Inhaftierung ohne richterlichen Beschluss laut Kammergericht rechtmässig
Isolation im Keller und Dauerfesselung auch?

von Thomas Moritz, Rechtsanwalt
7-8/07

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onlinezeitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

die nachfolgende Hintergrundmitteilung für die journalistische Bearbeitung übersende ich im ausdrücklichen Einverständnis meines Mandanten im Anschluss an die erfolgte Berichterstattung über dessen Inhaftierung im September 2006; ebenso an einige weitere Personen.

Inhaftierung ohne richterlichen Beschluss laut Kammergericht rechtmässig – Isolation im Keller und Dauerfesselung auch?


Am 13.09.2006 war der kurdische Flüchtling Dervis Orhan aus den Gründen seiner Anerkennung als Asylberechtigter, die das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge auf die Verpflichtung durch das Verwaltungsgericht Schwerin bereits rechtskräftig festgestellt hatte, in Berlin zur Auslieferung an den Verfolgerstaat festgenommen worden.

In einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren war Dervis O. in der Türkei von einem sog. Staatssicherheitsgericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Aufgrund des Vorwurfes der Mitgliedschaft in der PKK hatte er 11 Jahre in türkischen Gefängnissen verbracht, davon drei Jahre in Einzelhaft. Er war mehrfach schwer gefoltert worden, erstmals im Alter von 16 Jahren.

Ein Auslieferungshaftbefehl bestand zu keiner Zeit, auch kein vorläufiger Auslieferungshaftbefehl. Die Festnahme war von der Generalstaatsanwaltschaft
Berlin aufgrund von e-mails von Interpol Ankara zur weiteren Vollstreckung der lebenslangen Haft gegen den schwer kranken Dervis O. veranlasst worden. Dervis O. leidet an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, die ihn im Alltag schwer behindert.

Dervis O. befand sich nach richterlicher Anhörung vom 13.09.-19.09.2006 in der Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Moabit. Vom 14.09.2006 bis zu seiner Entlassung war er allein in einem Kellerraum der dortigen Krankenhausabteilung untergebracht, nach der Mitteilung der Anstalt ein sog. „Kriseninterventionsraum“, nach der Auffassung seines Rechtsanwaltes Thomas Moritz ein nicht-regulärer Haftraum. In diesem Raum war Dervis O.
vom Vormittag des 14.09.2006 bis zum 18.09.2006 mittags durchgängig an beiden Beinen und der rechten Hand in Rückenlage mit metallenen Fesseln an die Pritsche gefesselt. Die Fesselung war mit Ausnahme einer Fussfessel erst zum Besuch des Anwaltes am 18.09.2006 abgenommen worden; zuvor war dem Anwalt der seinem Mandanten angekündigte Besuch am Freitag, dem 15.09.2006 von der Anstalt verweigert worden, die danach über das Wochenende geschlossen war.

„Schon ein gesunder Gefangener erlebt durch eine Fesselung, die nach der Rechtsprechung nur für kürzeste Zeiträume zulässig ist, grosse Hilflosigkeit in einer ihm bedrohlich und feindlich erfahrenen Umwelt, die immer auch objektiv Merkmale der Folter trägt und die seelisch und körperlich und subjektiv als Folter empfunden wird,“ so Rechtsanwalt
Moritz. Im Falle von Dervis O. wurde jede Grenze überschritten. Als Dervis O. in der Haftanstalt am 19.09.2006 endlich untersucht wurde, stellte der Anstaltsarzt fest, dass durch die Inhaftierung eine schwere Retraumatisierung (Dekopmensation) eingetreten war und ein
lebensbedrohlicher Zustand kurzzeitig erreicht werde. Dervis O. wurde daraufhin wegen Haft- und Verwahrunfähigkeit aus der Haft entlassen.

In den Kellerraum der Anstalt war Dervis O. verbracht worden, weil er einen Hunger- und Durststreik erklärt hatte und durchführte. Ihm war erklärt worden, wenn er wieder esse, kommer er wieder „nach oben“. Nach der bestrittenen Darstellung der Anstalt habe Dervis O. mit Essen nach dem Personal geworfen. „Diese Darstellung ist unglaubwürdig“, so Rechtsanwalt Moritz, da die Anstalt auch auf mehrfache Aufforderung bis heute keinen
Zeugen für diese Behauptung benannt hat. Dervis O. lehnt Gewalt ab und steht in der Tradition des gewaltfreien antiautoritären Widerstandes Ghandis.

Die Entscheidung des Kammergerichts über Rechtswidrigkeit oder Rechtmässigkeit dieser Massnahmen steht noch aus.

Kurz nach der Festnahme am 13.09.2006 hatte ein für die Polizei tätiger Arzt festgestellt, dass im Falle einer Inhaftierung mit schweren psychischen Krisen des Betroffenen zu rechnen sei; dem Bereitschaftsrichter waren Atteste der psychotherapeutischen Beratungsstelle Xenion und eines Amtsarztes der Arbeitsagentur über die schwere posttraumatische Belastungsstörung und die dauerhafte Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen aufgrund dieser Erkrankung von Dezember 2004 und April 2005 vorgelegt worden. Der Bereitschaftsrichter des Amtsgerichts Tiergarten erliess am 13.09.2006 keinen Beschluss über eine Inhaftierung von Dervis O., sondern ordnete an, diesen „unverzüglich“ auf seine Haft- und Verwahrfähigkeit zu begutachten. Im übrigen unterzeichnete er, wie sonst in allen Fällen nur nach ergangenem Haftbefehlsbeschluss gegen Straftatverdächtige üblich, das Formular über die Überstellung an die JVA Moabit („Aufnahmeersuchen“).

Mit Beschluss vom 10.01.2007 erklärte das Berliner Kammergericht das türkische Auslieferungsersuchen für unzulässig, weil offensichtliche Zweifel an der Fairness und Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens des  Staatsicherheitsgerichtes der Türkei bestehen und Dervis O. dauerhaft haft- und verwahrunfähig ist.

Mit jetzt zugegangenem Beschluss vom 18.06.2006 erklärte das Kammergericht die Inhaftierung als solche für rechtmässig (KG 4 – 183/06). Die Inhaftierung habe keines ausdrücklichen Beschlusses bedurft, es reiche die faktische Anordnung und das Ausfüllen des Formulars. Der Wahrheitsgehalt der eingereichten Atteste habe nicht offensichtlich auf der Hand gelegen; der Polizeiarzt habe Haftfähigkeit jedenfalls für kurze Zeit festgestellt. Die Untersuchung durch einen Konsiliarpsychiater habe Dervis O. am 14.09.2006 abgebrochen. Diedeutschen Behörden hätten nach alledem die aufgrund des Festnahmeersuchens dertürkischen Behörden erfolgte Verhaftung nicht zu vertreten. Denn der Verfolgte sei, nachdem seine Haftunfähigkeit eingetreten war, unverzüglich aus der Haft entlassen worden.
Dervis O. kann sich nicht erinnern, dass sich ihm am 14.09.2006 ein Psychiater vorgestellt habe. Seine Haftunfähigkeit ist nicht erst in der Folge des erlittenen Martyriums am 19.09.2006 eingetreten, sondern bestand von vorneherein; Retraumatisierung und psychische Dekompensation erfolgten durch die Inhaftierung.

Die Anwälte von Dervis O. kündigen an, gegen den Beschluss des  Kammergerichts Verfassungsbeschwerde zu erheben. Schon die Freiheitsentziehung in einem Polizeigewahrsam (zB Abschiebehaft), der erheblich unterhalb der Eingriffsintensität von Inhaftierung in Strafvollzugsanstalten liegt, bedarf nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung aus verfahrensgrundrechtlichen Gründen eines ausdrücklichen richterlichen Beschlusses (Art. 104 II GG). Das Freiheitsgrundrecht (Art 2 GG) und dieses Verfahrensgrundrecht von Dervis O. sind durch den Beschluss des Kammergerichts und die Inhaftierung ohne Beschluss verletzt.

Dervis O. befand sich trotz seiner Haftunfähigkeit geradezu aufdrängenden schwersten Erkrankung und trotz der nachträglichen Feststellung der dauerhaften Haftunfähigkeit durch das Kammergericht (Beschluss vom 10.01.2007) fast eine Woche lang in der Untersuchungshaftanstalt Moabit (dort 14.09.-19.09.2006: Einzelhaft im Keller des Haftkrankenhaus), ohne dass auch nur die vorläufige Auslieferungshaft angeordnet gewesen wäre.

Die Entscheidung des Kammergerichts zur Frage der  Rechtmässigkeit/Rechtswidrigkeit der Bedingungen der fast einwöchigen Inhaftierung von Dervis O. bleibt abzuwarten.

Berlin, den 02.07.2007
Thomas Moritz, Rechtsanwalt
 

ACHTUNG: Der Rechtsanwalt bittet darum, das Kammergericht (Pressestelle) NICHT auf die ausstehende Entscheidung zu befragen – dies könnte von dem Kammergericht als unbotmässiger Versuch der Beeinflussung gewertet werden.

Editorische Anmerkungen

Der Text erhielten wir am 3, Juli 2007 von faub-presse@list.fau.org

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