SOZIALE REVOLTEN IM MAGHREB
Tote bei Unruhen im tunesischen Phosphat-Revier von Gafsa und im marokkanischen Fischereihafen Sidi Ifni

von Bernard Schmid

7/8-08

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Beinahe zeitgleich kam es am ersten Juni-Wochenende in „peripheren“ Gebieten Tunesiens und Marokkos zu heftigen sozialen Unruhen. In beiden Fällen gab es (mutmablich) Tote. Und in beiden Fällen steht die Arbeitslosigkeit, darunter jene von Hochschulabgängern – der inzwischen  in diesen Ländern zum eigenen Begriff gewordenen ‚chômeurs diplômés’ (Erwerblosen mit Universitätsabschluss) -, und die Perspektivlosigkeit von weiten Teilen der Jugend im Hintergrund.

Heftige Revolte und heftige Repression im „Revier“ von Gafsa

Im „Phosphatbecken“ von Gafsa im Südwesten Tunesiens, rund 300 Kilometer von der Hauptstadt Tunis entfernt, circa 120.000 Einwohner/innen, fanden schon seit Anfang Januar dieses Jahres heftige soziale Auseinandersetzungen statt. Diese Region galt schon immer als „aufsässig“: Im „Becken von Gafsa“ sind die wichtigsten Figuren der tunesischen Gewerkschaftsbewegung geboren und aufgewachsen, und von hier gingen aufständische Bewegungen wie die „Brotrevolten“ im Jahr 1984 (die um dieselbe Zeit auch Marokko erschütterten) aus.

Heute kommt der Reichtum der - durch die Zentralgewalt extrem vernachlässigten – Region, in Gestalt der Phosphatvorkommen, der örtlichen Bevölkerung so gut wie nicht zugute. (Das in Paris angesiedelte „Unterstützerkomitee für die Einwohner der Bergbauregion von Gafsa“ schreibt dazu in einem Flugblatt vom 1. Mai 2008: „Paradoxerweise kommt dieser Reichtum der örtlichen Bevölkerung, die im Elend lebt, nicht zu nutze.“ Nun kann man dies in der real existierenden kapitalistischen Welt auch gar nicht „paradox“ finden, sondern der Auffassung sein, dass es eine herrschende Logik sehr originalgetreu widerspiegelt...)

Die Arbeitslosigkeit beträgt regional, laut offiziellen Angaben, 30 Prozent. Das ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Das angebliche tunesische „Wirtschaftswunder“, das vor dem Hintergrund des Freihandels mit der Europäischen Union – seit dem Januar 2008 ist ein Abkommen zum freien Warenverkehr bei Industriegütern in Kraft – überwiegend an der Ansiedlung bestimmter ausgelagerter Produktions- und Dienstleistungszweige hängt, kommt hier nicht an. Um von diesem angeblichen „Wirtschaftswunder“ ein Minimum zu profitieren, muss man in einer der Küstenstädte leben und entweder im Tourismusgewerbe oder in einer der an den Export in Richtung angebundenen Wirtschaftsbranchen (Call Centers, Automobilzulieferer) arbeiten. Oft freilich zu infamen Löhnen. Dass es in Tunesien dennoch kaum sichtbares – oder jedenfalls nicht für die Dummtouristen sichtbares – Elend gibt, v.a. im Vergleich mit Ländern der Region wie besonders Marokko, hängt damit zusammen, dass die Tuneser/innen auf Kredit leben und Autos oder Wohnungen auf Pump kaufen können. Im Gegenzug sind immer mehr unter ihnen auf lange Zeit hin abhängig und überschuldet. Die Staatsmacht behauptet, „80 Prozent“ der Tunesier/innen gehörten „zur Mittelschicht“, und versuchen jegliche soziale Konflikte in einem vermeintlich widerspruchsfreien – und von harter politischer Repression gegen Menschenrechtler/innen und Journalisten, zur Abschreckung für „die Masse“, begleiteten – autoritär-repressiven und „ideologiefreien“ „Wohlstands“klima zu ersticken.

Nun fühlen sich die Einwohner/innen der (Phosphat-)Bergbauregion von diesem sehr relativen „Reichtum“ abgehängt. Zumal die Automatisierung und Mechanisierung der Bergwerke dafür gesorgt hat, dass immer weniger Arbeitsplätze dort angeboten werden: Statt früher 14.000 Personen (zu Anfang der achtziger Jahre) arbeiten dort heute nur noch 5.000.

Doch Anfang Januar dieses Jahres wurden erstmals nach langen Jahren wieder 81 Stellen im Phosphatbergbau ausgeschrieben, um alters- und rentenbedingte Abgänge von Arbeitskräften zu ersetzen. Über 1.000 Kandidaten bewarben sich auf die Arbeitsplätze. Doch als am 5. Januar 2008 die Liste der „Gewinner“ ausgeschrieben wurde, kam es zur sozialen Explosion, und die lang angestaute Wut und Frustration entluden sich. Noch am selben Tag kam es in den drei wichtigsten Städten des Bergbaureviers, in Redeyef, Oum Laârayes und M’Dhilla (in 20, 30 und 70 Kilometern Entfernung von der Regionalhauptstadt Gafsa), zu heftigen Protesten. Jeweils mehrere hundert Arbeitslose, die durch die örtliche Bevölkerung unterstützt wurden, griffen zu unterschiedlichen Protestformen: Demonstrationen und Kundgebungen, Besetzung von Räumlichkeiten des einzigen nennenswerten Arbeitgebers der Region – der in öffentlicher Hand befindlichen Bergbaufirma Compagnie des phosphates de Gafsa (CPG) -, Hungerstreiks von ‚arbeitslosen Universitätsabsolventen’ usw. Nach Angaben des kämpferischen Gewerkschafters Hajji Adnane, des Sprechers der Protestierenden in der Stadt Redeyef (zitiert n. ‚Le Monde’ vom 25. April, wo anlässlich des dreitägigen Staatsbesuchs von Präsident Nicolas Sarkozy in Tunesien von Ende April eine Hintergrundseite zur tunesischen Ökonomie erschien),  hatten die Protestler „eine Bestätigung für die zuvor ohnehin zirkulierenden Gerüchte erhalten: Die Neueinstellungen wurden durch Korruption und Vetternwirtschaft zugeteilt.“

Auf regionaler wie auf nationaler Ebene verurteilte der tunesische Gewerkschaftsverband, die UGTT (Union générale des travailleurs tunisiens), die Protestversammlungen und Unruhen. Das ist auch kein Wunder: In Redeyef beispielsweise ist der gewerkschaftliche Hauptamtliche und Vertrauensmann (délégué syndical) personalidentisch mit dem Repräsentanten des Arbeitgebers – der Phosphatfirma CPG – und, in einer Person, mit dem Abgeordneten der Regimepartei RCD (‚Demokratische Verfassungs-Sammlung) des mafiös-autoritär regierenden Präsidenten Zinedine ben Abidine Ben Ali (laut ‚Le Monde’ vom 10. Juni 08).

Aber vor Ort ging der Protest ungebrochen weiter. Die Bergarbeiter traten in den Streik, und ihre Familien – und insbesondere die Frauen – demonstrierten immer wieder auf den Straben. In Redeyef, wo oppositionelle Gewerkschafter (unter ihnen Hajji Adnane) die Bewegung strukturierten, nahmen Tausende von Einwohner/innen an Veranstaltungen und Demonstrationen teil. In Oum Laârayes errichteten die Witwen von Bergarbeitern, die infolge von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten gestorben waren, und Behinderte zusammen Zelte, in denen sie mehrere Wochen hindurch campierten. Dadurch blockierten sie den Zugang zu den Phosphatminen auf dem Schienenweg.

Die Behörden versuchten zuerst, die Proteste „auszusitzen“. Aber dann kam es, in mehreren Schritten, zur Eskalation. In der Nacht vom 6. zum 7. April  2008 dieses Jahres verhaftete die Polizei rund 30 oppositionelle Gewerkschafter und Jugendliche in Redeyef, unter ihnen den Sprecher Hajji Adnane, und steckte sie ins Gefängnis. Die Polizei umstellte die Bergwerke. Aber daraufhin setzte ein Anschwellen der Massenproteste an, und „ein regelrechtes Menschenmeer“ (so das Flugblatt des in Paris ansässigen Unterstützungskomitees zum 01. 05. 2008) strömte auf die Straben und Plätze. Am Abend des 10. April wurden sämtliche Festgenommenen aus der Haft freigelassen.

Seit Anfang Mai 2008 kam es zu erneuten Eskalationsschritten. Am 6. Mai starb ein junger Arbeitsloser, der 26jährige Ali Ben Jeddou El Aleimi, bei einer Besetzungsaktion an einem Stromschlag, und der 21jährige Taoufik Ben Salah landete im Koma. Zusammen mit einer Gruppe anderer Erwerbslosen hatten sie einen Stromgenerator besetzt, der die Phosphatminen mit Elektrizität beliefert, und hatten dadurch deren Stromversorgung unterbrochen. Aber noch während sie sich im Inneren befanden, wurde der Generator wieder unter Strom gesetzt, und mehrere Personen erhielten einen heftigen Stromschlag. Der Körper des toten El Aleimi wurde unter dessen Wucht nach drauben geschleudert. Die „Erste Hilfe“ rückte erst Stunden nach dem tödlichen Unfall an. Am Nachmittag des 7. Mai verlieben Tausende von Einwohner/innen der (30.000 Menschen zählenden) Bergbaustadt Redeyef im Rahmen einer „kollektiven Evakuierung“ ihre Stadt, um sie den marodierenden „Polizeikräften zu überlassen“. Und brachten dadurch Ihren Überdruss gegenüber der seit Wochen andauernden Besetzung ihrer Stadt durch uniformierte Kräfte zum Ausdruck.

Am 2. Juni dieses Jahres starb Nabil Chagra, nachdem er bei einer Demonstration junger Arbeitsloser von einem Auto erfasst worden war.

Am Freitag, den 05. Juni nun begann die Polizei im Phosphatrevier das Feuer zu eröffnen. Sie schoss in Redeyef in die protestierende Menge und tötete den 22jährigen Hafnaoui Ben Ridha Hafnaoui Maghzaoui, in der Nähe seiner Wohnung. 26 weitere Personen wurden verletzt. Ahmed Ahmadi Baccouch, ein weiteres Opfer, wurde mit zwei Kugeln im Rücken ins Regionalkrankenhaus von Gafsa transportiert. Die Polizei schoss ferner Tränengasgranaten ab, bis ins Innere von Häusern hinein, und setzte Wasserwerfer ein. Zugleich bezog auch die Armee Aufstellung.

Soziale Erschütterungen in der Hafenstadt Sidi Ifni

Am darauffolgenden Tag (06. Juni) flammten im südmarokkanischen Sidi Ifni ebenfalls soziale Unruhen auf. Bei Sidi Ifni handelt es sich um Hafenstadt von rund 20.000 Einwohner/inne/n, die in einer als traditionell gegenüber der Zentralregierung „aufsässig“, aber auch von den „Sitten“ her konservativ, geltenden Berberregion (südlich von Agadir am Atlantik) liegt.

Auch hier eine hohe Erwerbslosigkeit, die in diesem Falle damit zusammen hängt, dass den Einwohner/inne/n die traditionelle Fischerei nach Mollusken (Tintenfischen usw.) lange Jahre hindurch verboten war – um spanische, deutsche u.a. Schiffe ungestört die örtlichen Fischvorkommen plündern zu lassen. Diese Zusammenhänge zu internationalen Wirtschaftsstrukturen kamen in der internationalen Berichterstattung bislang noch kaum zur Sprache. Sie wurden jedoch anlässlich einer Tagung zum Thema „Menschenrechte im Maghreb“ (im Vorfeld des am 13. Juli in Paris bevorstehenden Gipfels der neu gegründeten bzw. durch Nicolas Sarkozy ausgerufenen „Mittelmeerunion“), die am 28. Juni an der Universität Paris-VIII in Saint-Denis stattfand, hingegen thematisiert.

Anlass der sozialen Explosion in Sidi Ifni war - auch hier - die Ausschreibungspraxis bei Arbeitsplätzen in einer durch die Zentralgewalt vernachlässigten Region, wo die Arbeitslosigkeit weit überdurchschnittlich hoch liegt. In diesem Falle hatte das Rathaus die Neueinstellung von drei Personen versprochen, und die Bekanntgabe der Ziehung der Namen der „glücklichen Gewinner“ durch Los hatte Proteste ausgelöst. Aus Protest gegen die Methode der Losziehung blockierten 160 überwiegend junge Arbeitslose ab dem 30. Mai den Hafen. Eine Woche später, nachdem der Hafen noch immer blockiert war, traf dort ein Boot mit mehreren Hundert Angehörigen einers Sondereinsatzkommandos, der „Mobilen Einsatzkompagnie“ (Compagnie mobile d’intervention), ein. Sie prügelten und schossen den Hafen frei. Angehörige der „Sicherheitskräfte“, die vom gesamten marokkanischen Territorium zusammengezogen worden waren, besetzten die Stadt richtiggehend, an deren Rändern junge Leute um die umliegenden Berge flohen. 150 bis 300 Personen, laut ersten Angaben, wurden durch die Angehörige der Repressionskräfte eingesammelt und mit verbundenen Augen an einen unbekannten Ort abgeführt – entweder auf Polizeiwachen oder in klandestine Folterzentren.

Es handelte sich um eine wahre „Strafexpeditionen“ der marodierenden Polizeikräfte in der Stadt, und laut vorliegenden Augenzeugenberichten kam es u.a. zu mehreren Vergewaltigungen – die aber nur durch zwei Betroffene, unter ihnen eine 16jährige, öffentlich angeprangert werden. Die übrigen Opfer schweigen bislang, aus „Scham“ bzw. aufgrund des bekannten sozialen Drucks auf vergewaltigte Frauen, die als „geschändet“ und daher „unrein“ betrachtet werden, statt ausschlieblich als Opfer der Soldateska gesehen zu werden (und entsprechende Unterstützung zu finden). In einer der vorhandenen Aussagen ist die Rede davon, dass auch zahlreiche männliche Festgenommene auf dem Polizeikommissariat vergewaltigt worden seien: Die 16jährige berichtet davon, sie habe eine Reihe nackt ausgezogener junger Männer – mit dem Rücken zu ihr - entlang einer Wand stehen sehen, und am Boden neben ihnen eine Flasche, die zu diesem Zweck eingesetzt worden sei.

Örtliche Initiativen und Vereinigungen, wie das Marokkanische Zentrum für Menschenrechte (CMDH), sprachen daraufhin von „mindestens zwei Toten“ der wütenden Repression. Der Korrespondentenbericht des arabischsprachigen Fernsehsenders El-Jazeera (dessen Zentrale in Qatar ansässig ist) sprach seinerseits von „zwei bis acht Getöteten“, und im französisch—afrikanischen Radiosender Radio Africa Numéro 1 war am Montag früh – 8. Juni - von mutmablich fünf Toten die Rede.

Hingegen dementieren die marokkanischen Behörden energisch, dass es Tote gegeben hat. Sie sprechen ihrerseits davon, dass es 44 Verletzte, „unter ihnen 27 verletzte Polizisten“, sowie 20 Verhaftungen gegeben habe. Daraufhin haben die marokkanischen Behörden nun Vertreter des Fernsehsenders El-Jazeera, den sie der „Leichtfertigkeit bei der Sammlung und Verbreitung von Informationen“ vorwerfen, zur Aussprache vorgeladen und Erklärungen von ihnen gefordert. Am Samstag wurde der Leiter seines marokkanischen Büros, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in der Hauptstadt Rabat hin, durch die Kriminalpolizei vernommen. (Vgl. http://www.lemonde.fr/) Inzwischen hat die marokkanische Regierung in Rabat – mit drohendem Unterton? – präzisiert, „die Schliebung des Büros von El-Jazeera stehe zwar nicht auf der Tagesordnung“, aber sie fordere den Sender (ultimativ) „zu einer Entschuldigung auf“.

In mehreren marokkanischen Städten kam es zu (versuchten) Solidaritätsdemonstrationen oder Sit-ins, aus Solidarität mit den Opfern der Repression in Sidi Ifni. Eine Woche nach den dortigen Polizeiangriffen kam es in der Hauptstadt Rabat zu einer Protestversammlung, die durch die Polizei aufgelöst wurde. Die Speerspitze der Proteste waren Mitglieder der Marokkanischen Menschenrechtsvereinigung AMDH, der Vereinigung der „Arbeitslosen mit Hochschulabschluss“ (association des chômeurs diplômés), von ATTAC Marokko und der undogmatisch-trotzkistischen Strömung El-Mounadhil/a (wörtlich: der/die Aktivist/in, oder der/die Militant/e). Am 23. Juni wurde daraufhin Aziz Mouhib, eines der wichtigsten Führungsmitglieder der Gruppe El-Mounadhil, verhaftet und einen Tag lang durch die „Sicherheits“kräfte festgehalten und verhört. Der Grund dafür war seine Rolle bei der Organisierung einer ersten „Solidaritätskarawane“ nach Sidi Ifni, die am 16. Juni mehrere hundert Oppositionsaktivisten aus anderen marokkanischen Städten nach Sidi Ifni gebracht hatte. Am späten Abend kam Aziz Mouhib wieder frei. Inzwischen wurde ein anderer Aktivist der Solidarität mit den Einwohner/inne/n der Stadt, der selbst aus Sidi Ifni stammende Brahim SBAA ALAYL – ein Vorstandsmitglied (membre du Bureau national) des Marokkanischen Menschenrechtszentrums CMDH -, an diesem Freitag, den 27. Juni gegen 1.30 Uhr früh in der Hauptstadt Rabat festgenommen.

Unterdessen wurde am 22. Juni erneut eine „Solidaritätskarawane“ für Sidi Ifni organisiert, dieses Mal mit noch gröberem Erfolg. 20.000 Menschen (so viel, wie diese Hafenstadt Einwohner/innen zählt, vom Baby bis zum Greis), Einheimische ebenso wie Auswärtige, demonstrierten in Sidi Ifni. Am 24. Juni fand, ab 17 Uhr, auch eine Solidaritätsdemonstration vor der marokkanischen Botschaft in Brüssel statt.

Die internationale Solidarität ruht nicht

Am Donnerstag, den 18. Juni ab 11 Uhr besetzten Solidaritäts-AktivistInnen, darunter solche der französisch-afrikanischen Solidaritätsvereinigung ‚Survie’, in der Pariser Banken- und Geschäftsvorstadt La Défense eine Filiale des Erdöl-Multikonzerns Total. Dadurch erhoben sie den Vorwurf gegen die Konzernfiliale GPN (die frühere Aktiengesellschaft ‚Grande Paroisse S.A.’), der gröbte Abnehmer und Importeur von Phosphat aus dem tunesischen Bergbaubecken von Gafsa, und das wichtigste Partnerunternehmen des dortigen (staatlichen) Bergbauunternehmens CPG – Compagnie des phosphates de Gafsa – zu sein. Dessen mafiöse Einstellungspraktiken werden derzeit durch den massiven Ausstand der örtlichen Bevölkerung angeprangert. Die Direktion der Konzernfiliale GPN behauptete jedoch gegenüber einer Delegation der Besetzer/innen, die sie empfing, seit längerem keine Phosphate aus Gafsa (die zur Produktion von Düngemitteln benutzt werden) mehr einzuführen. Erstaunlich, immerhin, denn die Konzernführung von Total gibt unterdessen zu, auch weiterhin – während der Revolte – Phosphat von dort zu importieren...

Während derzeit in Paris ein bis zwei Solidaritätsdemonstrationen pro Woche für die sozialen Revolten in Marokko stattfinden – aber mit überwiegend marokkanischer Beteiligung -, besteht ein breites Bündnis für die Solidarität mit der massenhaften Protestbewegung im Phosphat-Bergbaurevier in Gafsa (im Südwesten Tunesiens). Denn im Zusammenhang mit der sozialen Revolte in der Region Gafsa/Tunesien sind auch die französischen Organisationen massiv mobilisiert: Linke, Initiativen und Teile der Gewerkschaften. Dieses unterschiedlich starke Mobilisierungsniveau hängt überwiegend damit zusammen, dass der Massenprotest im Bergbaubecken von Gafsa schon seit Anfang Januar anhält, nämlich seitdem am 5. Januar dieses Jahres die Ergebnisse der Ausschreibung von 81 Arbeitsplätzen veröffentlicht worden sind.

Doch in dem französischen Solidaritätsbündnis bildet die Frage der Ausweitung des Bezugsrahmens auch auf die sozialen Revolten in Marokko (und, mittels Riots, auch in Algerien) derzeit einen wichtigen Punkt. Die Überschreitung der nationalstaatlichen Grenzen in der Solidarität steht also durchaus auf der Tagesordnung.

Zu Gafsa existieren inzwischen mehrere Solidaritâtserklärungen, darunter die eines breiten Bündnisses, die im Anhang dokumentiert wird. Zur Repression in allen drei Hauptländern des Maghreb hat u.a. die französische KP eine Solidaritätserklärung veröffentlicht (vgl. hier: http://www.pcf.fr/spip.php?article2859 ).

Unterdessen verabschiedete eine Reihe französischer Organisationen eine gemeinsame Erklärung, die anbei verlinkt worden ist. Unterzeichnet haben sie u.a. die Gewerkschaftsverbände FSU (Verband der Lehrergewerkschaften), Solidaires-SUD und die CNT (anarcho-syndikalistisch) sowie die linke Richtergewerkschaft SM/Syndicat de la magistrature, „mit der Unterstützung der CGT“ (als Nicht-Unterzeichnerin, die sich aber ebenfalls solidarisch erklärt). Hinzu kommen ATTAC, die französische KP, die Grünen, die undogmatisch-trotzkistische LCR, eine maoistische Partei (der PCOF), die „Liga für Menschenrechte“ LDH und die Antirassismusbewegung MRAP. Eine wichtige Rolle spielen auch die traditionsreiche „Vereinigung der maghrebinischen Arbeiter in Frankreich“, ATMF, sowie die FTCR = der „tunesische Verband für Bürgerrechte auf beiden Ufern“ (des Mittelmeers). Ferner unterschrieben eine Reihe weiterer Immigranten- und Solidaritätsorganisationen.

Die Unterzeichnenden fordern u.a.: „den sofortigen Abzug der Polizeitruppen aus der Region (Gafsa) und insbesondere aus Redeyef ; die Freilassung aller anlässlich der Proteste Verhafteten ; die Aufnahme sofortiger Verhandlungen für konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der von Armut und Ungerechtigkeit betroffenen Einwohner der Region ; die Aufhebung der über Redeyef verhängten Blockade, die die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern mit hin zu Babymilch zu gefährden droht, wobei die Situation durch die Verwüstung und Plünderung von Geschäften durch (marodierende) Polizeitruppen verschärft worden ist ; die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission über die Gewalttaten der Polizei“. Die Unterzeichner/innen erklärten ferner den in großer Zahl aus Redeyef stammenden Tunesier/inne/n, die im westfranzösischen Nantes leben, und der dortigen Solidaritätsbewegung sowie dem von 12 Personen begonnen Solidaritäts-Hungerstreik ihre besondere Solidarität.

Hingewiesen sei ferner noch kurz auf eine Solidaritätserklärung der französischen „Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft“ (MRAP): http://www.mrap.fr/

Und im Anschluss noch ein wichtiger Hinweis auf Videos, die den Ablauf der Ereignisse in Originalbildern – von Amateurfilmern, i.d.R. mittels ihrer Mobiltelefone, aufgenommen – zeigen. Aus diesem Grunde haben die Repressionskräfte der ortsansässigen Jugend auch oftmals ihre Handys abgenommen bzw. gestohlen...

Videos Tunesien

  • Aufnahmen vom 6. Juni 2008 (dem Tag, an dem es zu den tödlichen Schüssen der Polizei kam und im Anschluss die Armee entsandt wurde) in Redeyef

 Aufnahmen aus  Redeyef vom 25. April 2008 (Arabisch: ‚Walad es-Schaab’ = „Kinder des Volkes“):

Bilder aus Redeyef (nicht datiert)

Redeyef: Die Polizei dringt in Häuser und Geschäfte ein:

 Aufnahmen von Demonstrationen zur Unterstützung der tunesischen Protestbewegung in Frankreich:

 Solidaritätsdemonstrationen in Nantes, wo besonders viele Tunesier aus der Region von Gafsa und insbesonder aus Redeyef leben, am 12. April 2008 

Videos Marokko

 Ein Amateurfilm über die Ereignisse von Sidi Ifni

„Sidi Ifni, der 7. Juni 2008“  (am Tag nach den brutalen Polizeiangriffen gegen die jungen Arbeitslosen, die den Hafen besetzt hatten)

‚Menschenrechte in Sidi Ifni’   

Die Verletzten von Sidi Ifni

 Sidi Ifni, ein paar Amateuraufnahmen vom Protestmarsch am auf die brutale Repression vom folgenden Tag

 Sidi Ifni, Amateuraufnahmen von Polizei und Armee (beim Steinewerfen) sowie - zweite Hälfte - vom Stadtrand, wo die Protestierenden sich in die Berge flüchteten bzw. aus der Stadt vertrieben wurden:

 Fotoaufnahmen aus Sidi Ifni (Blog)

Solidaritätskarawane aus anderen marokkanischen Städten nach Sidi Ifini, am 16. Juni 2008

 Bilder von einem Solidaritäts-Sit in mit Sidi Ifni in Rabat, von Mitte Juni

Fotos von der Auflösung einer Solidaritätsversammlung in der Hauptstadt Rabat

Erneute Solidaritätskarawane nach Sidi Ifni am 22. Juni dieses Jahres

 Solidaritätsdemonstration in Brüssel am 24. Juni (Quelle 1) und Quelle 2


(Achtung, die drei letztgenannten Fundstellen im Netz sind zeitweilig „nicht auffindbar“ respektive gesperrt. Unklar ist, ob die marokkanischen Repressionsorgane mit diesem Problem zu tun haben.)

 

Editorische Anmerkungen

Der Text  wurde uns vom Autor für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.