne spuckt als der VB oder auch die „Neue Flämische Allianz“. Reden die beiden letztgenannten Parteien mitunter offen einer Unabhängigkeit für Flandern das Wort, so ist bei der LDD eher von einer losen Konföderation – mit geringen Kompetenzen, und erweiterten Vollmachten der Regionen – die Rede. Die LDD wurde erst 2007 gegründet und hat dem rechtsextremen VB ihrerseits zeitweilig Wählerstimmen streitig gemacht. Sie stieg zeitweilig bis auf acht Prozent, erreichte aber bei der belgienweiten Parlamentswahl vom 13. Juni d.J. nur noch 3,7 Prozent. Beobachter addieren jedoch ihre Stimmen zu jenen für den Vlaams Belang und die N-VA hinzu und kommen dadurch auf ein Gesamtpaket für die „harte“ Rechte in Flandern von 45 Prozent.

Alle drei Parteien (N-VA, Vlaams Belang und LDD) demonstrieren auch mitunter zusammen. So am Abend des 22. April 10, an dem die bisher letzte belgische Bundesregierung unter Yves Leterme zurückgetreten war, in Vilvoorde in der Nähe von Brüssel. Am selben Tag hatte sich der Vlaams Belang eine einmalige Provokation geleistet: 30 Abgeordnete und Mitarbeiter sangen im Plenarsaal des belgischen Bundesparlaments - aus dem alle anderen Fraktionen protestierend auszogen - stehend die flämische Nationalisten-Hymne Vlaamse Leeuw (Der flämische Löwe). Währenddessen entrollten auf den Zuschauerreihen platzierte Anhänger im Publikum ein Transparent entrollten, auf dem das sofortige Ende Belgiens gefordert wurde und die Aufschrift stand: „Zeit für die Unabhängigkeit!“ Nun ermittelt die Verwaltung, wie es zu einem solchen offen „staatsfeindlichen“ Akt der Rechtsradikalen mitten im Parlament kommen konnte. Der belgische Gewerkschaftsbund FGTB gab in einer Erklärung bekannt, „schockiert“ zu sein. Zur selben Zeit riefen flämische Nationalisten vor dem Amtssitz des Premierministers: ,België barst’ (ungefähr: „Belgien soll zerbrechen“ oder auch „krepieren“).

Perspektiven

Die lautstärksten Schreier haben sich derzeit bei den Wahlen nicht durchsetzen können, sondern die Stimmbürger gaben der stärker institutionalisierten Variante des flämischen Nationalismus den Vorzug. Der Vlaams Belang erklärt jedoch, durch den Mund seines Chefs Filip de Winter, er könne keinerlei „ideologische Niederlage“ für sich erkennen. Denn während die extreme Rechte zurückging, steht der radikale flämische Nationalismus stärker denn je dar. Der VB bot der N-VA an den Tagen nach der Wahl seinerseits eine intensivere Zusammenarbeit an. Das wird die künftige Regierungspartei wohl vorläufig nicht annehmen. Aber wer vermag schon jetzt zu sagen, wohin sich ihre Wähler im Falle politischer Enttäuschungen richten werden? Flandern wird unterdessen zum Laboratorium, in dem unter den Augen Europas eifrig am Aufschwung eines überhitzten Nationalismus gearbeitet wird.

Auch im französischsprachigen Landesteil gibt es übrigens Nationalisten, die auf ein Ende des belgischen Bundesstaates bauen, die so genannten ,Rattachistes’ (ungefähr: Anschlüssler). In den vergangenen Jahren standen sie stets bei einem Stimmenanteil von rund einem Prozent. Am 13. Juni 2010 erhielten sie im französischen Landesteil dieses Mal circa zwei Prozent. Im Unterschied zu einem Teil der flämischen Nationalisten kommen sie auch nicht aus einer faschistischen oder Pro-Nazi-Traditionslinie, sondern sind eher bürgerliche bis bonapartistische Nostalgiker. Richtig ernst nimmt man sie heute in Wallonien nicht. Allerdings: Rund 40 Prozent der französischsprachigen Bevölkerung äubern in Umfragen auch, wenn es wirklich ernst komme und Spitz auf Knopf stünde, wenn wirklich die flämischen Nationalisten eine definitive Spaltung Belgiens herbeiführen würden, ja, dann könnten sie sich auch eine Zugehörigkeit zu Frankreich vorstellen. In Frankreich (wo der gaullistische Bonapartist Philippe Séguin, der vor wenigen Monaten verstarb, und der Linksnationalist und Ex-Innenminister Jean-Pierre Chevènement in den 1990er Jahren zeitweise eine solche Option ausmalten) rührte im April 2010 der konservativ-reaktionäre Fernsehjournalist Eric Zemmour öffentlich die Trommel – für eine Spaltung des „Kunststaats“ Belgien und eine Angliederung Walloniens an Frankreich. Angeblich sollen, laut einer Umfrage für ,France Soir’ vom Mittwoch den 09. Juni, zwei Drittel der Franzosen „im Notfall“ eine solche Lösung befürworten. Allerdings ist sie in Frankreich kein Gegenstand ernsthafter Gespräche, und fast niemand tritt dafür derzeit in der Öffentlichkeit lautstark ein. Eine neuerliche Umfrage unter 502 volljährigen Personen für das konservativ-reaktionäre französische ,Figaro-Magazine’ (Ausgabe vom 26./27. Juni 10), förderte die Zahl von 32 % der Wallonen, die angeblich „bereit“ seien, notfalls „Franzosen zu werden“; zu Tage[5]. Dieselbe Umfrage kommt ferner zu dem Ergebnis, dass - nur - 20 Prozent der befragten Wallonen an „ein Ende Belgiens“ glauben.

Französische Polizeivision: Bedrohung durch flämische Extremisten?

Der französische Staat, oder Teile seines Apparats, scheinen wiederum eine eigene Gefahrenanalyse zu haben. Die französische Wochenzeitung ‚Le Canard enchaîné’ enthüllte jedenfalls am Mittwoch, den 16. Juni, dass eine Elitetruppe der französischen Polizei – das GIPN – Anfang Mai in Lille, Nordfrankreich, eine nächtliche „Anti-Terror-Übung“ veranstaltet habe. Auf dem Programm: akute Geiselkrise, und eins auf die Mütze für die Geiselnehmer. So weit ein schwerer Klassiker für polizeiliche Notstandsübungen. Nicht ganz so klassisch war die Herkunft der angeblichen Geiselnehmer im polizeilichen Drehbuch. Laut Regieanweisung waren es dieses Mal keine blutrünstigen algerischen Islamisten oder tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfer, die die Bösen spielen mussten, sondern gefährliche flämische Extremisten. Diese trugen T-Shirts mit dem Vlaamse Leeuw, dem „flämischen Löwen“ – Wahrzeichen der Separatisten – als Aufdruck, und ermordeten gleich zu Anfang einen französischen Polizisten. Am Ende vom Lied wird der Anführer ihres Kommandos getötet, sein Vizechef überwältigt. Sollten sich da etwa irgendwelche Leute auf eine ziemlich schlechte Nachbarschaft vorbereiten?

Vorläufiges Fazit & Ausblick

Dabei verläuft der in Ansätzen erfolgende Trennungsprozess zwischen den verschiedenen Landes- und Bevölkerungsteilen in Belgien bislang - weitestgehend - unblutig. Zwar wurde in jüngster Zeit etwa folgender Angriff[6] betrunkener flämischer Schläger auf zwei junge Leute, die es „wagten“, vor einem Café in einer flämischen Stadt - Ruisbroek, einem Vorort von Brüssel - untereinander Französisch zu sprechen, vermeldet. Solche Körperverletzung wie in diesem Falle bleibt dennoch bis heute die Ausnahme. Insgesamt ähnelt der (mögliche, aber noch keineswegs sichere) „Auflösungsprozess“ Belgiens bis hierher - was das Verhältnis zwischen den beiden Hauptbevölkerungsgruppen betrifft - laut einem öfters bemühten Vergleich eher dem x-ten Ehestreit eines alten Paares; das sich zwar weitgehend auseinandergelebt hat und immer weniger versteht, aber es nicht zu Dramen kommen lässt. Und auch eventuell „aus Vernunft“ auf eine definitive Trennung verzichtet, falls die Alternativen den Betreffenden noch schlechter erscheinen als das „lieblose“ Zusammenbleiben mit dem ungeliebten Partner oder Gegenüber. Wie die Zukunft des bisherigen Bundesstaates Belgiens aussehen wird, ist also durchaus noch offen. Es wird von der politischen Entwicklung, aber auch von der Tiefe oder Schärfe der ökonomischen und sozialen Krise(n) abhängen.


Anmerkungen

[1] ANMERKUNG: Aus anderen Gründen sitzt die politische Partei Bart de Wevers, die « Neue Flämische Allianz » (N-VA), allerdings im Europaparlament in einer gemeinsamen Fraktion mit den (deutschen, französischen u.a.) Grünen.  Die Ursache dafür ist jedoch darin zu suchen, dass die europäischen Ökoparteien schon immer ein Faible für regionalistische Parteien und Bewegungen haben und schon in den 80er Jahren von einem « Europa der Regionen » träumten, das zwar zum Teil die Nationalstaatlichkeit überwunden hätte, sie aber teilweise auch durch bornierte Kirchturmpolitik mit viel Lokalkolorit ablösen würde. 1994 bspw. kandidierten französische « Ökologisten » in einer Listenverbindung mit einem Mosaik aus regionalistischen Politvereinigungen zu den Europaparlamentswahlen. Heute zählen zur Fraktion « Grüne – Freie Europäische Allianz » im Europaparlament, neben den diversen grünen Parteien, auch (bürgerliche) Regionalistenparteien wie die « Scottish National Party » (SNP) und die walisische « Plaid Cymru » ; und eben auch die belgisch-flämische N-VA.
[4] Siehe auch folgenden Versuch eines Vergleichs zwischem dem Vlaams Belang und der LDD: http://www.resistances.be/el2009r05.html

 

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.