Philosophie des Fouls
Kleiner Nachschuss zur abgelaufenen Fußball-EM

Von Franz Schandl

7/8-08

trend
onlinezeitung

„Fair is foul and foul is fair“ (Shakespeare, Macbeth) 

Vielleicht habe ich ja auch irgendetwas überlesen, aber tatsächlich kommt es mir so vor, als würde sich trotz der Allgegenwart des Fußballs so ziemlich niemand Gedanken über den spezifischen Charakter des Fouls machen. Ein unvoreingenommener Beobachter müsste, zwänge man ihn das Spiel zu interpretieren, zuallererst feststellen, dass da Männer ohne Ball Männer mit Ball regelmäßig zu Fall bringen. Alles andere, Tore, Eckbälle, Freistöße, Outs, Dribblings würden ihm als nachrangig erscheinen. Wir hingegen, die routinierten Zuschauer, haben gar kein Gespür mehr für das Foul, eben weil es als obligates Mittel zum Zweck erscheint. 

Das Foul schafft eine neue Lage, die ohne es so nicht gewesen wäre. Fouls passieren nicht, sondern werden begangen, die Tätlichkeit ist Absicht. Das Foul ist die vorsätzliche Nichtung eines tatsächlichen oder eines möglichen Spielzugs. Das Foul ist also ein destruktiver Akt, es will kaputt-machen. Aus Rivalität wird Brutalität. Ziel des Fouls ist die Zerstörung des Laufs, es führt nicht nur zur Unterbrechung des Spiels, es ist jeweils ein elementarer Bruch des Spielflusses.  

Nicht erst die Zeitlupe offenbart Grausamkeiten am Feld, diese zeigt aber in ihrer Verzögerung überdeutlich an, dass man gelegentlich nicht nur einen Kontrahenten stoppen will, sondern ihm richtig wehtun möchte. Man steigt ihm auf den Fuß, tritt gegen die Waden, versetzt ihm mit dem Ellbogen einen Schlag ins Gesicht u.v.m. In dieser Auseinandersetzung ist der Ballbesitzer fast immer im Nachteil gegenüber dem Nicht-Ballbesitzer. Konzentriert sich ersterer auf das runde Leder, so letzterer auf den Körper eines Feindes. Ihm gilt die Beeinträchtigung. Verletzungen im Fußball rühren fast ausschließlich aus einer bewussten Zufügung, sie sind nicht wie beim Autorennfahren oder beim Schifahren subjektives Risiko (worüber sich freilich auch einiges sagen ließe). 

Das Foul ist eherner Bestandteil der Konkurrenz, gehört zum unentbehrlichen Kalkül, wird allseits in Kauf genommen. Wie in der Wirtschaft geht es um Verwertung, eigene Chancen müssen verwertet und die Chancen der Gegner müssen verhindert oder vermindert werden. Das Ergebnis misst sich in verwandelten Möglichkeiten. Wie diese Möglichkeiten verwandelt werden, ist ziemlich egal. Effizient muss es sein. So liegt der bittere Ernst des Marktes in Gestalt nationaler Konkurrenz über Spielfeld und Fanzonen. Wie in der Ökonomie herrscht das Berechnende. Die Konkurrenz ist an den Produkten nur hinsichtlich der gefallenen Tore interessiert und nicht eines gefallenden Matches. Kommerz dominiert in weiten Bereichen. Wie könnte es auch anders sein. Die EURO dient primär nationaler Formierung und Selbstvergewisserung. Das Match im Auftrag der Nation degradiert Fußballkunst. Stets wird das Spiel auf den Boden jener Realität zurückgeholt, soll ja nicht selbsttätige oder gar selbstverliebte Sinnlichkeit werden.  

Erotik und Neurotik 

Die Erotik des Spiels verunglückt allzu oft an der Neurotik des Fouls. Das aktuelle Soccer lässt die Körperverletzung als Kollateralschaden durchgehen. Fein ist das nicht und gesund schon gar nicht. Aber zweifellos ist es sehr lebensnah. Und doch ist diese Grobheit keine archaische Größe, kein natürlicher Tatbestand, sondern nur vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund entzifferbar. Der gesellschaftliche Trieb der Konkurrenz besagt, dass in ihr alles erlaubt und möglich ist, wenn es irgendwie zum Ziel führt. „Hau ihm nieder!“, schreit der falsche Dativ der Fans, und der schreit oft. Die Gliedmaßen der Spieler sind das, was sie hinhalten, auch wenn ganze Mannschaften gelegentlich Lazaretten gleichen. So folgt das Spiel der scheinbar unvermeidlichen Logik von Opfer und Täter, von Treten und Getreten-Werden. 

Die De-facto-Hinnahme von Fouls sollte entschieden problematisiert werden. Wie kommen die Ronaldo und Ronaldinho dazu, niedergeschlagen zu werden und gegebenenfalls, schließlich werden sie darauf trainiert, zurückzuschlagen? Oder ganz allgemein: Wie kommt ein Gegenspieler etwa dazu, ein edles Dribbling durch einen Übergriff kaputt zu machen? Diese Selbstverständlichkeit ist nicht so selbstverständlich, sondern demonstriert, wie eines der ansprechendsten Spiele, die je erfunden wurden, im Reißwolf des Marktes seine Begrenzungen findet. Das Foul im Fußball gleicht der rücksichtslosen Durchsetzung der Konkurrenten am Markt – koste es, was es wolle! Wie viele geniale Einfälle und begnadete Spielzüge sind so durch diverse körperliche Attacken zerstört worden! Und wie viele Spieler mussten verletzungsbedingt aufgrund solcher Tritte und Schläge pausieren oder gar ihre Laufbahn vorzeitig beenden! Vor allem die Koryphäen sind großen Gefährdungen ausgesetzt. 

Ein neuer Kodex sollte auf folgender Grundlage basieren: Fouls sind zu ächten und Gegenspieler sind zu achten. Sie sind kein Material, das im Interesse eines Ergebnisses zu verletzen ist. Niedermähen ist nicht! Wie foule ich richtig?, Wie simuliere ich ein Foul an mir?, Wie verstecke ich mein Foul? – das sind doch alles Unfragen. Körperliche Untergriffe sind nicht einfach zu tolerieren, sie sind als Störfälle zu betrachten. Ein befreites Spiel müsste gewährleisten, dass der Nachteil des Fouls größer ist als sein Vorteil. Heute ist das Umgekehrte der Fall. Das Foul ist eines Spielers unwürdig und es ist dem Spiel in jeder Hinsicht abträglich. Doch das ist wohl Zukunftsmusik bei all dem Lob für die gesunde Härte, die Gewalt und Einsatz verwechselt.  

Taktik und Ästhetik 

Und das ist nicht alles, was sich sagen ließe. Auch Spiele, wo die Verlierer einen besseren Eindruck als die Sieger hinterlassen, haben einen üblen Beigeschmack. Es zählt einzig das Resultat und nicht die Art und Weise, wie es zustande kommt. Der Verlauf erlischt im Ergebnis. Die Herausforderung, vor der Mannschaft wie Einzelspieler stehen, ist nicht, beherzt zu zeigen, was sie können, sondern unbedingt zu siegen. So geht Taktik vor Ästhetik, und die Attraktivität verunglückt aufgrund des Ziels. Effizienz ist allerdings eine sekundäre Tugend, und zweitklassig sehen solche Mannschaften auch aus, selbst wenn sie siegreich sind. Was am Fußball entzückt, das sind doch Eleganz und Originalität der Ballbeherrschung. Nicht geschundene und getretene Körperlichkeit von robusten Recken, sondern das Gefühl und Gespür für Ball und Raum, für Pass und Mitspieler. Fußball soll nicht sein Angst und Foul, auch nicht Überwachen und Strafen, sondern Laufen und Laufen-Lassen. 

Die Frage Spiel oder Sieg? ist noch konsequenter zu stellen. Es wäre nachzudenken, ob nicht das Reglement zu ändern ist, sodass Tore zwar einen wichtigen Stellenwert behalten, aber nicht ausschließliches Kriterium des Erfolgs sind. Das quantitative Verhältnis der Einschüsse ist ein unseliges Dogma, primitive Arithmetik für ein komplexes Geschehen. Jenes richtet zunehmend die Spiele zugrunde, weil einerseits die Erhöhung des Tempos den Verletzungsgrad der Attacken steigert und andererseits das Sich-hinten-Reinstellen sich in vielen Fällen auszahlt. Befreiung des Fußballs hieße, dass eben der Zweck des Spiels im Spiel liegt und nicht bloß dem Resultat dient, dass das Spiel wirklich Spiel wird, Sympathie statt Zugehörigkeit, Augenschmaus statt Anhängerschaft entscheidend sind. Mehr als der Sieg sollte der Lustgewinn von Spielern und Zuschauern ins Zentrum rücken. 

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Franz Schandl, verfasste für den Freitag (Berlin) eine wöchentliche Kolumne zur Fussball-EM, er ist Redakteur der Zeitschrift Streifzüge ( www.streifzuege.org )

Im Juli erscheint eine neue Ausgabe der Streifzüge.

STREIFZÜGE