Streikbewegung in Tschechien

Von Markus Salzmann

7/8-08

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Die massiven Angriffe der tschechischen Regierungskoalition auf die sozialen Errungenschaften und den Lebensstandard der Bevölkerung haben zu einem Anwachsen sozialer und politischer Spannungen geführt, wie es sie seit den Wendejahren 1989/90 nicht mehr gegeben hat.

In den letzten Wochen haben Tausende öffentlich Bedienstete, Lehrer, LKW-Fahrer, Rentner, Ärzte und Krankenschwestern gegen die tief greifenden Reformen der Prager Regierungskoalition um Premierminister Mirek Topolanek protestiert. Dessen rechts-konservative Bürgerpartei ODS hat zusammen mit den Grünen (SZ) und den Christdemokraten (KDU-CSL) eine Reihe von Maßnahmen in der Gesundheits-, Renten-, Sozial-, und Finanzpolitik verwirklicht, die die soziale Lage großer Teile der Bevölkerung verschlimmern.

Bereits Anfang des Jahres hatte die Regierung per Gesetz eine Grundgebühr für den Besuch von Arztpraxen und Krankenhäusern eingeführt und damit die bislang bestehende kostenlose ärztliche Grundversorgung gestrichen. Die neue Gebühr muss selbst bei Notfällen und auch von Schwangeren und für Kinder gezahlt werden. Mit knapper Mehrheit hatte das tschechische Verfassungsgericht die Reform Ende Mai für rechtens erklärt.

Doch Topolanek und Gesundheitsminister Tomáš Julínek haben mit der angestrebten Privatisierung der Krankenkassen noch weiter gehende Pläne. Nachdem die Kassen durch Kürzungsmaßnahmen und die verordneten Zuzahlungen auf Kosten der Bürger saniert wurden, sollen sie jetzt in Aktiengesellschaften umgewandelt und privatisiert werden.

Eine solche Umwandlung würde nur noch wohlhabenden Personen eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung ermöglichen. Zu Recht wehren sich Ärzte, Krankenpfleger und anderes medizinisches Personal dagegen, da dies unweigerlich auch zu Stellenabbau und weiteren Einsparungen führen würde.

Mit der einhellig beschlossenen Rentenreform will das schwarz-grüne Bündnis die Pensionäre des Landes schröpfen. Das Rentenalter soll demnach schrittweise von 60 auf 63 Jahre angehoben werden. Bereits in den vergangenen Jahren waren die Renten radikal gekürzt worden. Betrug die durchschnittliche Rente Anfang der 90er Jahre noch 54 Prozent des vorherigen Lohnes, so sind es mittlerweile nur noch knapp 40 Prozent.

Dieser forcierte Sozialabbau findet vor dem Hintergrund drastisch gestiegener Lebenshaltungskosten statt. Zuletzt sind alleine die Preise für Lebensmittel um 20 bis 40 Prozent gestiegen. Die explosionsartig gestiegenen Preise für Strom und Benzin stellen viele Haushalte vor unlösbare Aufgaben. In diesem Monat erreichte die Inflationsrate mit 7,5 Prozent ein neues Rekordniveau. Wesentlicher Grund für die starke Teuerung war die Anhebung der reduzierten Mehrwertsteuer von fünf auf neun Prozent, so das Statistikamt in Prag. Sie führte vor allem zu einer Verteuerung von Lebensmitteln und des öffentlichen Nahverkehrs.

Auch die Mieten sind in den letzten Jahren rasant gestiegen. Wohnraum in Prag oder Karlsbad ist heute in der Regel ebenso teuer wie in westeuropäischen Großstädten.

Während auf der einen Seite Hunderttausende Familien nicht wissen, wie sie bis zum Monatsanfang über die Runden kommen, häuft eine kleine Minderheit an der Spitze der Gesellschaft maßlosen Reichtum an. 2007 ist die Anzahl der Dollar-Millionäre in Tschechien im Vergleich zum Vorjahr um 1.660 auf mittlerweile 15.000 gestiegen.

Die haben den Grundstock für ihren Reichtum während der Privatisierungen der neunziger Jahre gelegt. Unter dem jetzigen Staatschef Vaclav Klaus wurden in den ersten Jahren nach dem Kollaps des stalinistischen Regimes die so genannten "Coupon-Privatisierungen" durchgeführt. Damals wurden staatliche Betriebe und Einrichtungen ohne jede rechtliche Grundlage zu Spottpreisen an ausländische Investmentfonds und Spekulanten verscherbelt, wobei ein großer Teil des Volksvermögens vernichtet wurde.

Seither hat jede Regierung, egal ob konservativ oder sozialdemokratisch, ausschließlich die Interessen der wohlhabenden Elite und ausländischer Investoren vertreten. Seit 1990 haben die konservative ODS und die sozialdemokratische CSSD mehrfach eng zusammengearbeitet, um die Vorgaben aus Brüssel zum Beitritt in die Europäische Union zu erfüllen.

Und auch heute ist die Oppositionsrolle der Sozialdemokraten (CSSD) nur gespielt. Aufgrund der Patt-Situation zwischen Konservativen, Christdemokraten und Grünen auf der einen und Sozialdemokraten und Kommunistischer Partei (KSCM) auf der anderen Seite, hat die Regierung nur gestützt auf sozialdemokratische Überläufer eine Mehrheit. Weil diese Abgeordneten die Regierung tolerieren, sind die Sozialdemokraten zugleich im Lager der Regierung und der Opposition.

In der Bevölkerung stößt die unsoziale und reaktionäre Politik auf wachsende Ablehnung. Die neuesten Umfragen sehen im Falle von Neuwahlen die konservative ODS als klaren Verlierer mit immer größer werdendem Abstand zur sozialdemokratischen CSSD. Die beiden Juniorpartner der ODS kämen nicht einmal mehr über die 5-Prozenthürde. Die Grünen lagen in einer Umfrage von Median Pool bei 4,9 Prozent.

Dies sorgt innerhalb der Regierungskoalition und dem gesamten politischen Establishment für heftige Turbulenzen. Gerade die Grünen sind besonders anfällig dafür. Bei den Wahlen 2006 waren sie quasi aus dem Stand auf über 6 Prozent gekommen. Dies war vor allem dem verbreiteten Misstrauen gegen Konservative und Sozialdemokraten geschuldet. Kaum im Parlament, boten sich die Grünen den Konservativen an. Seither dienen sie als Einpeitscher für weitere "Reformen".

Der drohende Niedergang nach nicht einmal einer Legislaturperiode reist tiefe Gräben in die Partei. Die beiden Grünen-Abgeordneten Olga Zubova und Vera Jakubkova sind mit Parteichef Martin Bursik aneinander geraten und haben mehrfach mit dem Austritt aus der Fraktion gedroht. Hintergrund ist nicht nur die unpopuläre Innenpolitik, sondern auch das Festhalten der Regierung an der Stationierung des US-Raketenabwehrschilds, dessen Radaranlage in Tschechien stehen soll. Während etwa 80 Prozent der Bevölkerung dies ablehnen, drohte der von den Grünen aufgestellte Außenminister Karel Schwarzenberg mit seinem Rücktritt, sollte das Projekt scheitern.

Die Rolle der Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei

Das diese abgewirtschafteten und verhassten Parteien derart offen gegen die Bevölkerung auftreten können, hat seinen Hauptgrund im völligen Versagen der Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei.

Die Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsdachverbände CMKOS (Tschechisch-Mährische Konföderation der Gewerkschaftsverbände) und ASO (Assoziation selbstständiger Gewerkschaften der Tschechischen Republik) zu Protesten und Streiks gegen die Politik der Regierung aufgerufen haben, kann nicht über ihre wahre Rolle als Handlanger der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes hinwegtäuschen.

Wie schon in früheren Jahren beschränkten sich die gewerkschaftlich organisierten Proteste und Streiks auf vereinzelte, zeitlich beschränkte Aktionen, die im Wesentlichen als Ventil dienen, um Dampf abzulassen. Während Anfang der neunziger Jahre rund 90 Prozent der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert waren, sind es heute nicht einmal mehr 30 Prozent.

Die Kritik der Gewerkschaften richtet sich nur gegen die hohe Geschwindigkeit, mit der die Reformen durchgepeitscht werden, und gegen die gröbsten sozialen Ungerechtigkeiten. Sie lehnen aber die Reformen der schwarz-grünen Regierung nicht grundsätzlich ab. Der CMKOS-Vorsitzende Milos Stech beteuerte ausdrücklich die Notwendigkeit einer Rentenreform. Diese solle jedoch "professionell" und "durchdacht" sein.

Ideologische Grundpfeiler der CMKOS sind Anti-Kommunismus und Nationalismus. Die Gewerkschaft war 1990 im Schatten der "Demokratiebewegung" entstanden und hatte sich offen für rasche marktwirtschaftliche Reformen ausgesprochen, wohl wissend, dass dies Tausenden von Arbeitern die Existenz zerstören würde. Ebenso enthusiastisch begrüßte sie die Teilung der Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten, schürte damit dumpfe nationalistische Ressentiments und schwächte die Arbeiterklasse.

CMKOS hat schon immer eng mit Regierung und Wirtschaftsvertretern zusammen gearbeitet. Ausdrücklich unterstützte sie alle Maßnahmen, die dem Beitritt der Europäischen Union vorausgingen, also Lohnsenkungen, Sozialabbau und Privatisierungen.

Was hinter der gegenwärtig zur Schau getragenen Militanz der Gewerkschaften steht, hat CMKOS-Vize Zdenek Málek bereits vor einigen Jahren erklärt: "Unser Ziel war es, nicht alles per Streik zu lösen, sondern vielmehr durch die Androhung von Streiks. Zum Beispiel, indem man 100.000 Leute auf dem Altstädter Ring in Prag zusammenbringt. Das haben wir zweimal gemacht. Eisenbahner und Bergarbeiter haben tatsächlich gestreikt, ebenso die Lehrer. Dann hatten die Kollegen auch alle unsere Solidarität. Aber insgesamt haben wir den sozialen Frieden bewahrt."

Den sozialen Frieden zu bewahren ist auch das Ziel der Kommunistischen Partei. Angesichts der Instabilität der Regierung und der unvermeidlichen sozialen Konflikte betrachtet sich die Kommunistische Partei, in der viele Kader der ehemaligen stalinistischen Nomenklatura versammelt sind, als stabilisierenden Faktor und als Ordnungsmacht. Den heftigen Druck, dem die Regierung von Innen und von Außen ausgesetzt ist, sehen die Ex-Stalinisten als Chance, in die Regierung aufgenommen zu werden.

Zu ihrem letzten Parteitag lud die Kommunistische Partei auch den Chef der Sozialdemokraten, Jirí Paroubek, ein, der die Einladung allerdings ablehnte. Dies hinderte die Parteiführung um Vojtech Filip nicht daran, erneut eine Koalition von Sozialdemokraten und Kommunisten zu fordern. Beide hätten eine rechnerische Mehrheit im Parlament.

Die Anbiederung der Kommunistischen Partei an die Sozialdemokraten kommt nicht von ungefähr. Bis 1990 waren beide in der stalinistischen Staatspartei vereint. Während sich in der CSD, der Vorläuferorganisation der sozialdemokratischen CSSD, diejenigen zusammenfanden, die so rasch wie möglich ihre Vergangenheit begraben wollten und sich zu glühenden Verfechtern des Kapitalismus wandelten, wurde die kommunistische KSCM als Sammelbecken jener stalinistischen Hardliner ins Leben gerufen worden, die bei der Vergabe von Posten und Pfründen leer ausgingen und die alten Seilschaften am Leben halten wollten. Mit einer grundlegenden Ablehnung der kapitalistischen Restauration hatte das nichts zu tun.

In sämtlichen osteuropäischen Staaten, in denen die stalinistischen Bürokraten bis Ende der achtziger Jahre herrschte, spielten sie eine entscheidende Rolle bei der Einführung des Kapitalismus und der Unterordnung des gesellschaftlichen Lebens unter die Interessen westlicher Investoren.

In Bulgarien, Polen, Ungarn oder Rumänien gingen skrupellose Wendehälse aus den Kommunistischen Parteien hervor, die sich schamlos auf Kosten der Bevölkerung bereicherten. Einmal mit Regierungsverantwortung betraut, würde auch die tschechische Kommunistische Partei rasch weiter nach rechts rücken und Maßnahmen durchsetzen, die sich von denen der rechten Regierung nicht unterscheiden.

Die Kommunistische Partei wird von den übrigen Parteien und auch von den Gewerkschaften weitgehend ablehnend behandelt. Der Grund ist nicht, dass sie eine sozialistische Politik verfolgt und das gegenwärtige Gesellschaftssystem ablehnen würde, vielmehr versucht die politische Elite des Landes jeden selbst rein verbalen Protest gegen die gegenwärtige Politik im Keim zu ersticken.

Bezeichnend dafür ist das Verbot des Kommunistischen Jugendverbandes (KSM). Dieser ist im Oktober 2006 vom tschechischen Innenministerium verboten worden, weil er die "Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln" forderte. Dieses Verbot richtete sich vordergründig gegen die Kommunistische Partei, die als drittstärkste Partei des Landes über erheblichen Einfluss verfügt. Aber mehr noch war es eine Warnung an die arbeitende Bevölkerung, dass die Elite des Landes entschlossen ist, jeden Widerstand zu kriminalisieren und dagegen vorzugehen.

Die Kommunistische Partei hat keine Antwort auf die drängenden Probleme. Sie hat eine lange Tradition, die Arbeiterklasse zu unterdrücken, die sie bei einem Eintritt in die Regierung sehr schnell wieder zur Anwendung bringen würde. Gegenwärtig versucht sie, die Proteste zu kanalisieren und die Arbeiter an die Sozialdemokraten zu binden.

Der Kampf gegen die Schwarz-grüne Regierung in Prag kann weder mit den beschränkten Mitteln gewerkschaftlicher Militanz, noch mit den verlogenen, linken Phrasen der Kommunistischen Partei gewonnen werden. Nur eine Bewegung, die sich unabhängig von diesen überlebten und reaktionären Organisationen für eine sozialistischen und internationale Perspektive einsetzt, kann die Rechte der arbeitenden Bevölkerung verteidigen. Dafür treten das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und sein Organ die World Socialist Web Site (WSWS) ein.

 

Editorische Notizen

Den Text  spiegelten wir von
http://www.wsws.org/de/2008/jun2008/tsch-j25.shtml
Er erschien dort am
25. Juni 2008