Das Erbe der Anti-Hitler-Emigration und die Kraft der Utopie 
Offener Brief an den Historiker  Ehrhart Neubert zum aktuellen Historikerstreit

von Antonín Dick

7/8-09

trend
onlinezeitung

c/o PIPER VERLAG GmbH
Georgenstraße 4
80799 München

Sehr geehrter Herr Dr. Neubert, 

Ihr fast 450 Seiten umfassendes Opus der Zeitgeschichte  „Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989 / 90“, unlängst herausgegeben vom Piper Verlag München, provoziert weniger durch seine reihende Faktenfülle als durch seine geistig-politischen Voraussetzungen. Dazu hat der Politikwissenschaftler und Historiker Stefan Bollinger, ordentliches Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, in seiner Rezension  „Aus der Utopie in den Westen“, veröffentlicht im Feuilleton des „Neuen Deutschland“, bereits das Notwendigste gesagt. Sie läuft auf den zutreffenden Einwand hinaus, dass in Ihrer Darstellung „die politischen, demokratischen Alternativen“ der Oppositionellen in der DDR „fast komplett ausgeblendet“ oder, wie vielleicht noch zu ergänzen wäre, als tote Geschichtsmasse unter die Bildung eines neuerlichen Nationalstaates subsumiert werden. Und Sie zementieren diese Ausblendung geradezu, indem Sie die neuerliche Gesamtverstaatlichung der Deutschen symbolisch dadurch zu überhöhen trachten, dass Sie Ihr Werk mit ein und demselben Aufladungswort beginnen und enden lassen: „Deutschland“. Meinen Sie nicht, dass eine solche auftrumpfende Symbolik bei den Deutschland-Experten der Signatarstaaten des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 nur Argwohn erzeugen kann? Und vielleicht sogar Angst bei dem einen oder anderen Leser der kleineren Nachbarländer dieses Kolosses im Herzen Europas?  

Was in diesem Zusammenhang vor allem erstaunt, ist Ihre Voraussetzung, das Erbe der Repräsentanten der Anti-Hitler-Emigration bewusst nicht aufzunehmen, obwohl es doch hier dringend gebraucht würde. Während Sie mit den Ereignissen der Jahre 1989 / 90  „die Ideen von Freiheit und Nation“ erfolgreich miteinander vermählt sehen, spricht  Thomas Mann, das Haupt der politischen Emigration in den Nazijahren, in seinem Essay „Deutschland und die Deutschen“ vom „kerndeutschen Auseinanderfallen  von  n a t i o n a l e m  Impuls und dem Ideal politischer  F r e i h e i t.“ Während Ihr politischer Ansatz im Grunde nichts anderes als eine Neuauflage des deutschen Nationalstaates von 1871 darstellt, widerspricht Thomas Mann diesem Ansatz vehement, indem er nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches von 1945 feststellt: „Dies eben war das Charakteristische und Bedrohliche: die Mischung von robuster Zeitgemäßheit, leistungsfähiger Fortgeschrittenheit und Vergangenheitstraum, der hochtechnisierte Romantizismus. Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.“ Für Thomas Mann gibt es nach allem, was geschehen ist, keine Neuauflage irgendeines  deutschen Nationalstaates mehr. Es befremdet den politisch interessierten Leser Ihres Werkes, dass Sie diesen Essay, immerhin das politische Vermächtnis eines Exilautors von Weltgeltung, bei Ihrem Nachdenken über die Umwälzungen  der Jahre 1989 / 1990 und die Zukunft der Deutschen nicht rezipieren, obwohl er doch zum Standardwissen fast aller Zeithistoriker gehört. So setzen Sie sich  Exilerfahrungen  von unschätzbarem Wert durch bewusstloses Schweigen zur Wehr, indem Sie, als wäre nichts gewesen, auf die normative Kraft des Faktischen verweisen. Und die Fakten – o verschlungene Pfade der Geschichte! – scheinen Ihrem Ansatz dabei noch recht zu geben. Aber menschliche Geschichte besteht nicht nur aus Fakten, sondern auch aus dem Widerspruch gegenüber Fakten, aus Utopien, aus dem gesellschaftlichen Lebensprozess der Antizipation des Kommenden.  

Bei dem Begriff „Utopie“ werden Sie vermutlich zusammenzucken, atmet doch Ihr gesamtes Geschichtswerk den Geist des Anti-Utopischen bei gleichzeitiger bedrohlicher Verzauberung durch das Nationale. Aber die DDR-Oppositionsbewegung, die Sie vorgeben, streng wissenschaftlich zu untersuchen, war in ihrem Bezug zur Utopie  eine Bewahrerin des Erbes der antifaschistischen Emanzipation und nicht des Erbes des nationalen Impulses.  Diese tausendfach bewiesene Realität erscheint bei Ihnen, wie in der eingangs erwähnten Rezension zu Ihrem Buch schlüssig nachgewiesen, in einem völlig abgefälschten Licht. Und so ist es nur folgerichtig, wenn ein  Repräsentant des antifaschistischen Befreiungskampfes – Prof. Dr. Jürgen Kuczynski – bei Ihnen als lebensfremder Träumer und politischer Phantast abqualifiziert werden darf. Es ist schon von grausiger Dimension, dass Sie sich bei diesem Tabubruch ausgerechnet diesen Theoretiker und Organisator der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung aussuchen, einen jüdisch-kommunistischen Funktionär, einen Internationalisten, der Anfang 1939 mit der Regierung des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland konspirierte, indem er den unmittelbar bevorstehenden Überfall der Deutschen auf die Tschechoslowakische Republik  mitteilte und damit u. a. die Rettung von Hunderten von Anti-Nazi-Flüchtlingen einleitete, einen selbstlosen Aktivisten, über den der ebenfalls emigrierte Maler und Schriftsteller Oskar Kokoschka, Präsident des Freien Deutschen Kulturbundes in Großbritannien, in einem Schreiben an den Sekretär des Kulturbundes Siegfried Zimmering vom 14. September 1944 ausführt: „Kuczynski ist ein klarer Denker und schreibt deutsch als einer, der seinem Vaterland nicht entfremdet werden  konnte. Mit dessen  guten Geistern zusammen er in täglicher Bereitschaft blieb.“  

Und dessen gute Geister versuchen Sie nun in Ihrem wissenschaftlichen Großwerk zu bannen, indem Sie diese als angebliche Geister der politischen Phantasterei an den Pranger stellen. Auf Seite 29 Ihres Werkes zitieren Sie Jürgen Kuczynski, um ihn zu treffen, mit folgenden Worten: „Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an den Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet.“ Aber wo liegt hier der Treffer? In Ihrem Eifer zur Niedermachung alles Utopischen  haben Sie sich selbst getroffen, sehr geehrter Herr Dr. Neubert, denn Sie zitieren falsch. Die Worte,  die Sie Jürgen Kuczynski in den Mund legen,  stammen gar nicht von diesem, sondern sind russischen Geblüts, stammen vom jungen Lenin, entnommen der Streitschrift „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“. Und auch dies ist noch nicht die ganze Wahrheit, denn Lenin umgab sich wie Kuczynski ebenfalls mit   guten Geistern, in diesem Falle mit den Ideen von Dmitrij Iwanowitsch Pissarew, einem russischen Schriftsteller und Oppositionellen aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und exakt von diesem stammt dieses Zitat, und so kommt es dazu, dass Sie, blind geworden in der Niedermachung alles Utopischen, sogar einen herausragenden Vertreter des demokratischen Denkens des Auslands niedermachen. Das Lenin-Zitat, das den im Exil unermüdlich an der praktischen Umsetzung antifaschistischer Ideen arbeitenden Jürgen Kuczynski ohne Frage immer wieder entflammt haben dürfte, lautet  nämlich   in seiner vollen Länge so: „ ‚Träumen müssen!’. Ich schrieb diese Worte nieder und erschrak. Ich stellte mir vor, ich sitze in der ‚Vereinigungskonferenz’, und mir gegenüber sitzen die Redakteure und Mitarbeiter des ‚Rabotscheje Delo’. Und nun steht Genosse Martynow auf und wendet sich drohend an mich: ‚Gestatten Sie, dass ich Sie frage: Hat eine autonome Redaktion überhaupt das Recht, ohne vorherige Befragung des Parteikomitees zu träumen?’ Und nach ihm steht Genosse Kritschewski auf und fährt (den Genossen Martynow philosophisch vertiefend, der schon vor langem den Genossen Plechanow vertieft hat) noch drohender fort: ‚Ich gehe weiter: Ich frage, ob ein Marxist überhaupt das Recht hat zu träumen, wenn er nicht vergisst, dass sich die Menschheit nach Marx immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann, und dass die Taktik ein Prozess des Wachsens der Aufgaben ist, die zusammen mit der Partei wachsen?’ Bei dem bloßen Gedanken an diese drohenden Fragen überläuft es mich eiskalt, und ich überlege nur, wo ich mich verstecken könnte. Ich will versuchen, mich hinter Pissarew zu verstecken. ‚Ein Zwiespalt gleicht dem anderen nicht’, schrieb Pissarew über den Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit. ‚Meine Träume können dem natürlichen Gang der Ereignisse vorauseilen, oder sie können auch ganz auf Abwege geraten, auf Wege, die der natürliche Gang der Ereignisse nie beschreiten kann. Im ersten Fall ist das Träumen ganz unschädlich; es kann sogar die Tatkraft des arbeitenden Menschen fördern und stärken … Solche Träume haben nichts an sich, was die Schaffenskraft beeinträchtigt oder lähmt. Sogar ganz im Gegenteil. Wäre der Mensch aller Fähigkeiten bar, in dieser Weise zu träumen, könnte er nicht dann und wann vorauseilen, um in seiner Phantasie als einheitliches und vollendetes Bild das Werk zu erblicken, das eben erst unter seinen Händen zu entstehen beginnt, dann kann ich mir absolut nicht vorstellen, welcher Beweggrund den Menschen zwingen würde, große und anstrengende Arbeiten auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft und des praktischen Lebens in Angriff zu nehmen und zu Ende zu führen … Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleich und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet. Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in Ordnung.’ Träume solcher Art gibt es leider in unserer Bewegung allzuwenig. Und schuld daran sind hauptsächlich diejenigen, die sich damit brüsten, wie nüchtern sie seien und wie ‚nahe’ sie dem ‚Konkreten’ stünden …“ 

„Fehlgriffe eines unausgereiften Denkens“ lautet übrigens der Titel des engagierten Essays von Pissarew, dem Lenin diese Passage entnahm  – dies sei Ihnen hiermit gern mitgeteilt, falls Sie sich über internationales demokratisches Denken weiter kundig machen wollen.  

Aber es gibt bezüglich Ihres zeitgeschichtlichen Werkes  „Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989 / 90“ auch den umgekehrten Vorgang, wenn man nämlich feststellen muss, dass Ihr Traum vom harmonisierenden deutschen Nationalstaat – einerseits mythisch überhöht, wenn Sie vom „Kairos der Nation“ und von  „Wundern“, andererseits in brutale LTI-Diktion fallend, wenn Sie affirmativ vom „Anschluss der DDR an die Bundesrepublik“ sprechen – an den heutigen Realitäten der Bundesrepublik mit ihren neuen Klassengegensätzen von ökonomisch Mächtigen und ökonomisch Ohnmächtigen, die Sie geflissentlich verschweigen,  längst  zerschellt ist. Die Führung der deutschen Sozialdemokratie fordert angesichts dieser Fakten die Wiedereinführung des Respekts vor den sozialen Errungenschaften der DDR, die nicht zuletzt Ergebnis der schöpferischen Aneignung des Erbes der Anti-Hitler-Emigration waren. Der hastig herbeigeführte  Beitritt der DDR zur BRD, exekutiert im Jahre 1990 von der Fraktionen der Nationalen in Deutschland Ost und Deutschland West, ist zu korrigieren, fordert unmissverständlich der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering in seinen April-Thesen und regt dazu eine  gesamtgesellschaftliche Verfassungsdebatte zur Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes an: „Es hat nie wirklich eine Wiedervereinigung gegeben, die DDR ist vielmehr der Bundesrepublik zugeschlagen worden.” Diese nachgereichte Anerkennung von DDR-Wirklichkeit ist durchaus, daran werden auch Sie sicherlich nicht zweifeln wollen, als ein erster Erfolg der Kraft der Utopie gegenüber der normativen Kraft des Faktischen zu werten.  

Und der verunklarende und die deutsche Expansionsgeschichte der letzten zweihundert Jahre ausklammernde Begriff der “Wiedervereinigung”, den Sie in Ihrem Werk immer wieder verwenden – im Grunde ist ja Ihre gesamte Darstellung, mit Verlaub gesagt, nichts anderes als eine teleologische Versuchsanordnung zur Apologie der deutschen Nationalstaatsidee – , meinen Sie allen Ernstes, damit den dramatischen politischen Geschehnissen,  wie sie sich vor zwei Jahrzehnten zugetragen haben, auch nur annähernd gerecht werden zu können?  Dieser Begriff ist schon in völkerrechtlicher Hinsicht eine reine Abfälschung des tatsächlichen Sachverhaltes. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 sprechen die Alliiierten der Anti-Hitler-Koalitation und ihre beiden deutschen Partner bewusst nicht von “Wiedervereinigung”, wie Sie dies in Ihrer Geschichtsvergessenheit tun, sondern stets von “Vereinigung”. Bei Ihrem Begriff wird eine mythische Invariante des Nationalstaatlichen vorausgesetzt, auf die die Deutschen angeblich einen ewigen Anspruch hätten,  bei dem völkerrechtlich normierten  der aktuelle Willen von sechs Staaten zu einer praktischen Übereinkunft. Und auch bei der Analyse dieses von Ihnen immer wieder in die zeithistorische Debatte geworfenen Begriffes der “Wiedervereinigung” taucht die eingangs gestellte bange Frage auf: Meinen Sie nicht, dass ein solch auftrumpfendes Denken  bei den Deutschland-Experten der Signatarstaaten des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 nur Argwohn erzeugen kann? Und vielleicht sogar Angst bei dem einen  oder anderen Leser der kleineren Nachbarländer dieses Kolosses im Herzen Europas?  

Ich grüße Sie freundlich

Dr. Antonín Dick

Berlin, den 17. Juli 2009                                                                                  

 

Editorische Anmerkungen

Den Brief und das Foto auf der Titelseite erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung