Die Mutter der Elementarteilchen
Über Lucie Ceccaldi`s L’innocente

von Bernard Schmid

7/8-08

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Oder: Schlagen die Hippies jetzt zurück? Die Mutter eines gewissen Michel Houellebecq, Lucie Ceccaldi, hat einen autobiographischen Roman vorgelegt – als (implizite) Antwort und Erwiderung auf dessen oftmals krude Thesen. Dieser enthüllt einige der Hintergründe von Houllebecqs Werdegang, und über die Genese seines antiarabischen Rassismus. Und man erfährt einiges Interessantes über die Jugend einer (zumindest damals) kämpferischen Frau – und über die kommunistische Unterstützung für den Befreiungskampf im „französischen“ Algerien

„Es war Winter und am frühen Morgen. (...) Der Garten war nackt und leer und weib vom Schnee, den der Wind verteilte, indem er die Zweige schüttelte, die schon bald wieder blühen würden.“

So friedlich beginnt die Autobiographie von Lucie Ceccaldi – der Name lässt auf eine korsische Abstammung schlieben -, die jetzt mit 83 Jahren ihr Leben aufschrieb und das Ganze unter dem Titel L’innocente veröffentlichte. Das bedeutet so viel wie „Die Unschuldige“, kann aber – je nach Kontext – auch so etwas wie „Die Naive“ bedeuten. Die Autorin ist ein Kind, wo ihre Handlung beginnt, ein kleines Mädchen in Constantine, im französisch beherrschten Algerien. Ihr steht ein grober Umzug bevor, nämlich in die Gouverneurshauptstadt Algier, wohin ihr Vater als Ingenieur versetzt worden ist. Ab hier wird die Leserin Lucie Ceccaldi durch ihr einigermaben bewegtes Leben begleiten.

Die Lebensgeschichte der alten Dame hätte – so respektabel sie auch sein mag - mutmablich so gut wie niemanden interessiert, wäre sie nicht unfreiwillig zu einer der Schlüsselfiguren im Bestsellerbuch ihres prominenten Sohnes geworden. In Les particules élémentaires, „Elementarteilchen“, dem wichtigsten Erfolgsroman des heute 52jährigen – nach eigenen Angaben aber 50jährigen – Michel Houellebecq, der 1998 auf Französisch erschien, ist sie eine der Hauptprotagonistinnen.

Dabei spielt sie von allen Figuren in dem Roman Houellebecqs, der ebenfalls stark autobiographische Züge trägt – die allerdings nicht explizit angekündigt werden, da „Elementarteilchen“ zugleich ein Thesenroman ist -, die wohl negativste Rolle. „Janine Ceccaldi“, so heibt sie in „Elementarteilchen“, dessen Autor die meisten tatsächlich lebenden Figuren seiner Handlung bis zur deutlichen Kenntlichkeit verfremdet hat.  

Der Untergang des Abendlands (Version Houllebecq)

„Elementarteilchen“ handelt vom „Selbstmord des Abendlands“ (suicide occidental), wie Houellebecq sich ausdrückt. Ein Selbstmord, der daraus resultiert, dass die soziale Bindungen zwischen den Individuen sich auflösen, welch letztere ins eiskalte Bad des modernen Egoismus getaucht werden. Das Streben nach sexueller Erfüllung und der häufige Partnerwechsel, die der Autor eng mit den neoliberalen Anforderungen nach beruflicher Flexibilität und Marktkompatibilität in Verbindung bringt – um beide nahezu unauflöslich miteinander zu verquicken –, spielen dabei eine besonders „zersetzende“ Rolle. Beide zusammen führen zu Bindungslosigkeit und tragen letztlich zur Verzweiflung der Vereinzelten bei.

Und „Janine Ceccaldi“ spielt dabei eine ganz besonders wichtige Rolle. Sie ist die Mutter der beiden Hauptfiguren seines Romans –das sind Michel Djerzinski, hinter dem unschwer der Verfasser der „Elementarteilchen“ selbst zu erkennen ist, und sein Halbbruder Bruno. Letzterer ist der Genforscher, der letztendlich die segensreiche Entdeckung einer zur zukünftigen ungeschlechtlichen Fortpflanzung der Menschheit macht. (Vgl. http://www.nadir.org/

„Janine Ceccaldi“, das ist die Rabenmutter, die ihre beiden Söhne im Stich gelassen hat, um der Schimäre eines vermeintlichen Glücks in einer Hippiekommune nachzujagen. Die sich dort von einem begüterten, aber seinen Trip auslebenden Amerikaner aushalten lässt und mit ihm in einem nahezu prostitutionsähnlichen Verhältnis lebt – zwischen Augeblicken des Drogenrausch oder der Anbetung eines Gurus. Die von Houellebecq geschilderte Hippiekommune ist im südfranzösischen Cassis ansässig und „basiert auf der freien Sexualität und der Verwendung psychedelischer Drogen“. Und die Rabenmutter spielt in seiner Schilderung die Rolle einer historisch-gesellschaftlichen „Vorläuferin“, im Sinne jener précurseurs, die „im allgemeinen nur eine Rolle von geschichtlichen Beschleunigern einer historischen Zersetzung spielen, ohne je den Ereignissen eine neue Richtung verleihen zu können.“ Kurz, beim Untergang des Abendlands trägt sie einen wesentlichen Anteil an Mitverantwortung. 

Retourkutsche oder Autobiographie? Wohl beides...

Seit 2005, so äuberte Lucie Ceccaldi jüngst in mehreren seit diesem Frühjahr erschienenen Interviews, habe sie Lust verspürt, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Die Idee dazu, so schildert sie es auch in dem Vorwort zu L’innocente, sei ihr während des mehrwöchigen Aufenthalts in einem Pariser Krankenhaus zwischen zwei Augenoperationen gekommen. Durch das Warten, das ihr während der Behandlung ihres Grünen Stars zwangsweise auferlegt worden sei, habe sie über ihre Lebensgeschichte nachzudenken begonnen. Nach längerem Zögern habe sie ihr Vorhaben nunmehr endlich verwirklicht.

Einen direkten Zusammenhang zu den Veröffentlichungen ihres längst prominent gewordenen Sohnes zieht sie nicht oder jedenfalls nicht explizit. Und dennoch sind Michel Houellebecq und sein Werk durchaus präsent, auch wenn dessen Thesen den gröbten Teils ihres autobiographischen Romans hindurch unerwähnt bleiben. Erst im zwölfseitigen Nachwort von L’Innocente wird Ceccaldi auch ausdrücklich darauf eingehen, und dabei auch ausgesprochen ausfällig werden. Jene Beobachter, die auf die grobe literarische Abrechnung zwischen Mutter und Sohn warten, kommen nach 400 Seiten Lektüre vielleicht doch noch auf ihre Kosten. Vielleicht.

„Lucie Ceccaldi ist die Mutter des Schriftstellers Michel Houellebecq. Hier sind die Schlüssel zu seinem Werk.“ So lautet der Klappentext, den ihr Verleger – der Kleinverlag Scali – auf einem kartonierten Papierband, welches das Buch im unteren Drittel äuberlich umwickelt, dem Betrachter präsentiert. Diese Worte prangen auf der Rückseite. Auf der Vorderseite steht: „Mit Michel Houellebecq, meinem Sohn, werde ich an jenem Tag wieder reden können, an dem er in der Öffentlichkeit geht, mit seinen ‚Elementarteilchen’ in der Hand, und sagt: ‚Ich bitte um Entschuldigung’.“ So lautet auch der erste Satz in dem Nachwort, das Lucie Ceccaldi zu ihrem autobiographischen Werk verfasst hat.

Gerade diese Sätze dem Publikum, das ihr Buch zunächst oberflächlich und von auben betrachtet, ins Auge fallen zu lassen, ist Sensationshascherei. Denn im allergröbten Teil von L’innocente geht es gar nicht um die scharfe, pikante Abrechnung mit Houllebecq. Allenfalls am Rande und im Hinterkopf lässt sich an dessen Darstellung der mütterlichen Romanfigur denken, wenn Ceccaldi daran geht, ihr eigenes Leben aus ihrer eigenen Sicht zu schildern. Dies tut sie auf recht bescheidene Weise. Sie bezeichnet ihren Werdegang als „die mögliche Entwicklung eines menschlichen Wesens“. Erklärtermaben möchte sie weder sich selbst zum „Bauchnabel der Welt“ erheben, noch eine These aufstellen oder „eine Botschaft übermitteln“. Dass sie ihr Leben aufschrieb, begründet sie mit einem afrikanischen Sprichwort, das sie sowohl in ihrem Vor- als auch im Nachwort zitiert: „Ein Alter, der stirbt, bedeutete eine Bibliothek, die abbrennt.“ Ihre Erinnerung an eine Biographie, die sie lediglich als einen von unzähligen möglichen Werdegängen betrachtet, soll den Lesern lediglich einen Ausschnitt aus den Erfahrungen des zurückliegenden Jahrhunderts vermitteln. 

Nur keine falsche Bescheidenheit! 

Dabei wäre so viel Bescheidenheit in ihrer Selbstdarstellung gar nicht unbedingt nötig gewesen. Denn die Autobiographie der Lucie Ceccaldi enthält durchaus einiges Aubergewöhnliches, das sie mal nüchtern und mal in eher spielerischen Beschreibungen schildert.

Es beginnt mit einer Kindheit in der französischen Kolonie Algerien. Die Kindheitserinnerungen sind zum Teil lustig, wenn sie sich etwa an ihren Halbbruder erinnert, der eine Reise ihrer Eltern nutzt, um das Ehebett mit seiner Angebeteten zu „schänden“, und den Weinkeller in ihrer Abwesenheit leertrinkt – leider kommen die Eltern einige Tage früher als geplant zurück und finden ein heilloses Chaos vor. Zum Teil sind sie auch ernst. Das traumatischste Erlebnis - das in nüchternen Worten geschildert wird, aber dem Leser doch im Gedächtnis bleibt und von Ceccaldi in einem Interview mit dem Literaturmagazin Lire ausdrücklich erwähnt wird – besteht darin, dass ihr Vater unter ihren Augen eine Katze totschlägt, die im Freien lebte und sich regelmäbig in der heimischen Küche bediente. Ab da bekommt die Idylle einen Sprung, und das väterliche Bild steht in Frage, da sie nunmehr allabendlich einen „Mörder“ auf die Wange küsst. Ansonsten ist der Vater aber ein sanfter Mann, der total unter der Fuchtel ihrer Mutter steht. Ein in die nordafrikanische Kolonie entsandter Franzose, dessen erste Ehefrau und Tochter früh an Tuberkulose starben und der sich – mühsam und bei Kerzenlicht – durch Eigenstudium vom Technikergehilfen zum Ingenieur hocharbeitete. 

Eine Jugend im Kolonialkrieg 

Als sie einige Jahre älter ist, engagiert sich Lucie Ceccaldi bei den Jeunesses communistes, dem Jugendverband der Kommunistischen Partei. Der geschichtliche Zufall will, dass just in jener Zeit der französische Kolonialkrieg in Algerien, das um seine Unabhängig kämpft, beginnt. Viele enge Freunde und Bekannte der Medizinstudentin geraten in den Wirbelwind der Geschichte: Der junge Mathematikdoktorand an der Universität Algier, Maurice Audin, Kommunist wie sie, wird durch Fallschirmjäger der französischen Armee zu Tode gefoltert. Der Algerienfranzose Fernand Yveton, ein kommunistischer Arbeiter, versucht durch ein nächtliches Attentat auf die Gasfabrik von Algier – wo er beschäftigt ist – ein spektakuläres Zeichen gegen den Kolonialkrieg, die Unterdrückung und die Folter zu setzen. Er wird vor Ausführung seines Plans gefasst und zum Tode verurteilt. Der französische Justizminister, ein gewisser François Mitterrand, lehnt die Begnadigung des jungen Kommunisten ab, er wird unter der Guillotine hingerichtet. Wir schreiben das Jahr 1957. Der algerische Jude Daniel Timsit (später, nach der Unabhängigkeit, sollte er zeitweilig Minister im entkolonialisierten Algerien werden) wurde seinerseits „nur“ in ein Deportationslager der Kolonialmacht in der Wüste – unter saharatypischen Klimabedingungen – verfrachtet.

Just zu dieser Zeit ist Michel Houellebecq ein Baby. Denn in Wirklichkeit, darauf insistiert Lucie Ceccaldi, erblickte er im Februar 1956 im von Frankreich kolonisierten Algier das Licht der Welt. Der Schriftsteller selbst hatte immer behauptet, er sei 1958 auf der noch heute zu Frankreich gehörenden Insel La Réunion geboren worden – wohin seine Mutter in den späten Fünfzigern als Ärztin versetzt worden ist, und wo sie noch heute wohnt, inzwischen in einer Hütte auf den bergigen Anhöhen der Insel. Ceccaldi wirft ihm deswegen vor, „sogar seine Geburtsurkunde in der Öffentlichkeit zu verfälschen“.

Lucie Ceccaldi hatte noch vor der Geburt ihres Sohns Michel ein aubereheliches Abenteuer, das sie ihrem Ehemann – der Herr wird das ganze Buch hindurch stets nur als L’époux (Der Gatte) bezeichnet und nie mit seinem Namen zitiert – auch schnell beichtet. Deswegen gerät die Beziehung schon früh in die Krise. Und obwohl Ceccaldi über 25, ja 30 Jahre mit diesem Ehemann in enger Verbindung bleibt, haben sie insgesamt nur anderthalb Jahre zusammen gewohnt. Bei ihrer Trennung lässt der Ehemann den etwa einjährigen Sohn Michel von Armeekollegen abholen, von Fallschirmjägern. Es ist mitten in der Bataille d’Alger (Schlacht um Algier), jener Phase des Kolonialkriegs, während derer die spätere algerische Hauptstadt unter militärischer Besatzung steht und die Unabhängigkeitsbewegung sich in Stadtguerilla übt. Michel bleibt drei Wochen in der väterlichen Wohnung, dann wird er den Eltern mütterlicherseits übergeben. Diese wohnen in einem gut behüteten Europäerviertel von Algier. Michel besucht eine Eliteschule und macht grobe Fortschritte. Doch 1961, während der Unabhängigkeitskrieg noch nicht zu Ende ist, aber sich die Lage in der Stadt Algier längst beruhigt hat, lassen die Grobeltern väterlicherseits den nunmehr Fünfjährigen zu sich holen: Es sei „zu gefährlich“ in Nordafrika für den Knaben. Gegen den erklärten Willen der Mutter, die selbst während der „heiben Phase“ des Krieges und unter erheblichen Gefahren – als engagierte Kommunistin, die potenziell im Visier der kolonialen Staatsmacht war – ihr Kind besucht hatte. Und auch gegen den Willen von deren Eltern, die, im Gegensatz zu manchen anderen Europäern, Algerien auch nach der Unabhängigkeit 1962 nicht verlassen werden.  

Houllebecq: Lug und Trug über biographische Daten 

Ab da wächst Michel bei seiner Grobmutter mütterlicherseits in einem nordfranzösischen Kaff auf, wo er anfänglich mit seinem Akzent und seinen Manieren zum Gespött der ortsansässigen „Bauerjugend“ (Ceccaldi) wird. Auf diese Episode, die zwangsweise „Verpflanzung“ aus der Grobstadt Algier in ein ihm unbekanntes, ländliches Frankreich, führt die Mutter eine gewisse frühkindliche Traumatisierung des späteren Schriftstellers zurück. Aus dieser Zeit übrigens hat Houllebecq auch seinen Autorennamen entlehnt: Seine eigene Mutter gibt an, zunächst lange in ihrem Kopf nach der Herkunft dieses Familiennamens gesucht zu haben, als Michel unter ihm prominent zu werden begann. Es ist der Familienname der Grobmutter väterlichseits, bei der Michel einige Jahre lang aufwuchs, den Ceccaldi aber längst verdrängt hatte. Und der Schriftsteller selbst hatte es in der Öffentlichkeit auch tunlichst versäumt, auf die genauen Hintergründe seines frühen Lebenswegs hinzuweisen. 

Die Nach-68er-Ära und Hippiewelle erfasst Ceccaldi... 

Unterdessen beginnt die junge Ärztin zu reisen. Sie durchquert mit ihrem Noch-immer-Ehemann, einem Hochgebirgsführer, den afrikanischen Kontinent – einmal quer durch, von Kapstadt bis Algier. Ansonsten stürzt sie sich in ihre anspruchsvolle Arbeit als Medizinerin, „vierzehn Stunden am Tag“.

In der Nach-Achtundsechziger-Ära wird sie von manchen neuen Bewegungen beeinflusst, wenngleich eher am Rande: Drogenexperimente, Hippies, kurzzeitiges Interesse für indische Religionen. Als Reisebegeisterte bricht sie nach Indien auf, in das Weltzentrum des Yoga. Bei ihrer Ankunft ist sie jedoch eher ernüchtert und enttäuscht über das „triste Gebäude“, das sie vorfindet. Im buddhistischen Zentrum Dharamsala stellt sie kritische Gedanken über die von fernöstlichen Religionen begeisterten Westler auf, die einem „Amalgam (Gemisch) völlig unverdauter philosophischer Weisheiten“ anhängen. Nach einiger Zeit beschliebt sie, lieber in Goa – am Indischen Ozean – das Meer zu genieben, bevor sie Ende 1976 nach Frankreich zurückkehrt. 

...spült sie aber nicht fort

Alles in allem ist Ceccaldi auch in dieser Phase wesentlich weniger berauscht und begeistert, als Houellebecq die Mutterfigur seiner „Elementarteilchen“ in einer Generalschilderung darstellt.  Unterwegs muss sie auch einige ernüchternde Erfahrungen machen. Ihr Freund aus jener Periode, „die“ grobe Liebe ihres Lebens, war während ihrer Abwesenheit nicht nur fremdgegangen – was in jener Zeit, Mitte der 70er Jahre, allgemein nicht als Drama gilt. Er hatte auch in seinem Auto einen Trip mit der Tochter eines Gendarmen eingeworfen, der der jungen Frau nicht gut bekam. Diese beschwerte sich daraufhin beim Herrn Papa, und eine Hausdurchsuchung förderte neben manchen blauen Pillen auch „einen Berg ärztlicher Verschreibungen“ zu Tage – die Rezepte, die den Erwerb von Drogen erlaubten, hatte die Medizinerin Ceccaldi ausgestellt. In Frankreich wird ein Strafverfahren eingeleitet. Allerdings wird es dank entlastender Aussagen wieder eingestellt, ihr dortiger Freund kommt nach fünfmonatiger Untersuchungshaft wieder frei. 

Antiarabischer Rasssismus: Fortsetzung der Kolonial-Ära mit anderen Mitteln?

Nach ihrer Rückkehr lebt Ceccaldi keineswegs in einer Hippiekommune, sondern arbeitet hart, um sich neue Diplome für ärztliche Spezialisierungen zu erwerben. Unterdessen knüpft sie Verbindungen zu ihrem Ehemann wieder an und verbringt 18 Monate auf dem Grundstück von dessen korsischer Familie auf der Mittelmeerinsel, in seiner Anwesenheit. Am Ende vollzieht sie allerdings einen Bruch: Die Familie, die aus ehemaligen europäischen Nordafrikasiedlern besteht, hat das Leben in der Kolonie mit marokkanischen Leiharbeitern, die in ihren Diensten stehen, originalgetreu  reproduziert. Angeekelt vom Rassismus und den als „natürlich“ betrachteten Hierarchien in diesem Milieu, packt Ceccaldi schlieblich – Ende 1985 – die Koffer. Ihr Berufsleben schliebt sie Anfang der neunziger Jahre auf La Réunion ab: Nachdem sie sich in Leserbriefen an örtliche Zeitungen negativ über den Angriffskrieg gegen den Irak von 1991 geäubert hatte, wird sie von ihren Vorgesetzten aus dem Krankenhausdienst gemobbt und gegen ihren Willen in Pension geschickt. Frankreich ist damals im Krieg, anders als bei der Invasion von 2003 hat sein Präsident François Mitterrand damals eigene Truppen gegen den Irak ins Feld geschickt. Kritik wird nicht gern gehört.

Sohn will Irak bombardieren: Streit!    
(Anm. d. Verf.: Wenn das mal keine BILD-reife Zwischenüberschrift war..)

Kurz darauf trifft sie, in Paris, ihren Sohn Michel zum allerletzten Mal. Die beiden zerstreiten sich, just über den Krieg gegen den Irak. Denn Michel – noch nicht „Houllebecq“ - legt einen offenen Araberhass an den Tag und meint, deren Ländern müsse man mal richtig einheizen. Ceccaldi verlässt den Tisch, an dem sie sitzen. Ende 1992 trifft ein Brief von ihm ein: Michel, der ihr vorwirft, ihn im Kindesalter im Stich gelassen zu haben, fordert sie zu finanzieller und sonstiger Unterstützung auf. Er hat Filmprojekte, aber nichts, wovon er zum aktuellen Zeitpunkt leben könnte. Sie solle, verlangt er ultimativ von seiner Mutter, ihren Einfluss bei Leuten geltend machen, die seine Vorhaben in der Kinowelt befördern sollten. Ansonsten solle er ihr für drei Jahre Lebensunterhalt zahlen: „Jeder Brief, der nicht von einem Scheck begleitet ist, landet im Mülleimer.“ So schreibt er. Sein Brief bleibt unbeantwortet. Er ist zu dem Zeitpunkt 38.  

Ein paar Jahre später wird die Mutter entdecken, das seine beiden ersten Romane – „Ausweitung der Kampfzone“ und „Elementarteilchen“ von ihr handelt. Von ihr und von Menschen, die sie kennt. Aber alles ist falsch dargestellt, so befindet sie.

 Auf den ersten 400 Seiten ihres Buches hält sie sich absolut zurück, was eine Stellungnahme zu den Thesen ihres Sohnes betrifft. Sie interessiert sich nicht dafür, sondern konzentriert sich darauf, ihr eigenes Leben nachzuzeichnen. Lediglich im Nachwort kommt es dann zur Antwort auf den Sohn, in geballter Form und durchaus ausfällig. „Mein Sohn soll sich ficken lassen, durch wen und mit wem, das ist mir völlig egal“, schreibt sie. Und: „Ob er noch ein Buch schreibt, geht mir völlig am Arsch vorbei. Aber  falls er das Pech hat, noch einmal meinen Namen auf irgendein Ding zu setzen, dann kriegt er eine Krücke in die Zähne ab, so viel ist sicher! Und weder Flammarion noch Fayard werden mich aufhalten.“ Bei beiden renommierten Pariser Verlagen hat Houellebecq bereits veröffentlicht. 

Reaktionen enttäuschter Literaturkritiker: Augenauskratzen zwischen Mutter und Sohn blieb leider aus

Letztendlich interessierten die meisten Kritiker sich nur für diese paar dürren Sätze, die in ausnahmslos jeder Rezension auftauchen. Zum Unglück der Lucie Ceccaldi wird sie noch immer fast nur über ihren Sohn definiert. Tatsächlich genügt ihr eigener Roman wohl keinem literarischen Anspruch, auch wenn er durchweg angenehm und meist kurzweilig geschrieben ist – was aber die Rezensenten nicht interessiert, die das Buch etwa im Nouvel Observateur als „langatmig und fast gar nicht redigiert“ bezeichneten. Und doch schildert er ein Leben, das – vor allem in seiner ersten Phase – einiges Aubergewöhnliches zu bieten hat. Und doch erhellte er einige Hintergründe, die die Figur Houllebecq verständlicher machen, von den Ursachen mancher kindlicher Frustration bis zu den Wurzeln seines Araberhasses. Auch wenn der Romancier im Werk seiner Mutter letztendlich eher eine Randfigur bleibt.

  • Eine vom Autor gekürzte Fassung dieser Rezension erschien in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’ (Ausgabe vom 24. Juli 2008).

Lucie Ceccaldi
L’innocente
Verlag: Scali
413 Seiten
19,90 Euro


2008 (Mai)