Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Vergangenheitsbewältigung auf Französisch
Oder: Wie das offizielle Paris den Vorwurf, beim letzten Völkermord des 20. Jahrhunderts – in Rwanda – eine äußerst negative Rolle gespielt zu haben, abstreifen möchte

7/8-08

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onlinezeitung

Es ist Bewegung gekommen in die Beziehungen zwischen Frankreich und Rwanda, 14 Jahre nach dem Völkermord, der im Frühjahr 1994 in dem ostafrikanischen Land stattgefunden hat. Dass die Dinge sich bewegen, ist derzeit unbestreitbar – nur ist noch unklar, wohin.

Das Verhältnis französischer Politiker zu dem Staat mit heute acht Millionen Einwohnern ist notgedrungen kompliziert. Haben doch die Amtsvorgänger der heute Regierenden in Paris vor nunmehr 14 Jahren ihren – aktiven und passiven – Anteil daran getragen, dass dort 800.000 bis eine Million Menschen während des damaligen Genozids starben. Manche Kritiker sprechen sogar von einem „Genozid made in France“ (vgl. http://www.genocidemadeinfrance.com / und http://www.dailymotion.com/ ). Auch wenn die Angehörigen des jetzt in Paris regierenden Kabinetts sich von diesem Erbe teilweise distanzieren möchten, so steht doch der französische Staat in der direkten politischen Verantwortung.

Das Morden in Rwanda dauerte vom 7. April bis Anfang Juli 1994. Die Opfer waren überwiegend Angehörige der Minderheit der Tutsi. Aber auch mit Tutsi verheiratete Angehörige der Hutu-Bevölkerungsmehrheit, politische Oppositionelle aus dieser Bevölkerungsgruppe oder einfach Kritiker am geplanten und ausgeführten Völkermord wurden abgeschlachtet. Angehörige der rassistischen „Hutu Power“-Bewegung und ihrer mit Macheten bewaffneten Milizen waren den Tutsi vor, sie lebten wie Blutsauger von der Arbeit der Hutu-Bevölkerungsmehrheit. Eine Legende, die in wesentlichen Teilen darauf zurückgeht, dass die deutsche und später belgische Kolonialherrschaft zwischen 1884 und der Unabhängigkeit 1960 soziale Unterschiede in der damaligen Agrargesellschaft ethnisiert hatten: Wer relativ groß und hellhäutig war, wurden von ihnen – dank vermeintlich moderner Wissenschaft in Form von „Rassen-“ und „Völkerkunde“ - zum Angehörige einer angeblichen Rasse der „Tutsi“ erklärt. Die kleinere und dunkelhäutigeren Einwohner wurden als „Hutu“ klassifiziert und für dumm, stumpfsinnig und nur zu niedrigen Tätigkeiten geeignet erklärt. Schon seit der „Hutu-Revolution“ von 1959, ein Jahr vor der Unabhängigkeit, und seit erneuten Massakern im Jahr 1963 waren immer wieder Tutsi ermordet worden. (Vgl. http://www.amnistia.net/news/articles/negrwand/negrwand.htm  ) Und die Schlächtereien wurden unter anderem durch die ortsansässige katholische Kirche ermutigt. (Vgl. http://nuit.rwandaise.free.fr/ )

Und Frankreichs Rolle dabei? Die offizielle französische Politik interpretierte die Situation in Rwanda nach dem Schnittmuster kolonialer Einflusssphären: Es gab eine von Tutsi – oft Kinder 1963 geflohener Exil-Rwander – angeführte Rebellenbewegung, die RPF (Rwandan Patriotic Front), die im englischsprachigen Nachbarland Uganda ansässig war. An ihrer Spitze stand ein Offizier namens Paul Kagame, der nur Englisch und kein Französisch sprach und einen Teil seiner militärischen Ausbildung in den USA genossen hatte. Die RPF stand seit 1990 im Krieg mit dem rwandischen Regime, in dessen Windschatten der Völkermord durch die „Hutu Power“-Bewegung planmäßig vorbereitet wurde. Für französische Entscheidungsträger in der Umgebung François Mitterrands war damit alles klar: Es galt, den Fall eines Außenpostens der – durch die Sprachgrenze markierten – französischen Einflusssphäre in Zentralafrika zu verhindern. Denn kippe er, so das Kalkül, dann gerate auch der Osten des damaligen Zaire – heute Demokratische Republik Kongo – in Bewegung, und die Diktatur des alternden Mobutu Sese Seko lasse sich nicht mehr halten.

So ähnlich kam es im Übrigen auch. 1997 brach die völlig morsche Mobutu-Diktatur in sich zusammen, der dominierende französische Einfluss wurde in Frage gestellt. Nach dem Machtwechsel zugunsten von Laurent-Désiré Kabila (der 2001 ermordet und durch seinen Sohn Joseph Kabila als Präsident abgelöst wurde) mischten zunehmend auch Chinesen, US-Amerikaner und andere Mächte im Kongo mit.
Nur, dass der Krisenherd im östlichen Zentralafrika durch den Völkermord in Rwanda, durch den anschließenden militärischen Sieg der RPF über das vorherige rwandische Regime und durch die darauf folgende Flucht von Hunderttausenden Hutu (Zivilisten, die sich vor der „Rache der Tutsi“ fürchteten, zusammen mit den in Milizen organisierten Exekutoren des Völkermords) erst recht angeheizt wurde. Die fliehenden rwandischen Hutu ließen sich im Osten des damaligen Zaire und heutigen Konto nieder, der daraufhin selbst zum Pulverfass wurde - und die zur offiziellen Regierungsarmee Rwandas gewordene RPF setzte ihnen dorthin nach. Es folgten ab 1997 mehrere Kriege im ehemaligen Zaire und späteren Kongo, die von Beobachtern mit einem Weltkrieg in Europa verglichen wurden und geschätzten 4,5 Millionen Menschen das Leben kosteten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Osten des Kongobeckens extrem reich an seltenen Rohstoffen wie etwa dem Mineral Koltan – das in den meisten Handytelefonen eingesetzt wird – ist.

Suche nach einem „Bruch“ mit der Last der jüngsten Vergangenheit

Heute ist im offiziellen Frankreich zum Teil eine Politikergeneration an der Macht, die „damals“ – 1994 – entweder keine direkte Verantwortung trug, oder aber damit nicht identifiziert werden möchte. Zwar stimmt diese Selbstdarstellung nicht völlig. Denn der damalige Regierungssprecher, und Haushaltsminister, von 1993 bis 95 ist niemand anders als der jetzige Präsident Nicolas Sarkozy. Allerdings war der seinerzeit für einen Politiker noch relativ junge Sarkozy nicht unmittelbar an den Entscheidungsabläufen, die zur Katastrophe in Rwanda mit beitrugen und im Präsidentenamt, im Außen- sowie im Verteidigungsministerium angesiedelt waren, beteiligt. Also hatte er auch nicht den Beschluss dazu getroffen, dass französische Militärs in Rwanda noch kurz dem Ende des dreimonatigen Völkermords an der Seite der offiziellen Armee des Landes kämpften, um den Vormarsch der RPF auf Kigali aufzuhalten. Jenen Vormarsch, der faktisch dem Genozid ein Ende bereitet.

Bislang fiel es Frankreich schwer, irgendeine Schuld oder Verantwortung in Bezug auf den rwandischen Völkermord einzugestehen. Und dies umso mehr, als damals in Paris beide großen politischen Lager zusammenwirkten: 1994 herrschte eine „Kohabitation“, einem angeblich „sozialistischen“ Präsidenten Mitterrand stand ein konservativ-liberales Regierungskabinett unter Edouard Balladur gegenüber. Noch bis vor kurzem hielt das offizielle Frankreich deswegen eisern an der These vom angeblichen „doppelten Völkermord“ (double génocide) fest: Die RPF habe genauso wahllos Hutu massakriert, wie die Milizen des „Hutu Power“-Regimes – das 1994 in Kigali an der Macht war und durch Paris unterstützt wurde – Tutsi mordeten. (Vgl. http://fr.wikipedia.org) Diese Behauptung dient in Wirklichkeit nur dazu, den sehr realen Unterschied zwischen einer Krieg führenden Armee wie der RPF - die sich ohne Zweifel einige Verbrechen zukommen ließ - einerseits und dem Plan zur Vernichtung einer gesamten Bevölkerungsgruppe andererseits zu verwischen. Ansonsten lässt sich nämlich die damalige französische Position nur verurteilen.

In Richtung dieser Verwischung dieses bedeutenden Unterschieds ging 2006 das Ermittlungsverfahren, das der damalige französische Anti-Terror-Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière gegen den früheren RPF-Chef und jetzigen rwandischen Staatspräsidenten Kagame einleiten ließ. (Vgl. http://www.lexpress.fr  oder http://jungle-world.com)Als militärischer Chef der Rebellen, so Bruguière, habe Kagame im April 1994 die Verantwortung für den Abschuss der Maschine des damaligen Präsidenten Juvenal Habyarimana getragen – der möglicherweise durch die RPF getötet wurde, aber genauso gut auch einem Putsch durch die extremistischen Kräfte innerhalb seines Regimes zum Opfer gefallen sein kann. Jedenfalls ergriff im Anschluss an den Tod Habyarimanas, und während dessen Regime bereits tief in der Krise steckte, der brutalste Flügel der „Hutu Power“-Bewegung allein die Macht und startete den Völkermord. Dieser war freilich weder eine spontane Reaktion auf das Attentat noch auf den Vormarsch der RPF, sondern war seit Jahren geplant und propagandistisch vorbereitet worden. Eine große Anzahl an Macheten, mit denen die Mehrzahl der Opfer abgeschlachtet wurde, war 1993 in China bestellt worden – und nicht für landwirtschaftliche Zwecke. Untersuchungsrichter Bruguière behauptete jedoch im Namen der französischen Justiz, dadurch, dass er das Präsidentenattentat – möglicherweise – veranlasst habe, sei Kagame zum Auslöser des Völkermords an den Tutsi geworden. Also an seiner eigenen Bevölkerungsgruppe.

Der Aufschrei in Kigali war umso stärker, als die französische Justiz bis dahin sämtliche Auslieferungsanträge für Planer und Anleiter des Genozids in Rwanda, die auf dem Boden Frankreichs leben, pausenlos verschleppt hatte. Unmittelbar nach Bekanntwerden von Bruguières Anklageschrift gegen Kagamé brach Rwanda denn auch sämtliche diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ab und richtete eine Untersuchungskommission über die französische Rolle beim Völkermord von 1994 ein. Deren Untersuchungsbericht sollte Anfang Juli 2008 erscheinen, so war es vor wenigen Wochen angekündigt worden, steht aber bislang noch aus.

Bruguière steht Nicolas Sarkozy nahe und kandidierte im Juni 2007 für seine Partei, die UMP, in Südwestfrankreich zu den Parlamentswahlen. Allerdings erfolglos, und kurz darauf musste er aufgrund seines politischen Engagements auch noch vom Richteramt zurücktreten. Und doch hat Sarkozy erkannt, dass er die bisherige französische Politik des Wegschauens und Ignorierens, was die von rwandischer Seite – aber auch etwa von französischen Solidaritätsinitiativen wie der Association Survie (vgl. http://survie-france.org/ ) – wiederholt vorgetragenen Vorwürfe zur Rolle des eigenen Staates in Rwanda 1994 betrifft, nicht einfach weiter betreiben konnte. Es musste eine Lösung gefunden werden, um diesen „Brandherd“ zu löschen und das Hindernis für die internationalen Beziehungen Frankreichs aus dem Weg zu räumen. Nur konnte dies nicht ohne dezidierte Kritik an seinen politischen Vorgängern geschehen. Ein Problem für Nicolas Sarkozy, der im Wahlkampf immer wieder gegen einen imaginären Hang zu nationalem „Masochismus“ und „Büßertum“ zu Felde gezogen war.

Nun scheint es, als sei das ernsthafte Problem zumindest entschärft worden. Sarkozy ernannte im Vorjahr den früheren Aktivisten einer im humanitären Bereich tätigen NGO und überzeugten Anhänger weltweiter Intervention „zur Durchsetzung von Menschenrechten“, Bernard Kouchner, zum französischen Außenminister. Dessen Vorstellungen zur Gestaltung der internationalen Politik, die oft westlichen Mächten einen Freibrief für Interventionen ausstellen, sind zwar oftmals umstritten. Doch aufgrund seiner persönlichen Vergangenheit genießt Kouchner, der 1994 im Auftrag international tätiger Ärzteorganisationen oft direkt mit Paul Kagame über die Einrichtung „humanitärer Korridore“ zwischen den Kriegsparteien verhandelt hat, in Rwanda durchaus ein positives Ansehen. Obwohl theoretisch alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen, zumindest eingefroren sind, besuchte er im Januar dieses Jahres als Außenminister Kigali – für einige Stunden. (Vgl. http://www.rue89.com  und http://www.la-croix.com )

Und während bislang die französische Politik stets den 7. April, Jahrestags des Beginns des rwandischen Völkermords, geflissentlich ignoriert hatte, sprach in diesem Jahr Kouchners Staatssekretärin für Menschenrechtspolitik – die senegalesischstämmige Französin Rama Yade – als erste Regierungspolitik überhaupt auf einer Gedenkveranstaltung von Rwandern in Paris. Ursprünglich sollte Madame Yade sogar nach Kigali fahren und dort an den Gedenkfeiern zum 14. Jahrestag des Genozidbeginns teilnehmen, hatte dann jedoch von diesem Vorhaben Abstand genommen. In ihrer Pariser Rede sprach sie, wie vor ihr auch Kouchner, ausdrücklich von schwerwiegenden „Fehlern“ sowohl der „internationalen Gemeinschaft“ und „darunter Frankreichs“ im Frühjahr 1994. (Vgl. http://communauterwandaisedefrance.wordpress.com/) „Fehler“ können also inzwischen auch aus dem Munde französischer Regierungsmitglieder eingeräumt werden, wenngleich sie nicht von „Verbrechen“ sprechen, die durch Franzosen begangen wurden.

Auslieferung von rwandischen Massenmördern aus Frankreich, Deutschland...

Auch in den Justizapparat ist nun Bewegung gekommen. Jahrelang hatten die Auslieferungsverfahren, die entweder durch den rwandischen Staat oder aber durch den Internationalen Sondergerichtshof zu den in Rwanda begangenen Verbrechen – der im tanzanischen Arusha ansässig ist – beantragt worden waren, festgesteckt. Die französische Justiz schien einfach nicht voranzukommen. Mal wurden Haftbefehle nicht ausgestellt oder nicht vollstreckt. Mal wurden Verdächtige, denen vorgeworfen wurde, Vordenker oder Hauptpersonen des Genozids zu sein, wieder freigelassen, da Rwanda keine hinreichenden Garantien für ein rechtsstaatliches Verfahren abgebe.

Nun aber gerät alles in Fluss. Zum ersten Mal überstellte Frankreich am 5. Juni dieses Jahres einen Genozidverdächtigen an den internationalen Gerichtshof in Arusha. Dominique Ntawukuriryayo (66), der als Unterpräfekt von Gisagara die Verantwortung für das Massaker an 25.000 geflohenen Tutsi auf einem Hügel getragen haben soll, aber seine Schuld bestreitet, lebte seit 1999 in Frankreich. Er war im Oktober 2007 in Carcassonne verhaftet worden, ein Gericht genehmigte seine Auslieferung nach Arusha. Der oberste französische Gerichtshof wies am 7. Mai seinen Widerspruch gegen das Auslieferungsbegehren ab. (Vgl. http://josemorineaux.afrikblog.com und http://www.parismatch.com/ )

Zwei andere Angeklagte, der Priester Wenceslas Munyeshyaka und der frühere Präfekt, Laurent Bucyibaruta waren zuvor mehrfach inhaftiert und wieder freigelassen worden. Sie sitzen nun aber definitiv im Pariser Santé-Gefängnis ein und warten auf ihren Prozess, der ihn nun durch die französische Justiz selbst gemacht werden soll – dies hatte der Internationale Gerichtshof in Arusha im November 2007 autorisiert. (Vgl. http://www.lemonde.fr/cgi-bin/ ) Zu den Gründen gehört, neben dem langwierigen Hin und Her um ihre Inhaftierung und Auslieferung, auch das bis spätestens nächstes Jahr bevorstehende Auslaufen des Mandats der internationalen Richter. Bis Ende dieses Jahres sollen daher alle in Arusha noch ausstehenden Prozesse gegen Genozidbeteiligte abgearbeitet sein.

Hingegen annullierte derselbe Oberste Gerichtshof am Mittwoch, 9. Jul die Auslieferungsgenehmigung für Claver Kamana, den die rwandischen Behörden als einen der 96 Hauptplaner des Genozids suchen. Zuvor hatten die Richter in Chambéry angeordnet, ihn direkt an die rwandischen Behörden zu überstellen. Über die Auslieferung des 72jährigen muss nun das Berufungsgericht von Lyon neu entscheiden. Ende Mai dieses Jahres hatte ein Berufungsgericht in Toulouse entschieden, den 53jährigen früheren Militär Marcel Bivugabagabo nicht sofort nach Rwanda auszuliefern, sondern die Entscheidung darüber auf kommenden September zu vertagen. Zuvor sollen die rwandischen Behörden neue Beweise über die Identität und die Schuld des Angeklagten sowie über die Strafen, die ihm im Falle einer Auslieferung drohen, vorlegen. Dieser Beschluss war durch die rwandische Justiz scharf kritisiert worden: Der Sprecher der Staatsanwaltschaft beim Obersten Gerichtshof, Jean Bosco Mutangana, hielt dazu eigens eine Pressekonferenz in Kigali ab. Rwanda habe alle erforderlichen Dokumente vorgelegt, betonte er. (Vgl. http://www.apanews.net/)

Unterdessen läuft aber auch das Verfahren, das Bruguière 2006 angestrengt hatte, weiter vor sich hin. Und Jean-Louis Bruguière hat einen Nachahmer gefunden, in Gestalt des spanischen Untersuchungsrichters Fernando Abreu Merelles. Er hat am 6. Februrar dieses Jahres ein internationales Anklageverfahren gegen 40 hochrangige rwandische Persönlichkeiten angestrengt, unter ihnen 11 Generäle. Ausnahmslos alle entstammen den Reihen der RPF und werden von ihm des „Völkermords“, der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und des „Terrorismus“ bezichtigt. Die Anklage des Völkermords gegen RPF-Angehörige ist dabei, von Spanien aus betrachtet, ebenso absurd wie im französische – Tatsache bleibt, dass es sich um eine Verdrehung der Geschehnisse in Rwanda 1994 handelt. Nur: Was sich in Frankreich eindeutig aus der so genannten Staatsräson ableiten ließ - nämlich dem Wunsch, der eigenen Nation wieder eine blütenweiße Weste zu verschaffen und den groben Flecken des Vorwurfs einer Genozidbeteiligung zu beseitigen oder überdecken – gehorcht in Spanien keinem objektiven Interesse. Mutmaßlich glaubt der spanische Richter wirklich, einen dicken Skandal an der heutigen Spitze des rwandischen Staates aufzudecken. Möglicherweise, weil er zuvor seinem früheren französischen Amtskollegen Bruguière zu viel Glauben schenkte.

Anfang Mai musste die neue rwandische Außenminister Rosemary Museminali einen geplanten Besuch in Brüssel stornieren: Ein hochrangiges Mitglied ihrer Delegation, der Chef des rwandischen Auslandsnachrichtdienstes, hatte kein Visum erhalten – weil gegen ihn ein im ganzen Schengen-Raum gültiger Haftbefehl des spanischen Richters vorliege. (Vgl. http://www.levif.be/belga/generale ) Die Ministerin zog es vor, den gesamten Besuch abzusagen, da es nicht an den Belgiern liege, „die Zusammensetzung der rwandischen Delegation zu diktieren“. (Vgl. http://perewenceslas.centerblog.net/ und http://www.afriquenligne.fr )

Dieses Erlebnis sorgte für Furor bei der Regierung in Kigali. Präsident Kagame stieg deswegen beim Gipfeltreffen der Afrikanischen Union, Ende Juni im ägyptischen Scharm el-Scheikh, aufs Podium und wetterte gegen die „moralische Scheinheiligkeit“ europäischer Richter, die gegen afrikanische Führungspersönlichkeiten ermittelten. Während es hingegen unvorstellbar sei, dass eine afrikanische Justiz einen ähnlichen Haftbefehl gegen einen europäischen Staatschef ausstelle – und dieser auch vollstreckt werden. Paul Kagame forderte alle Länder der Afrikanischen Union auf, solche Ermittlungsverfahren und internationalen Haftbefehle auf ihrem Boden für ungültig zu erklären. Ähnlich äußerte er sich bei einer Pressekonferenz in Kigali. (Vgl. http://www.afriquenligne.fr/ ) Zugleich kündigte er Ende Juni an, falls die französische und die spanische Justiz so fortführen, werde Rwanda sich ein Vergnügen bereiten, seinerseits Prozesse gegen in den Völkermord von verstrickte französische Militärs zu eröffnen. Man verfüge über 500 Namen, die man auf den Tisch legen könne. (Vgl. http://www.cyberpresse.ca/article  ) Denn ähnlich wie etwa Spanien, Belgien oder Frankreich reklamiert auch Rwanda die „universelle Kompetenz“ seiner Justiz bei Anklagen, die Völkermord- und ähnliche Taten betreffen, für sich (vgl. http://www.gaboneco.comund http://www.afriquecentrale.info  ).


Ärger zwischen Arusha und Kigali: Sex und Luxus im Gefängnis für Völkermordplaner?


Kompliziert wird dieses Spiel mit mehreren Parteien dadurch, dass auch der Internationale Gerichtshof in Arusha sich jetzt mit der rwandischen Justiz angelegt hat. Ende Mai verweigerte das Tribunal in Arusha, das einen Teil seiner Strafgefangenen in anderen Ländern – wie etwa dem westafrikanischen Mali, Bénin oder in Swaziland – einsitzen lässt und Vorbereitungen auf seine absehbare Schließung trifft, die Überstellung von Angeklagten an die rwandische Justiz: Diese biete keine rechtsstaatlichen Garantien. (Vgl. http://www.lemonde.fr und http://www.french.xinhuanet.com/  )

Im Hintergrund stehen mehrere Streitpunkte. Einerseits wirft Rwanda dem Tribunal im tanzanischen Arusha vor, für die dort verurteilten Völkermordbeteiligten ein „Luxusgefängnis“ zu unterhalten. Tatsächlich versucht der Gerichtshof nicht nur, für seine Gefangenen internationale Normen einzuhalten – was ihnen bereits auf dem afrikanischen Kontinent als außerordentlich geltende Rechte böte- , sondern legt diese auch noch ausgesprochen großzügig aus. So haben die in Arusha einsitzenden Täter, Planer und „Vordenker“ des Genozids nicht nur Zugang zu Radio, Fernsehen und einer Bibliothek – allerdings nicht zum Internet. Sie haben auch ein Anrecht auf zwei Stunden „intimen Besuchs“ ihrer Ehegatten oder –gattinnen, und zu sexuellen Beziehungen im Gefängnis – pro Tag. (Vgl. http://www.apanews.net/ ) Dies dürfte auch in europäischen Haftanstalten keineswegs die Norm darstellen. In Rwanda, wo die Haftanstalten überfüllt sind – das Land mit 8 Millionen Einwohnern hat 59.500 Strafgefangene (vgl. http://www.africatime.com ), das sind exakt so viele wie in Frankreich, und die Prozesse gegen Ausführende des Genozids sind nur eine Ursache dafür – gilt dies als skandalöser Luxus, für Genozidtäter. In jedem Falle dürfte ein krasses Missverhältnis zwischen der Behandlung von sonstigen Häftlingen überall in der Region – die zum Teil durchaus kritikwürdig sein mag – einerseits, und der Behandlung dieser speziellen Kategorie von Tätern (die immerhin in Vorbereitung und Durchführung eines Völkermords verwickelt waren) auf der anderen Seite bestehen.

Umgekehrt behauptet man in Arusha, in Rwanda gäbe es keine Garantien für eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Zeugen würden nicht angehört oder aber bedroht. Und die Behandlung der Gefangenen entspreche nicht den erforderlichen Normen. Dies hat zum Teil materielle Ursachen: Da wäre nicht nur die Überbelegung der Gefängnisse, sondern auch der Versuch, durch eine wiederbelebte Dorfgerichtsbarkeit in Gestalt der „Gacaca“ den Genozid aufzuarbeiten. Diese Dorftribunal, deren Verhandlungen öffentlich stattfinden, sollen vor allem über die „kleinen Rädchen“ im Getriebe des Genozids urteilen und dabei eine Art kathartischen Prozess innerhalb der rwandischen Gesellschaft auslösen. In den letzten Jahren fanden über eine Million Prozesse vor diesen „Gacaca“ statt, und Urteile wurden gegen rund 9.000 Personen gefällt. (Vgl. http://www.afrik.com/article14623.html  ) Dass diese Prozesse – und gegebenenfalls die Haftbedingungen - nicht immer so hohen Standards entsprechen können wie die vor einem internationalen Sondergericht, das einige „Ausnahmetäter“ verurteilt, liegt auf der Hand.

Hingegen hat Rwanda extra die Todesstrafe abgeschafft, um in Arusha, aber auch bei den nationalen Justizsystemen in anderen Ländern – wie Frankreich – Auslieferungen von Genozidverdächtigen und ihre Überstellung an seine Justiz beantragen zu können. Am Montag vergangener Woche hat übrigens auch die deutsche Justiz erstmals einen Genozidverdächtigen gefasst, um ihn mutmaßlich an die rwandische Justiz zu überstellen: Am 7. Juli wurde Callixte Mbarushimana aufgrund eines internationalen Haftbefehls am Internationalen Flughafen von Frankfurt/Main gefasst, von wo er aus nach Sankt Petersburg weiterfliegen wollte. (Vgl. http://www.newspress.fr/  und http://www.romandie.com/) Der frühere Mitarbeiter eines UN-Programms in Kigali wird beschuldigt, 1994 an der Ermordung von Hunderten seiner Kollegen, die Tutsi waren, teilgenommen zu haben. Seine Überstellung könnte bis zu zwei Monaten dauern, da Deutschland kein spezielles Auslieferungsabkommen mit Rwanda unterhält, gilt aber als wahrscheinlich.

Ein letztes Motiv für den Konflikt zwischen Arusha und Kigali liegt darin, dass die rwandische Justiz in Einzelfällen durch die rwandische Regierung auch aus politischen Gründen instrumentalisiert wird. Das Regime von Paul Kagame ist zwar demokratisch gewählt, aber das Rückgrat der Regierung wird dennoch durch eine militärische Organisation – die in eine reguläre Armee umgewandelte, frühere Rebellentruppe RPF – gebildet. Deren Angehörige sind nicht nur an für Militärs übliche ruppige Umgangsformen, an Befehl und Gehorsam gewöhnt. Sie waren auch – nach der Eroberung von Kigali 1994, die durchaus ein historisches Verdienst darstelle, da sie dem Genozid ein Ende bereitete – später an überaus „schmutzigen Kriegen“ beteiligt. Denn nach dem Sturz des alten Regimes in Rwanda und der Flucht der Hutu-Milizen in den Osten Kongos setzte die heutige rwandische Armee ihnen nach. Und dies nicht nur, um den ehemaligen Völkermördern das Handwerk zu legen, sondern sehr wohl auch mit dem lange gehegten Ziel, die reichhaltigen Rohstoffvorkommen im Ostkongo zu kontrollieren und sich an ihnen zu bedienen, zu bereichern. Bei der Plünderung dieser Rohstoffe und den zahlreichen lokalen Konflikte im östlichen Kongo kam es zu zahlreichen Gräueltaten, an denen Angehörige der RPF und/oder des rwandischen Militärs beteiligt waren. Manche der Stützen des Regimes und seiner Armee sind daher durchaus „verroht“, oder aber haben Einiges zu verbergen. Unter dem Vorwurf, „genozidäre Ideologie“ zu verbreiten – das ist in Rwanda ein Straftatbestand, grundsätzlich aus gut nachvollziehbaren Gründen, denkt man an die Hasspropaganda gegen Tutsi von vor 1994 und ihre Auswirkungen – wurden deswegen manches Mal auch kritische Journalisten abgeurteilt: Der Vorwand ist mitunter herbeigezaubert, aber der Anklagepunkt gravierend.. (Vgl. http://www.cpj.orgund http://www.rsf.org/  )

Das RPF-geführte Rwanda geht erstmals gegen „eigene“ Kriegsverbrecher vor

Um sich gegen Vorwürfe, die rwandische Justiz sei parteiisch und schütze zudem RPF-Militärs gegen gerechtfertigte Vorwürfe, entgegen zu steuern, hat Kigali nun reagiert. Anfang Juni 2008 hatte der Staatsanwalt beim Internationalen Gerichtshof in Arusha, Hassan Bubacar Jallow, erstmals Anklage gegen ehemalige Soldaten und Offiziere der RPF erhoben: Diese hätten im Juni 1994, während des Krieges und des Vormarschs auf Kigali, 13 unschuldige Kirchenleute – unter ihnen drei Bischöfe – sowie zwei weitere Zivilisten massakriert, erklärte Jallow in einer Rede am 4. Juni. (Vgl. http://www.afriquenligne.fr/ ) Die Militärs hatten tote Tutsi aufgefunden, die sich in einem Kloster versteckt hatten, und daraufhin die dortigen Kirchenleute umgebracht, die vermutlich keine Verantwortung an den Vorfällen trugen. Die rwandische Justiz kündigte daraufhin an, die Verantwortung für diese Vorfälle untersuchen und die Schuldigen bestrafen zu wollen. (Vgl. http://www.rfi.fr/actufr/articles/102/article_67316.asp  )

Daraufhin wurden am 11. Juni dieses Jahres vier hochrangige RPF-Offiziere, unter ihnen der General Wilson Gumisiriza, durch die rwandischen Behörden verhaftet. Ihnen wird nun ein Kriegsverbrecherprozess vorbereitet. (Vgl. http://www.lejdd.fr und http://www.afriquenligne.fr/ ) Erstmals stünden mit ihnen Angehörige und gar höhere Offiziere der RPF-Armee, die bislang ausnahmslos als nationale Helden dargestellt wurden, vor Gericht. Zwei von ihnen haben inzwischen ein Geständnis abgelegt und bekennen sich schuldig, die anderen beiden leugnen. (Vgl. http://afp.google.com/article  )

Unterdessen stellt Rwanda eine weitere, aus Sicht seiner Regierenden wichtige Forderung auf: Nach dem Auslaufen des Mandats der Richter in Arusha, so der Generalstaatsanwalt am Obersten Gerichtshof Ende Juni, solle der Sitz des Internationalen Gerichtshofs nach Rwanda selbst verlagert werden. Um dort auch nach dem vorgesehen Ende des Tribunals in Arusha, Ende 2008 oder Anfang 2009, mit internationalem Madant über Genozidverdächtige urteilen zu können. (Vgl. http://gaboneco.com/ )Ob Rwanda dafür einen Konsens herstellen kann, erscheint allerdings fraglich.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.