Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Marina Petrella droht Auslieferung nach Italien: Lebendig oder tot?

7/8-08

trend
onlinezeitung

Die frühere Rotbrigadistin sitzt seit Monaten in französischer Auslieferungshaft, und befindet sich unterdessen in akuter Lebensgefahr. Die Pariser Regierung hatte Anfang Juni das Auslieferungsdekret unterzeichnet, unter Bruch eines 1985 von Präsident Mitterrand im Namen des französischen Staates abgegeben Versprechens

Vorbemerkung: Eine gekürzte und redaktionell überarbeitete Fassung dieses Artikels erschien an diesem Donnerstag, 24. Juli in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’. Eine weitere wichtige Vorbemerkung: Sofern im Folgenden die Begriffe „terroristisch“ oder „Terrorismus“ benutzt werden, so müssen die Anführungszeichen (auch dort, wo nicht explizit Anführungsstriche oder ein voraus gehendes ‚so genannt’ dazu gesetzt worden sind) stets dazu gedacht werden. In seiner Verwendung im herrschenden Sprachgebrauch widerspiegelt der Begriff vor allem Machtverhältnisse und die daraus abgeleitete Unterscheidung zwischen ‚legitimer’ (staatlicher) und ‚illegitimer’ (außerstaatlicher) Gewalt – und ist deshalb grundsätzlich in Frage zu stellen, was keinesfalls bedeutet, dass im Umkehrschluss jegliche Form von Gewaltanwendung der zweiten Kategorie gerechtfertigt sei. Über die Bewertung ihrer Erscheinungsformen, und die politische Bilanz der bewaffneten Linken der 1970er Jahre, muss vielmehr in jedem Einzelfall eine konkrete Analyse vorgenommen und debattiert werden...

Man könnte es als einen Versuch zur sprichwörtlichen Quadratur des Kreises bezeichnen. Präsident Nicolas Sarkozy kündigt an, er werde das Dekret zur Auslieferung der ehemaligen so genannten Linksterroristin Marina Petrella an Italien unterzeichnen, aber gleichzeitig ein Gnadengesuch für sie an seinen Amtskollegen, Giorgio Napolitano, richten.

Durch das Gnadengesuch erkennt Sarkozy indirekt an, dass die frühere Rotbrigadistin Petrella ihre Auslieferung mutmaßlich nicht – oder nicht lange – überleben dürfte. Gleichzeitig müsse das Gesetz Gesetz bleiben, tönt Nicolas Sarkozy. Und um „ein Recht auf Gnade, auf Vergebung“ zu haben, müsse man „erst Repentance üben“. Dieser Begriff bedeutet im Französischen so viel wie „Reue“ oder Büßertum“ und bezeichnet im Zusammenhang mit ehemaligen politischen, bewaffneten Aktivisten das öffentliche Abschwören. Auch im Italienischen nennt man ehemalige so genannten Terroristen, die ihrer Sache abgeschworen haben, Repentiti. Im Wahlkampf Nicolas Sarkozys vor anderthalb Jahren hatte der Begriff der Repentance übrigens ebenfalls eine absolut zentrale Rolle gespielt, allerdings in völlig anderem Zusammenhang: Der damalige Präsidentschaftskandidat zog monatelang gegen einen angeblichen Hang zum nationalen „Masochismus“, zum „ständigen Büßertum“ aufgrund der französischen Kolonialgeschichte und ihrer Massaker zu Felde. Es sei Zeit, so Sarkozy damals immer wieder, nunmehr das Büßergewand abzulegen.

Die „Mitterrand-Doktrin“...

Für so genannte Terroristen, oder Leute, die es einmal waren, gilt freilich etwas völlig Anderes. Bei ihnen hat die Aufforderung zur Distanzierung von ihren staatsfeindlichen Aktivitäten und ihrer „kriminellen“ Gesinnung Vorrang. Und von einer allgemeingültigen Staatsdoktrin, die ehemaligen bewaffneten Linken aus Italien ihre Aufnahme in Frankreich verspricht und gewährt, sofern sie nur definitiv die Waffen niedergelegt haben, möchten die Regierenden in Paris heute nichts mehr wissen.

Ein solches Prinzip hat es in der Vergangenheit in Frankreich gegeben: Es hörte auf den Namen „Mitterrand—Doktrin“, weil das damalige Staatsoberhaupt François Mitterrand im November 1985 auf dem 65. Konferenz der altehrwürdigen, linksliberalen „Liga für Menschenrechte“ (LDH) versprochen hatte, es werde keine Auslieferung von italienischen ehemaligen Linksterroristen an Rom geben, sofern sie nur den bewaffneten Kampf eingestellt hätten. Über fünfzehn Jahre lang haben die aufeinander folgenden französischen Regierungen dieses Versprechen, das ja im Namen der Republik abgegeben worden war, respektiert. Es war ursprünglich einmal darin begründet gewesen, dass unter den in Italien – seit dem dortigen „schleichenden Bürgerkrieg“ der 1970er Jahre – geltenden Ausnahmegesetzen gegen bewaffnete Gruppen und gegen die radikale Linke allgemein bestimmte rechtsstaatliche Minimalstandards nicht mehr gegeben waren. So jedenfalls das Raisonnement der (auch staatstragenden) französischen Linken in den 1980er Jahren.

...und ihr Bruch

Seit dem Regierungswechsel nach rechts vom Frühjahr 2002 allerdings hat das offizielle Frankreich nunmehr klar mit dieser Staatsdoktrin gebrochen. Im August 2002, zur Monatsmitte – während der hochsommerlichen Pause, in der in Paris alles politische Leben erstarrt ist und mehr Touristen als Einwohner sich in der Stadt befinden - , ließ die damalige konservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin den früheren Linksterroristen Paolo Persichetti völlig überraschend an Italien ausliefern. Dem ging ein Auslieferungsbegehren voraus, das der damalige Justizminister Silvio Berlusconis, Roberto Castelli von der rassistischen Regionalpartei Lega Nord, an Frankreich gerichtet hatte. `

Auch nach dem Regierungswechsel und der zeitweiligen Präsenz einer Mitte-Links-Regierung unter Romano Prodi hielt Italien an seinem Kurs fest, die Auslieferung von in Frankreich lebenden Ex-Terroristen, zumindest der aus römischer Sicht wichtigsten unter ihnen, zu fordern. 2006 präsentierte Rom der Pariser Regierung offiziell eine Liste mit 14 Namen. Im selben Jahr sorgte die Affäre um Cesare Battisti für Aufsehen: Der Kriminalschriftsteller und frühere bewaffnete Aktivist wurde durch die französische Regierung zur Auslieferung bestimmt, die Justiz bestätigte den Auslieferungsbefehl – doch er konnte sich der Inhaftierung durch Flucht an einen zunächst unbekannten Ort entziehen. Allerdings wurde er im April 2007 in Brasilien gefasst und dort festgenommen. Seitdem sitzt er in einer brasilianischen Gefängniszelle, während die Untersuchung des Auslieferungsgesuchs für ihn durch die dortige Justiz bislang noch nicht abgeschlossen ist.

Wer ist Marina Petrella?

Nun also trifft es Marina Petrella. Die 54jährige war in den frühen achtziger Jahren ein Führungsmitglied der Roten Brigaden (BR) im Raum Rom.

Diese linksterroristische „Stadtguerilla“-Organisation war damals vom Staat gefürchtet (ihr wurden insgesamt 15.000 Anschläge unterschiedlichster Art angelastet) - obgleich zumindest manche ihrer Operationen wie etwa die Entführung von Aldo Moro mutmaßlich auch von Geheimdiensten, welche von vornherein über sie unterrichtet waren und welche die BR dabei stets im Auge behielten, instrumentalisiert wurden. Von Letztgenannten wurden die bewaffneten Aktionen der BR und anderer Gruppen oftmals im Zuge einer „Strategie der Spannung“ erst zugelassen und dann zur Rechtfertigung ihrer eigenen Aktionen angeführt. (Zumal es mit dem Christdemokraten Aldo Moro auch jemanden traf, der als einer der führenden Politiker der italienischen ‚Democrazia Christiana’ für den damals frisch eingefädelten „Historischen Kompromiss“ mit der Kommunistischen Partei eintrat. Dies beinhaltete zwar kein „Revolutionsrisiko“, trat die KP doch damals reichlich staatstragend und strikt „antiterroristisch“ auf. Aufgrund dieser Strategie war aber jemand wie Aldo Moro dennoch einem Teil der rechten bis rechtsradikalen Fraktion im und rund um den Staatsapparat ein Dorn im Auge.) Gleichzeitig zeichnete sich die bewaffnete Organisation der BR dadurch aus, dass sie erheblich weniger „durchgeknallt“ auftrat als die westdeutsche RAF oder ihr französisches Pendant, Action Directe. Sie war durchaus mit den sozialen Kämpfen etwa in Betrieben verbunden, auf die ihre Aktionen und ihre Kommuniqués oft Bezug nahmen, und in ein reales soziales Umfeld eingebettet.

Italien befand sich in den späten Siebziger Jahren in einem „Bürgerkrieg niedriger Intensität“, wie es der Vorsitzende einer parlamentarischen Untersuchungskommission – Giovanni Pellegrino – später formulieren würde. Auf der einen Seite der Staatsapparat, der in diesem „schleichenden Bürgerkrieg“ oft in Verbindung mit Mafia-, Geheimdienst- und neofaschistischen Gruppen agierte. Auf der anderen Seite eine radikale Linke, die in ihren Hochzeiten bis zu eine Million Sympathisanten verfügte und aus der eine Reihe bewaffneter Gruppen und Grüppchen hervorgingen – von denen die BR nur die am besten organisierte und „straighteste“ waren. Die radikale Linke war dabei auch deswegen gesellschaftlich nicht isoliert, weil es in Italien in breiten Kreisen eine positive Erinnerung an die Partisanen und die antifaschistische bewaffnete Resistenza gab, die zu ihrer Zeit eine Massenbewegung bildeten – anders als der antifaschistische Widerstand in Deutschland. Um mit den bewaffneten Gruppen und der breiteren radikalen Linken fertig zu werden, verabschiedete der Staat Sonder- und Ausnahmegesetze. Insgesamt 60.000 Personen wurden in jenen Jahren im Zusammenhang mit dem so genannten Linksterrorismus angeklagt, 5.000 von ihnen wurden verurteilt.

Marine Petrella wurde 1982 in Rom inhaftiert. Ihr wurde vorgeworfen, bei der Nötigung eines Richters – der durch die BR entführt und eingesperrt gehalten wurde – dabei gewesen zu sein und aufgrund ihrer Führungsfunktion die Mitverantwortung für fünf bewaffnete Angriffe zu tragen. So soll sie die Tötung eines Polizeikommissars 1981, bei der auch dessen Fahrer verletzt wurde, mit organisiert haben. Nach ihrer Festnahme blieb Petrella acht Jahre in Untersuchungshaft, bis zur Ausschöpfung der unter den Ausnahmegesetzen zulässigen Höchstdauer. Danach musste sie freigelassen werden und konnte so als freie Person, die aber unter Justizkontrolle und Meldeauflagen stand, zu ihrem Prozess erscheinen. Dieser begann 1992 und endete im Mai des folgenden Jahres mit ihrer Verurteilung zu lebenslänglicher Haft. Das Urteil fiel allerdings in ihrer Abwesenheit, da sie sich inzwischen dem Zugriff des italienischen Staates entzogen hatte.

Legaler Aufenthalt im Frankreich der ‚Mitterrand-Doktrin’

Sie war kurz zuvor in Paris eingetroffen und meldete sich bei den dortigen Behörden: Sie ging mit ihrer wahren Identität und einer Fotokopie von François Mitterrands Rede von 1985 zur Polizeipräfektur. In Frankreich signalisierte man ihr jedoch, dass nichts gegen sie vorliege, und erteilte ihr eine Aufenthaltserlaubnis. Sie lebte also völlig legal, machte eine Lehre als Landschaftsgärtnerin, heiratete den algerischstämmigen Franzosen Ahmed Merakchi und arbeitete später als Sozialarbeiterin. In ihrem „Problemviertel“ in der Pariser Vorstadt Argentueil, wo sie mit ihrem Ehemann lebte, war sie unablässig bemüht, die Jugendlichen davon zu überzeugen, dass das Anzünden von Autos keine sozialen Problem löst. Rechtzeitig bevor sie ein zweites Kind bekam – ihre Tochter Emmanuella kam dann im Dezember 1997 zur Welt, ihre erste Tochter Elisa war 1983 im Gefängnis geboren worden -, erkundigte sie sich bei den Behörden, ob nichts gegen sie vorliege. Kein Problem, hatte man ihr geantwortet.

Auch im Jahr 2002, als unmittelbar nach der Auslieferung von Paolo Pasichette plötzlich drei Zivilpolizisten vor ihrer Tür standen und Computerfestplatten sowie Handys untersuchten, wandte sie sich daraufhin offiziell an die Behörden. Im Rathaus versicherte man ihr, dass sie sich in einer völlig legalen Situation befinde und nichts zu beanstanden sei. Aber im August 2007 war es so weit: Anlässlich einer Vorladung auf eine Polizeiwache wegen eines Problems mit dem Fahrzeugscheins für das Auto, das sie ein Jahr zuvor verkauft hatte, wurde sie befragt, ob sie „Waffen in der Wohnung“ habe. Sie verneinte. Aber das Gespräch nahm schnell eine ungute Wendung. Ihr wurden im Beisein von Mann und Tochter die Handschellen angelegt. Die Richter in erster Instanz und das Berufungsgericht bestätigten die Rechtmäßigkeit ihrer Auslieferung. Marina Petrella saß im Frauengefängnis von Fresnes und wurde am 11. April in die Pariser Prominenten-Haftanstalt La Santé überstellt.

Auslieferungsdekret unterzeichnet: Operation gelungen, Patientin tot...?

Am 9. Juni unterzeichnete die Regierung von Premierminister François Fillon dann das Auslieferungsdekret.

Marine Petralla interessierte das alles zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr: Sie sitzt seit Monaten teilnahmslos in der Zelle und lässt sich, so die Ärzte, langsam sterben. Seit Beginn ihrer Inhaftierung hat sie über 20 Kilogramm verloren. Just am vorletzten Wochenende befand ihr behandelnder Arzt, sie befinde sich nun in „akuter Lebensgefahr“. Ein medizinisches Gutachten des Gefängnisarztes von Fresnes vom 11. April spricht von „gravierender Depression, moralischem Schmerz, extrem präsenten Todesvorstellungen, psychosomatischen Angstzuständen, dem Gefühl einer definitiv verbauten Zukunft, einer offenen und beunruhigenden Selbstmordgefahr“. Am selben Tag wurde Petrella in ein psychisches Krankenhaus in Evry südlich von Paris verlegt, wo sie bis Ende Mai blieb. Danach wurde sie wieder in Haft eingeliefert, während ein behandelnder Arzt ihr attestierte, ihr Zustand sei „bedenklicher als vor dem 11. April“.

Am 1. Juli berichtete die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde auf einer vollen Seite, und aus einer sehr humanen Perspektive, über den Zustand der Gefangenen. Dies hat in der öffentlichen Meinung noch einmal einiges bewegt, während eine gewisse Anzahl von Unterstützern – darunter oft dieselben, die sich, wie die Krimiautorin Fred Vargas, auch schon für Cesare Battisti eingesetzt hatten – sich seit Monaten unermüdlich für sie einsetzten. Zur selben Zeit erklärte die bekannte Schauspielerin Valérie Bruni-Tedeschi - die Halbschwester von Präsidentengattin Carla Bruni-Sarkozy -, sie sei für die sofortige Aufhebung des Haftbefehls gegen Marine Petrella, und sie wolle mit ihr zusammentreffen. Sie selbst „kenne die Geschichte“, aufgrund derer sie im Alter von neun Jahren nach Frankreich gekommen sei – die schwerreiche Familie Bruni war vor den BR aus Italien geflohen -, und heutige enge Freunde von ihr „hätten damals um Haaresbreite mitgemacht“. Laut eigenen Angaben hat Valérie Bruni-Tedeschi – als eine von wenigen Personen, die überhaupt bis zu Marina Petrelli, die fast niemanden empfängt, durchdringen konnte – die Gefangene am 12. Juli dieses Jahres besucht.

Die Regierung blieb jedoch bei einer harten Position: „Sofern ihre körperliche Verfassung es zulässt“, so Justizministerin Rachida Dati, müsse Petrella an Italien ausgeliefert werden. Nachdem das Dekret unterzeichnet ist, hat die Gefangene nunmehr nur noch einen einzigen Rechtsbehelf: Sie kann den Conseil d’Etat, das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs, anrufen. Aber der dort eingelegte Widerspruch hat vom Gesetz her keine aufschiebende Wirkung. Es ist allerdings gängige Praxis in Frankreich, den Entscheid des Conseil d’Etat abzuwarten, bevor eine Auslieferung vollstreckt wird. Präsident Sarkozy hat angekündigt, sich an diese ungeschriebene, aber übliche Regel zu halten.

Exkurs: Unterschiedliche Behandlung für frühere Rotbrigadisten – und für heutige FARC-Geiselnehmer?

Zugleich befindet die Regierung, die Durchsetzung des Gesetzes und die Ahndung der vor einem Vierteljahrhundert begangenen „Verbrechen“ müsse Vorrang vor politischen oder humanitären Erwägungen haben. Allerdings unterliegt auch hier das demonstrativ unterstrichene Prinzip den Anforderungen der politischen Konjunktur. Denn den bewaffneten Mitgliedern der kolumbianischen Guerillatruppe FARC – die, anders als die italienischen Roten Brigaden der siebziger Jahre, tatsächlich so manche Verbrechen gegen Zivilisten, Geiselnahmen von am Konflikt mit dem Staat Unbeteiligten und ähnliche Taten zu verschulden haben – hat Präsident Sarkozy am 2. Juli 2008 ihre Aufnahme in Frankreich zugesagt, falls sie auf ihre Waffen verzichten. Ein ähnliches Versprechen, wie Mitterrand es abgab.

Allerdings war es in diesem Falle dadurch motiviert, dass Sarkozy gar zu gern die Lorbeeren der Befreiung der seit sechs Jahren durch die FARC festgehaltenen französisch-kolumbianischen Geisel Ingrid Betancourt geerntet hätte. Dabei hat ihm nun allerdings, wenige Tage später, die kolumbianische Armee einen Strich durch die Rechnung gemacht, die Ingrid Betancourt in der zweiten Juliwoche durch einen Trick – und wohl auch einigem Glück in ihrem Spiel - befreien konnte: Laut Kritikern seiner Politik stand Sarkozy mit seiner Verhandlungspolitik (die zwecks Erreichung ihres Ziels sowohl Venezuelas Präsidenten Hugo Chavez als auch die FARC als „Dialogpartner“ einzubinden suchte) am Schluss „mit leeren Händen“ da. Triumphiert hätte hingegen, so dieselben Kritiker, die „harte Linie“ der kolumbianischen Regierung Uribe und ihrer Armee – sowie der hinter ihr stehenden US-Administration und Israels. (Militärs der beiden letztgenannten Staaten sind in Kolumbien sehr aktiv und sollen lt. dortigen Zeitungsberichten auch Spezialisten der dortigen Armee ausbilden, wie Oppositionelle meinen: zum Foltern.) Diese „Kritik“ wurde in Frankreich ulkigerweise sowohl von der reaktionären Ziege, pardon: rechtssozialdemokratischen Ex-Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal als auch von der extremen Rechten vorgetragen: Beide sprachen davon, die kolumbianische Politik und Armee hättenschlussendlich den Verdienst errungen. Royal verknüpfte diese Kritik vor allem mit dem Vorwurf, Nicolas Sarkozy schmücke sich mit fremden Federn. Stimmen vom rechtsextremen Front National sprachen auf einschlägigen Blocks eher davon, die „Politik der harten Hand“ des kolumbianischen Präsidenten und seiner Armee habe sich gegenüber jedwedem „Humanitätsgedusel“ als die richtige Linie erwiesen.

Sarkozys Pirouette


Am Rande des G8-Gipfels im japanischen Toyako verkündete Sarkozy, er habe mit dem italienischen Regierungschef Silvo Berlusconi – die beiden Männer stehen einander ausgesprochen nahe – über den Fall Marina Petralle gesprochen. Er werde ihn bitten, so Sarkozy, sein Gesuch für eine möglichst rasche Begnadigung Petrellas an den italienischen Staatspräsidenten Napolitano weiterzuleiten. Berlusconi, fügte er hinzu, teile seine Sicht. Eine Begnadigung kann jedoch allein Napolitano rechtsgültig aussprechen oder unterzeichnen.

Allerdings hat das italienische Präsidentenamt sich beeilt, seinerseits zu kommentieren, man sei „verärgert“ über den Vorstoß Sarkozys. Dieser mische sich, erklärte man in kaum verhüllten Worten, quasi in die inneren Angelegenheiten des italienischen Staates ein. Berlusconi möge die Botschaft des französischen Präsidenten ruhig mitbringen, sei dabei aber nur „ihr Überbringer“, fügte man hinzu – also keinesfalls der Entscheidungsträger in dieser Frage. Napolitano hat den Ruf, den „Opferfamilien des Terrorismus“ ausgesprochen nahe zu stehen und ein sehr offenes Ohr für ihre Anliegen zu haben. Am 9. Mai dieses Jahres hatte er anlässlich des italienischen „Gedenktags für die Terrorismusopfer“ lautstark jene „ Terroristen, die manche öffentliche Bühne nutzen, um ihre Sicht der damaligen Ereignisse darzustellen“ kritisiert. In den letzten Jahren zeichnete sich in Italien eine Praxis ab, wonach ehemalige Linksterroristen nur dann begnadigt werden, wenn sie zuvor bereits mindestens einen bedeutenden Teil ihrer Strafe abgebüßt haben. Napolitano hat in seiner Amtszeit nur einen ehemaligen bewaffneten Linken begnadigt: Ovidio Bompressi, dem zur Last gelegt wurde, 1972 einen Polizeikommissar getötet zu haben. Aber der Beschluss dazu war von seinem Vorgänger getroffen worden, und der jetzige Staatspräsident hatte sich damit begnügt, die Urkunde des Gnadenakts zu unterschreiben.

Sarkozys Gnadengesuch könnte also vorläufig auf taube Ohren stoße. Es handelt sich ohnehin „nur um eine weitere Pirouette Sarkozys, um nicht als Henker dazustehen“, kommentiert Marina Petralles französische Anwältin Irène Terrel ihrerseits diese Episode. Sie wirft dem französischen Präsidenten „Zynismus““ vor.


Allerletzte Entwicklung

Zu Anfang dieser Woche wurde Marina Petrellas Zustand als immer lebensbedrohlicher beschrieben. Laut Auskunft der Ärzte und ihres Lebensgefährtin wog sie zu dem Zeitpunkt nur noch 39 Kilogramm, war vollkommen abgemagert und wirkte dadurch stark gealtert.

Am Mittwoch Nachmittag (23. Juli) wurde die Gefangene aus der Haftanstalt, bzw. dem Gefängniskrankenhaus von Fresnes, in die psychiatrische Klinik von Saint-Anne in Paris verlegt. Dies müsste im Prinzip die Aufhebung des Inhaftierungsbefehls beinhalten bzw. voraussetzen, da diese psychiatrische Anstalt keine Häftlinge aufnimmt. Allerdings war der Inhaftierungsbefehl bis am Donnerstag noch nicht aufgehoben worden, die Anwältin Petrellas, Irène Terrel (die lt. eigenen Angaben am Vortag von der Aufhebung der Haft gegen ihre Mandatin erfahren hat), hielt es allerdings für möglich, dass es sich lediglich um eine zeitliche Verzögerung handele.

Anlässlich der Kabinettssitzung an diesem Mittwoch soll auch Präsident Nicolas Sarkozy die Hypothese einer Aufhebung der Haft für Marina Petrella angesprochen haben. Im Anschluss an die Sitzung wollte sich allerdings keines der Regierungsmitglieder dazu äußern. Laut dem Online-Magazin ‚Rue89’ (das von früheren Redakteur/inn/en der linksliberalen Tageszeitung ‚Libération’, die vor zwei Jahren einer Entlasssungswelle zum Opfer fielen, betrieben wird) bestehen innerhalb des Regierungslagers ernsthafte taktische Differenzen bezüglich dieser Frage. Einige Minister verträten, laut ‚Rue89’, eine harte Linie dazu, die noch wesentlich härter als jene Sarkozys selbst. (Vgl. http://www.rue89.com/ ) Oder ist Nicolas Sarkozy doch lediglich darum bemüht, in der Öffentlichkeit nicht für das anscheinend Unabwendbare – wenn Marine Petrella je nicht freigelassen wird – verantwortlich zu erscheinen? Die Gefangene hat jedenfalls am Mittwoch durch ihren Lebensgefährten ausdrücklich bekräftigen lassen, sie werde nicht lebend in italienische Haft gehen: „Sie werden nur meine Leiche an Italien ausliefern.“
 

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.