Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Paris: „Antisemitischer Übergriff“ im 19. Bezirk sorgt für Aufregung und Empörung
I
n Wirklichkeit stellt er jedoch keineswegs dar, was er lt. ersten Medienberichten angeblich war

7/8-08

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Antisemitismus, Jugendgewalt oder Bandenkrieg? Was die genauen Hintergründe der Aggression gegen den jungen Rudy H. am vergangenen Samstag im 19. Pariser Bezirk sind, blieb zu Anfang der letzten Juniwoche heftig umstritten. Allerdings verlagerte sich das Gravitationszentrum dessen, was durch Öffentlichkeit und Behörden für wahrscheinlich gehalten wird, im Laufe des Dienstag (24. Juni) zunehmend weg vom ersteren und hin zum letzteren Punkt.

Zunächst war in der Presse fast unisono von der feigen Attacke auf einen einsamen jungen Juden, der zum fraglichen Zeitpunkt in die Synagoge ging und nur aufgrund seiner Kippa als solcher identifiziert worden sei, durch 10 bis 15 Jugendliche aus einer Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund die Rede. Dieses doch ziemlich, sagen wir: einseitige und gefärbte, Bild hat sich jedoch im Laufe der darauf folgenden Tage ziemlich stark zugunsten einer reichlich anders lautenden Darstellung verschoben.

Fest steht nur so viel: Der 17jährige französische Jude Rudy H. ist am Samstag (21. Juni) gegen 19 Uhr durch eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Jugendlichen körperlich, angegriffen, zu Boden geschlagen, mit Füßen getreten und (mutmablich) mit einer Krücke geschlagen worden. Er wurde für zwei Tage ins künstliche Koma versetzt (was in den Medien zunächst so herüberkam, dass er „in’s Koma fiel“), aus dem er am frühen Montag Abend aufwachte. Rudy H. wohnt in der an Paris angrenzenden Vorstadt Pantin und war im unmittelbar benachbarten 19. Bezirk unterwegs.

Er trug tatsächlich eine Kippa, die ihn als Angehörigen der jüdischen Bevölkerungsgruppe auswies. Allerdings wurde die ursprüngliche Behauptung, er sei zum fraglichen Zeitpunkt allein gewesen, im Laufe des Dienstag immer mehr relativiert und durch die Ermittlungsbehörden in Frage gestellt. Medienberichte, etwa in ‚Le Monde’, lieben am Abend durchblicken, Rudy H. habe sich möglicherweise eher in einer Gruppe oder Bande befunden, als er in eine körperliche Auseinandersetzung oder Schlägerei verwickelt worden sei. Und der Pariser Oberstaatsanwalt Jean-Claude Marin wird inzwischen durch das konservative Wochenmagazin ‚Le Point’ mit folgenden Worten zitiert: Die Attacke gegen Rudy H. erfolgte „am Ende einer Reiberei/eines Gerangels zwischen einer Bande von 20 bis 25 Jugendlichen schwarzer Hautfarbe“ – in anderen Quellen ist eher von 15 die Rede- „und einer Bande von jungen Europäern jüdischer Herkunft, die in der Unterzahl waren. Letztere ergriffen im Anschluss daran die Flucht. Aber einer unter ihnen (Anm.: nämlich Rudy H.) fand sich in einer Sackgasse wieder. Ihm wurde zuerst durch das Tor des Square Petit (Anm.: eines kleinen Platzes am Rande der gleichnamigen Strabe) der Weg abgeschnitten, später fand er sich zwischen zwei parkenden Autos eingeklemmt. Dort wurde er mit Prügeln überzogen.“ (Vgl. http://www.lepoint.fr, und auch http://www.agoravox.fr/)

Und nun möchten wir versuchen, den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren.

Wechselseitige Aggressionen in Folge

Voraus gingen der Aggression den ganzen Samstag Nachmittag (ab circa 13.30 Uhr) über Zwischenfälle zwischen rivalisierenden Jugendgruppen, bei denen sich vor allem junge Schwarze auf der einen Seite und junge Juden andererseits gegenüber standen. Laut Augenzeugenberichten griffen sich beide Gruppen rund um den Parc des Buttes-Chaumont, der inmitten des 19. Bezirks liegt, gegenseitig an. Diese Situation, so resümierte die Abendzeitung Le Monde am Montag Nachmittag, dauere seit mehreren Wochen an, nachdem Jugendliche aus Migrantenfamilien ein Mofa, das einem jungen Juden gehört habe, gestohlen hätten und letztere Gruppe daraufhin eine „Strafexpedition“ organisiert habe. Der Abgeordnete des 19. Bezirks, der Sozialdemokrat Jean-Christophe Cambadélis, spricht vor diesem Hintergrund von einem „Bandekrieg mit starker ethnischer und religiöser Einfärbung“.

In diesem Bezirk im Nordosten von Paris liegen ein Straßenzug - die rue Manin -, in der sich vorwiegend jüdisch-nordafrikanische Restaurants und Geschäfte befinden, und einige Straßen weiter Sozialbausiedlungen mit starkem Anteil an subproletarischen Bewohnern mit und ohne Migrationshintergrund dicht beieinander. Diese geographische Zone bildet seit Jahren ein Spannungsfeld. Vor allem seit dem Herbst 2000, als eine Welle von ersten Angriffen von Jugendlichen aus Migrantenfamilien auf Juden stattfand, kommt es immer wieder zum Anstieg so genannter „interkommunitärer“ Spannungen. Damals, im Herbst 2000, rechtfertigten die damaligen jugendlichen Angreifer ihr Treiben zunächst mit einer angeblichen „Solidarität mit der Intifada“ in den besetzten palästinensischen Territorien. Allerdings ist diese behauptete „Rechtfertigung“ (in Anführungsstrichen) für Attacken auf französische Juden inzwischen längst aus den Selbstdarstellungen sämtlicher Beteiligungen verschwunden: „Die vorgebliche ‚Solidarität mit der palästinensischen Sache’ scheint vollständig vergessen“, resümierte ‚Le Figaro’ die Situation im 19. Pariser Bezirk zu Wochenanfang. Und fügte hinzu: „...die antijüdischen Stereotype allerdings nicht.“ Richtig: Dazu zählt insbesondere das unter materiell armen Jugendlichen aus Migrantenfamilien tatsächlich verbreitete  Gefühl, wonach „die Juden Geld haben“ (wobei tatsächlich, jedenfalls im 19. Bezirk, ein sehr erhebliches Wohltstandsgefälle zwischen beiden Gruppen besteht – allerdings gelten 25 % der französischen jüdischen Bevölkerung als arm). Ebenso, müsste man dem wiederum  seinerseits hinzufügen, wie andere rassistische Stereotype bestehen, und insbesondere auch solche gegen arme Bevölkerungsgruppen (sichtbarer) migrantischer Herkunft. Und nicht zuletzt gibt es solche rassistischen Urteile, insbesondere gegen „Araber“ und Schwarze, auch in einem Teil der jüdischen Community. Möglicherweise aufgrund vorangegangener „schlechter Erfahrungen“, was ein solches Kollektivurteil aber weder rechtfertigt noch besser macht.

Der angegriffene Rudy H. war zum Tatzeitpunkt allein – so hieb es jein einer ersten Zeit. Die Pariser Staatsanwaltschaft ging allerdings gleichzeitig zunächst davon aus, dass er zum „Opfer einer Abrechnung“ vor dem Hintergrund der „Auseinandersetzung rivalisierender Banden um ein Territorium, und um kommunitäre Abgrenzungen“ geworden war. Nunmehr hat allerdings Alles den Anschein, als sei Rudy H. selbst an einem Kampf zwischen Banden beteiligt gewesen – und daran keineswegs unschuldig gewesen. Somit stellen sich die Dinge schon anders dar.

Allerdings hat die Pariser Staatsanwaltschaft zugleich, bei ihren Ermittlungen gegen Unbekannt – die zunächst in Polizeigewahrsam genommenen fünf Jugendlichen waren wahrscheinlich nicht selbst aktiv an der Schlägerei beteiligt, sondern lediglich Zeugen – wegen „gemeinschaftlich begangener Gewalttaten“, den strafverschärfenden Begleitumstand „Antisemitismus“ als Tatvorwurf aufrecht erhalten. Sollte sich bekräftigen, dass die jeweilige „kommunitäre“ Zugehörigkeit, also die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, bei den Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Banden eine wichtige, ja zentrale Rolle spielte, lässt sich dies durchaus nachvollziehen. Allerdings spielten „ethno-religiöse“, „kommunitaristische“ Vorurteile und eine gruppenegoistische Selbstbezogenheit bei diesen Zusammenstöben eben keineswegs ALLEIN bei den jungen „Schwarzen“ oder Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Rolle.

Rudy H., Mitglied einer rechten Schlägergruppe

Am Montag, 23. Juni ist unterdessen auch noch bekannt geworden, dass Rudy H. am 9. Dezember 2007 in der Nähe des „Konzertpalasts Bercy“ in Paris selbst zusammen mit drei Jugendlichen aus seiner Community kurzzeitig festgenommen worden war. Aus Anlass eines Konflikts zwischen Jugendgruppen unterschiedlicher Herkunft waren bei ihm und den drei anderen amerikanische Boxhandschuhe und andere Gegenstände einer Schlägerausrüstung (durch die Ermittlungsbehörden als „der Verteidigung dienende Wurfgeschosse“ bezeichnet) gefunden worden. Rudy H. hatte sich ferner eines Motorradhelms als Schlaggegenstand bedient: eine Technik, die bei rechten bis rechtsradikalen jüdischen Gruppen wie dem Likud-nahen paramilitärischen Bétar und der faschistischen ‚Jüdischen Verteidigungsliga’ (LDJ, Ligue de défense juive – Ableger der in den USA und Israel als rechtsterroristisch verbotenen, rassistischen Kach-Bewegung) hoch im Kurs steht.

Im Februar 2007 hatten rund zehn junge Anhänger der LDJ zwei Angestellte der Pariser Müllabfuhr, einen Mauretanier und einen Senegalesen, im traditionellen Pariser Judenviertel Le Marais angegriffen und dabei mit Motorradhelmen sowie Barhockern geschlagen. Dieser rein rassistisch motivierte Angriff wird demnächst in Paris vor Gericht behandelt werden. Rudy H. gehörte allerdings mutmablich eher dem Bétar an, wie jedenfalls am Dienstag kurzzeitig in einem Radiobericht anklang. - Just am Dienstag, den 24. Juni hätte Rudy H. einen Richtertermin aufgrund der Vorfälle vom 9. Dezember vergangenen Jahres gehabt. Aufgrund der relativ schweren Verletzungen, die er am Samstag Abend erlitt, konnte er ihn jedoch nicht wahrnehmen. Seine Anwältin wehrte sich unterdessen gegen eine „Diabolisierung“ ihres Klienten, den sie als „schmales Bürschchen“ beschrieb.       

Politische und öffentliche Reaktionen

Am Sonntag Nachmittag (22. Juni) wurde eine kurzfristige anberaumte Kundgebung in der rue Petit, wo der Angriff stattgefunden hatte, „aus Solidarität für Rudy“ abgehalten. An ihr nahmen mehrere Hundert Menschen teil, in einer angespannten Atmosphäre beschimpften sich Angehörige verschiedener Bevölkerungsgruppen gegenseitig. Die Antirassismusorganisationen SOS Racisme, MRAP und LICRA, der Dachverband der französischen Muslime (CFCM) und Oppositionspolitiker verurteilen am Wochenende die Aggression gegen Rudy H. scharf und forderten eine schnelle und konsequente Strafverfolgung der Täter. Letztere versprachen auch Vertreter des Regierungslagers, unter ihnen Justizministerin Rachida Dati.

Editorische Anmerkungen

Der Text  wurde uns vom Autor für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.