Zu Petersen's Enfremdung von Marx
Eine (sehr späte) Reaktion auf den Text Karl Marx' Vorstellungen vom "guten Leben"

von Peter Kamp

7/8-09

trend
onlinezeitung

Sich zu bilden und zu schulen ist eine gute Sache, jedoch ist es in Zeiten der geistigen Flaute wohl nicht zu verachten, wenn man sich die zu verbreitenden Texte sorgfältig auswählt. Dabei ist mir ein Text von Thiess Petersen etwas ins Auge gestochen, dem es offensichtlich mehr um seine eigene Sicht, als um diejenige von Marx geht. Wieso er sich für die den armen Karl vor den Wagen spannen muss, halte ich für etwas fragwürdig. So beschränkt er sich auch mehr darauf, dem lieben Marx einzelne Zitate aus dem Zusammenhang zu reissen, um sie für die eigene Position in den "richtigen" Kontext zu stellen.  

So lebte Marx halt nicht im Europa des 21. Jahrhunderts, wo Reichtum und Wohlstand eine wundersame Symbiose zwischen Bankomaten und Supermarktregalen darstellt, und ihm war somit auch völlig bewusst, das eine Gesellschaft, in der man Wochenlang an einem Pfeil rumschnitzt, schnell mal mit existenziellen Problemen zu kämpfen hat.  

Marx wurde selten konkret, wie eine andere Gesellschaft denn aussehen könnte, aber wo er es etwas wurde, zeigte er sich ganz klar auch als ein Befürworter eines rationalen Umgangs mit der Zeit.  

Ich zitiere ihn also hiermit im Unterkapitel  "4. Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis" 

"Da die politische Ökonomie Robinsonaden liebt (29), erscheine zuerst Robinson auf seiner Insel. Bescheiden, wie er von Haus aus ist, hat er doch verschiedenartige Bedürfnisse zu befriedigen und muß daher nützliche Arbeiten verschiedner Art verrichten, Werkzeuge machen, Möbel fabri- <91> zieren, Lama zähmen, fischen, jagen usw. Vom Beten u. dgl. sprechen wir hier nicht, da unser Robinson daran sein Vergnügen findet und derartige Tätigkeit als Erholung betrachtet. Trotz der Verschiedenheit seiner produktiven Funktionen weiß er, daß sie nur verschiedne Betätigungsformen desselben Robinson, also nur verschiedne Weisen menschlicher Arbeit sind. Die Not selbst zwingt ihn, seine Zeit genau zwischen seinen verschiednen Funktionen zu verteilen. Ob die eine mehr, die andre weniger Raum in seiner Gesamttätigkeit einnimmt, hängt ab von der größeren oder geringeren Schwierigkeit, die zur Erzielung des bezweckten Nutzeffekts zu überwinden ist. Die Erfahrung lehrt ihn das, und unser Robinson, der Uhr, Hauptbuch, Tinte und Feder aus dem Schiffbruch gerettet, beginnt als guter Engländer bald Buch über sich selbst zu führen. Sein Inventarium enthält ein Verzeichnis der Gebrauchsgegenstände, die er besitzt, der verschiednen Verrichtungen, die zu ihrer Produktion erheischt sind, endlich der Arbeitszeit, die ihm bestimmte Quanta dieser verschiednen Produkte im Durchschnitt kosten. Alle Beziehungen zwischen Robinson und den Dingen, die seinen selbstgeschaffnen Reichtum bilden, sind hier so einfach und durchsichtig, daß selbst Herr M. Wirth sie ohne besondre Geistesanstrengung verstehn dürfte. Und dennoch sind darin alle wesentlichen Bestimmungen des Werts enthalten. 

Versetzen wir uns nun von Robinsons lichter Insel in das finstre europäische Mittelalter. Statt des unabhängigen Mannes finden wir hier jedermann abhängig - Leibeigne und Grundherrn, Vasallen und Lehnsgeber, Laien und Pfaffen. Persönliche Abhängigkeit charakterisiert ebensosehr die gesellschaftlichen Verhältnisse der materiellen Produktion als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären. Aber eben weil persönliche Abhängigkeitsverhältnisse die gegebne gesellschaftliche Grundlage bilden, brauchen Arbeiten und Produkte nicht eine von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt anzunehmen. Sie gehn als Naturaldienste und Naturalleistungen in das gesellschaftliche Getriebe ein. Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form. Die Fronarbeit ist ebensogut durch die Zeit gemessen wie die Waren produzierende Arbeit, aber jeder Leibeigne weiß, daß es ein bestimmtes Quantum seiner persönlichen Arbeitskraft ist, die er im Dienst seines Herrn verausgabt. Der dem Pfaffen zu leistende Zehnten ist klarer als der Segen des Pfaffen. Wie man daher immer die Charaktermasken beurteilen mag, worin sich die Menschen hier gegenübertreten, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen <92> Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte. 

Für die Betrachtung gemeinsamer, d.h. unmittelbar vergesellschafteter Arbeit brauchen wir nicht zurückzugehn zu der naturwüchsigen Form derselben, welche uns an der Geschichtsschwelle aller Kulturvölker begegnet.(30) Ein näher liegendes Beispiel bildet die ländlich patriarchalische Industrie einer Bauernfamilie, die für den eignen Bedarf Korn, Vieh, Garn, Leinwand, Kleidungsstücke usw. produziert. Diese verschiednen Dinge treten der Familie als verschiedne Produkte ihrer Familienarbeit gegenüber, aber nicht sich selbst wechselseitig als Waren. Die verschiednen Arbeiten, welche diese Produkte erzeugen, Ackerbau, Viehzucht, Spinnen, Weben, Schneiderei usw. sind in ihrer Naturalform gesellschaftliche Funktionen, weil Funktionen der Familie, die ihre eigne, naturwüchsige Teilung der Arbeit besitzt so gut wie die Warenproduktion. Geschlechts- und Altersunterschiede wie die mit dem Wechsel der Jahreszeit wechselnden Naturbedingungen der Arbeit regeln ihre Verteilung unter die Familie und die Arbeitszeit der einzelnen Familienglieder. Die durch die Zeitdauer gemeßne Verausgabung der individuellen Arbeitskräfte erscheint hier aber von Haus aus als gesellschaftliche Bestimmung der Arbeiten selbst, weil die individuellen Arbeitskräfte von Haus aus nur als Organe der gemeinsamen Arbeitskraft der Familie wirken. 

Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell. Alle Produkte Robinsons <93> waren sein ausschließlich persönliches Produkt und daher unmittelbar Gebrauchsgegenstände für ihn. Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Er bleibt gesellschaftlich. Aber ein anderer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsgliedern verzehrt. Er muß daher unter sie verteilt werden. Die Art dieser Verteilung wird wechseln mit der besondren Art des gesellschaftlichen Produktionsorganismus selbst und der entsprechenden geschichtlichen Entwicklungshöhe der Produzenten. Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit. Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsicht ig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution."
Zitiert nach:
http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_049.htm

Dass man die persönliche Selbstentfaltung nicht am tayloristischen Fliessband findet, wurde übrigens auch schon im bürgerlichen Diskurs entdeckt. So gibt es von der "Human Relations"-Bewegung, welche ihren Ursprung schon in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat, schon interessante Ansätze, was denn eine befriedigende Arbeit beinhaltet. Ein konkreter Ansatz findet sich z.B. beim "Job Characteristics Model" von Hackman & Oldman (1975), welches für Interessierte bei  http://de.wikipedia.org gut beschrieben wird:

Der eigentlich interessante Aspekt ist dabei, dass solche Arbeitsansätze, welche auf eine Zufriedenheit der Arbeitstätigen hinführt, sogar zu einer höheren Produktivität führen können und somit auch nach kapitalistischer Logik durchaus Attraktivität besitzen. In den Anfängen der "Human Relations"-Bewegung war daher auch eine gewisse Euphorie vorhanden, welche in der durch den Markt gesteuerten Welt einen neuen Hort des Glücks und der Selbstverwirklichung sah. Mit dem Erstarken der ArbeiterInnenbewegung und damit einhergehenden höheren Lohnforderungen zeigte sich jedoch auch der Widerspruch zwischen Produktivität und Profitibilität immer mehr, da die Kapitalisten diese vermeintliche Kostenexplosion auf ihrer Seite mit allen Mitteln verhindern wollten. So war die Austauschbarkeit der ArbeiterInnen als Kampfmittel für tiefe Löhne oftmals attraktiver als eine erhöhte Produktivität der einzelnen Angestellten. Dies ist auch ein Grund, wieso Gruppenarbeit, welche die vermehrte Vernetzung der ArbeiterInnen ermöglicht, trotz vielversprechendem Produktivitätszuwachs, oftmals nicht eingeführt oder wieder abgebaut wurde.  

Trotzdem haben sich gerade in den Berufsbranchen, bei denen das sogenannte Humankapital eine wichtigere Rolle spielt, solche Massnahmen, welche der Entfremdung nach Petersen entgegenwirkt, schon mit positiven Folgen ihre Spuren hinterlassen. Das global betrachtet jedoch nur der kleinste Teil der Bevölkerung von solchen Annehmlichkeiten profitiert, ist jedoch unter kapitalistischen Verhältnissen keine Sache der fehlenden Willens der Durchsetzung, sondern schlichtweg eine Folge der Spielregeln, welche der Markt und seine Vertreter uns aufzwingen. Viel interessanter wären solche Ansätze eigentlich für eine Wirtschaftsweise, welche nicht auf Konkurrenz und Profitibilität beruht. Für das muss man jedoch nicht jede Form der Rationalität der Wirtschaftlichkeit aufgeben und in den Wald Pfeilbogen basteln gehen, sondern für das braucht es vielmehr eine Alternative zum Markt, welche die Funktion einer sinnvollen Verteilung der verschiedenen Güter zu den Produktions- und Konsumationsstätten sinnvoll lösen kann, ohne dabei Nachfrage mit zahlungskräftiger Nachfrage zu verwechseln und ohne mit den verheerenden Zwängen nach Wachstum und Profit mehr und mehr die Lebensgrundlage aller Menschen zu zerstören.  

Dabei ist Marx's Robinsonade immer noch brandaktuell, welche gerade in den Frühzeiten der Sowjetunion durchaus ihre Anhänger hatte, jedoch aufgrund der Schwierigkeiten rechnerischer und administrativer Schwierigkeiten schnell wieder vernachlässigt wurde. Mehr zu dieser Debatte findet sich im Text von Helmut Dunkhase in Anlehnung an den Beitrag zur marxistischen Theorie von Cockshott und Cottrell

Diese Debatte mag zwar sehr technisch und lebensfern erscheinen, jedoch ist sie trotzdem der zentrale Punkt bei den Überlegungen, wie man jetzt an das "gute Leben" herankommt. Denn alle noch so virtuosen Ansätze der möglichen Neugestaltung dieser Gesellschaft scheitern sonst mal schnell an dem, was der Markt neben allen negativen Folgen trotzdem noch erfolgreich für uns übernimmt: Die (entfremdete!) Kommunikation zwischen den wirtschaftlichen TeilnehmerInnen zur Organisation eines Gesamtzusammenspiels der einzelnen Akteure. Jegliche Überlegungen über das gute Leben, welche sich nicht mit dieser Frage auseinandersetzen, werden unweigerlich, wie schon die "Human Relations"-Bewegung, früher oder später an den Mauern des Marktes zerschellen. Die realen Erfahrungen der sozialistischen Staaten mit der nicht auf dem Markt beruhenden Planung der Wirtschaft dürfen dabei auch nicht als Folge von Totalität oder Bürokratisierung verharmlost werden, sondern zeigen viel mehr auf, wie substanziell dieses Problem für eine Gesellschaft jenseits des Privatbesitzes an Produktionsmitteln ist. Wer sich ernsthaft dieser Problematik stellen will, kommt dabei um die Arbeitszeitrechung und das Werk von Cockshott und Cottrell (auf www.helmutdunkhase.de/haupt.pdf  downloadbar ) nicht herum. 

Ich bin damit einig, das das Thema Entfremdung ein zentraler, ja gar fundamentaler Aspekt des theoretischen Verständnisses von Marx ist. Im Unterschied zum Petersen'schen Verständnis von Entfremdung hat Marx den Aspekt der Entfremdung als Folge einer Kommunikation der einzelnen Akteure einer Wirtschaft durch den Markt, bzw. durch die Geldform, jedoch als zentralen Punkt. Gerade dieser Aspekt wird von Petersen in fataler Weise vernachlässigt, der mit diesem Beitrag dadurch theoretisch auch näher bei einer "Human-Relations"-Bewegung anzusiedeln ist, als bei einem marxistischen Verständnis der Gesellschaft.  

Ich will mit diesem Beitrag jedoch weder Petersen vorwerfen, dass er gar kein richtiger Marxist ist, noch denen, welche sich auf seinen Text beziehen. Überlegungen über Aspekte einer anderen Gesellschaft, welche den Fokus auf individuelles subjektives Erleben legen, sind weder konterrevolutionär noch nutzlos, sondern können wohl auch entscheidend sein für die Begeisterung für die Idee einer anderen, besseren Gesellschaft jenseits der heutigen. Schlussendlich geht es ja mehr darum, auf was man den Schwerpunkt legt, als um fundamentale Widersprüche in der Auffassung. Nichtsdestotrotz darf man die Wichtigkeit der Schwerpunktlegung für die Auffassung der Welt und Ansatzpunkte für Lösungen nicht herunterspielen. Vielmehr ist sie das A und O revolutionärer Politik.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor.

*) Der Artikel von Thieß Petersen - Karl Marx’ Vorstellungen vom »guten Leben« - erschien bereits in der Oktoberausgabe des Jahres 2003.