Kein Schurke mehr
Und doch ein Elefant im Porzellanladen

von Bernard Schmid

7/8-09

trend
onlinezeitung

Nach Staatsbesuchen in Frankreich im Dezember 2007 und jetzt, Mitte Juni 2009, in Italien: Gaddafi liefert seinen Gastgebern Blamagen - und wird doch (relativ) gern empfangen. Aus Eigeninteressen der europäischen Staatsführungen heraus: Ihnen geht es vor allem um Libyens Kollaboration bei der europäischen Migrations(abwehr)politik

Schurken sehen anders aus. Denn offiziell gilt Libyens Staatschef und „Revolutionsführer“ Muammar al-Gaddafi seit Dezember 2003 auf der internationalen Bühne nicht mehr als solcher. Damals hatte die Führung in Tripolis feierlich; in Erklärungen gegenüber den USA und Großbritannien, auf den Erwerb von ABC-Waffen verzichtet. Ferner hatte er Entschädigungszahlungen für die Angehörigen von Attentatsopfern in Aussicht gestellt; konkret ging es um Opfer von Anschlägen auf Flugzeuge, die in den Jahren 1986 bis 89 verübt und libyschen Agenten zur Last gelegt wurden. Der finanzielle Aspekt dieses symbolischen Schuldbekenntnisses - bei dem Libyen manchen Kritikern zufolge auch aus taktischen Gründen die Verantwortung für Flugzeugattentate übernahm, hinter denen in Wirklichkeit andere Staaten steckten - ist zwischen den USA und Libyen im Herbst 2008 geregelt worden.

Und doch sieht man Gaddafi, obwohl er auf dem internationalen diplomatischen Parkett inzwischen rehabilitiert worden ist, bei manchen Staatsbesuchen auf Seiten seinen Gastgeber lieber wieder fortgehen, als man ihn ankommen sah. Diese Sichtweise auf die Person des libyschen Staatslenkers dürften, jedenfalls seit neuestem, der italienische Premierminister Silvio Berlusconi und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy miteinander teilen. Bei letzterem war er im Dezember 2007 auf offiziellem Besuch gewesen, der in Frankreich höchst umstritten blieb und eine volle Woche dauerte. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net) In seinem Verlauf hatte Gaddafi unter anderem Sarkozy vor laufenden Kameras dementiert, als dieser gerade behauptet hatte, „auch die Menschenrechte“ seien bei den bilateralen Gesprächen „thematisiert worden“. Voraus ging ein - ebenfalls reichlich umstrittener - Besuch Sarkozys in Libyen im Juli 2007, anlässlich seiner ersten Reise auf den afrikanischen Kontinent als amtierender französischer Präsident (vgl. http://www.trend.infopartisan.net/).

Nun war der libysche Staats- und „Revolutionsführer“ jüngst, vom 10. bis 13. Juni 2009, bei Berlusconi in Rom zu Gast.Gaddafi erwiderte damit einen offiziellen Kurzbesuch, den Berlusconi seinerseits Gaddafi am 30. August 2008 im ostlibyschen Benghazi abstattete. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/) Damals hatte der italienische Regierungschef, auch ‚Il Cavaliere’ genannt, für eine kleine Sensation gesorgt. Denn trotz der Präsenz rechtsextremer und aus einer ehemals neofaschistischen Partei stammender Minister - wie seines Verteidigungsminister Ignazio La Russa - hatte Berlusconi dort die Verbrechen der italienischen Kolonialvergangenheit, die in Libyen von 1911 bis 1942/43 dauerte, anerkannt.

Gaddafi erwiderte die Visite Berlusconis nun mit einem Gegenbesuch in Rom, der am 10. Juni dieses Jahres begann. Aus diesem Anlass brüskierte er aber mehrfach seine Gastgeber - aus deren Sicht oder auch objektiv -, vor allem nach zaghafte Kritik an ihm laut geworden war. So ließ Gaddafi am letzten Abend seines Besuchs, am 12. Juni, mehrere hundert Abgeordneten und Persönlichkeit, vor denen er eine Ansprache halten sollte, geschlagene zwei Stunden auf sich warten. Nachdem er auch danach nicht auftauchte und auch keine Entschuldigung oder Erklärung bei ihm eingetroffen war, annullierte Parlamentspräsident Gianfranco Fini den ursprünglich auf 17 Uhr angesetzten Termin gegen 19 Uhr - unter dem Applaus eines Teils der Anwesenden. Die libysche Botschaft gab später an, Gaddafi sei „durch das Freitagsgebet“ aufgehalten worden. Wahrscheinlicher ist, dass er den Parlamentspräsidenten im Regen stehen ließ, weil er von dessen Redetext zuvor Wind erhalten hatte. Darin, so kündigte sich an, plante der italienische Rechtspolitik Fini Kritik an Gaddafi zu üben.

So wollte er ihm vorwerfen, am zweiten Besuchstag in Rom den Angriff der USA auf Libyen 1986 mit späteren Terrorangriffen von Al-Qaida verglichen zu haben. Auch wollte Fini den libyschen Staatschef dazu auffordern, die Auffanglager für in Europa unerwünschte Zuwanderer - die auf libyschem Boden errichtet sind - durch eine italienische Parlamentarierdelegation besuchen zu lassen. Dadurch sollte es diesen erlaubt werden, „sich zu vergewissern, dass in diesen Lagern auch die Menschenrechte eingehalten werden.“ Dies ist zwar objektiv ziemlich purer Zynismus: Angesichts der realen Verhältnisse in den Lagern, deren Insassen einer absoluten Willkürherrschaft ausgesetzt werden - in Libyen als einem Land, das kein Asylrecht in seiner Gesetzgebung aufweist - und angesichts des libyschen Umgangs mit unerwünschten schwarzafrikanischen Migranten sollte es sich viel eher verbieten, Einwanderungskandidaten aus der EU in dieses Land abzuschieben. Genau dies aber tut Italien: Seit Anfang Mai wurden erstmals zwei Flüchtlingsschiffe vor den italienischen Südküsten gezwungen, sofort kehrt zu machen und die Menschen an Bord den libyschen Behörden auszuliefern, statt zu prüfen, ob diese etwa in Italien Rechte geltend und etwa ein Asylgesuch stellten konnten. 500 Menschen wurden auf diesem Wege an Libyen „überstellt“.

Gaddafi ist nicht nur eitel und weiß, dass Europa ein enormes Interesse an den riesigen Erdöl- und Erdgasreserven des nordafrikanischen Landes hat. Er ist auch ein gerissener und gewiefter Politik, der genügend Erfahrung gesammelt hat, um sich von den politischen Anführern europäischer Demokratien nicht „hineinreden“ zu lassen, sondern sie gegebenenfalls vorführen zu können. Seit kurzem (und dem Tod des seit 1967 ununterbrochen amtierenden Staatspräsidenten von Frankreichs Ex-Kolonie Gabun, Omar Bongo, Anfang Juni dieses Jahres) ist Gaddafi nun der dienstälteste Staatschef des Planeten: Er kam Anfang September 1969 an die Macht, an die Spitze einer Gruppe junger Offiziere, die gegen den damaligen libyschen König Idriss putschten. Im Spätsommer dieses Jahres stehen daher die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Begründung seines Regimes auf dem Programm. Ein „Reformerflügel“ in dessen Reihen, zu dem auch ein Sohn des Staatschefs - Seif el-Islam Gaddafi - gehörte, ist vor kurzem kaltgestellt worden. Der harte Kern der libyschen Führung bleibt also an der Macht. Staat über die Einführung demokratischer Elemente „bei sich zu Hause“ nachzudenken, gab Gaddafi stattdessen den Italienern auf dem römischen Kapitol den Rat, sie sollten doch auch einmal die libysche Variante der Demokratie ausprobieren: ohne politische Parteien, und ohne Wahlen, als „direktes Verhältnis“ zwischen Volk und „Revolutionsführer“.

An einem anderen Punkt, bei dem Gaddafi die Italiener brüskierte, hat er hingegen eher einen verteidigungswerten Standpunkt eingenommen: Bei seiner Ankunft am Flughafen von Rom hatte er ein Foto des 1931 libyschen Aufstandsführers Omar al-Mokthar, im Format 10 auf 14 Zentimeter, ans Revers seiner Uniform geheftet. Dadurch erfuhren alle Italienerinnen und Italiener, die die Medien verfolgten, etwas über die Kolonialvergangenheit ihres Landes. Zwar war Libyen bereits im Jahr 1911 durch den nördlichen Nachbarn erobert worden, wurde aber besonders in der Ära der faschistischen Diktatur Benito Mussolinis (1922 bis 43) gewaltsam unterworfen. Historiker vermuten, dass damals 20.000 Nordafrikaner aufgrund ihres Widerstands gegen die Kolonialherrschaft getötet, und 100.000 in Wüstenlager deportiert worden sind. Von Letzteren starb knapp die Hälfte an Entbehrungen, Epidemien oder bei Hinrichtungen, wie der „Befreiungskämpfer“ al-Mokthar.

Berlusconi hatte sich im vergangenen August im Namen seines Landes zu diesen Verbrechen bekannt. Diese „nationale Entschuldigung“ war davon begleitet, dass Italien im Laufe der kommenden 25 Jahre insgesamt fünf Milliarden US-Dollar (derzeit 3,4 Milliarden Euro) an Entschädigungszahlungen an Libyen leistet. Konkret sieht die Abmachung vor, dass Italien pro Jahr 200 Millionen Dollar in die libysche Infrastruktur investieren wird. Dazu zählen der Bau einer Autobahn in Ost-West-Richtung entlang der Küste, von der tunesischen bis zur ägyptischen Grenze, sowie die Errichtung „einer groen Anzahl“ von Sozialwohnungen. Rom verspricht ferner, Stipendien an libysche Studierende zu vergeben sowie Minenopfern – die durch die einst von Italienern verlegten Anti-Personen-Minen verletzt wurden – Versehrtenpensionen zu zahlen.

Die Gegenleistung war dabei jedoch einkalkuliert, und für Berlusconi das wirklich Interessante. Anlässlich seines jüngsten Staatsbesuchs versicherte Gaddafi dem Premier, „italienische Unternehmen“ würden in seinem Land künftig „Priorität genießen“. Italien ist der erste Handelspartner Libyens bei Ein- und Ausfuhren. Zudem ist der Umgang mit in der EU unerwünschten Zuwanderern - Menschenrechte hin oder her - Bestandteil des politischen „Deals“ zwischen beiden Staatsführungen. Dies ist die vielleicht bitterste „Kehrseite der Medaille“, welche die Aussöhnung zwischen beiden Ländern unter den heutigen Bedingungen aufweist. Die ‚taz’ brachte es an der Stelle ganz gut auf den Punkt: „Italiens Schlussstrich unter vergangenes Unrecht verdankt sich vor allem dem Wunsch Roms, Libyen zum verlässlichen Partner für neues Unrecht zu machen: für eine Flüchtlingsabwehr ohne Menschenrechte.“ (Vgl. http://www.taz.de )

Editorische Anmerkungen

Der Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.