Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Sozialforum der Banlieues –
 Problemanalyse klappt,  aber politische Perspektivensuche eher „mühsam“
7-8/07

trend
onlinezeitung

War der jüngste Wahlsieg der französischen Konservativen unter Nicolas Sarkozy eine Niederlage für die Menschen in den Banlieues? Eine einfache Antwort darauf gibt es insofern nicht, als die Gesellschaft in den Trabantenstädten an der Peripherie der urbanen Ballungsräume vielschichtig und keineswegs homogen ist. Auch manche Schichten der Einwohnerschaft in den Banlieues, etwa die Bewohner der Reihenhausviertel in Sichtweise der Hochhaus- oder Plattenbausiedlungen, stimmten mehrheitlich für Sarkozy. In jüngerer Vergangenheit wählten sie zum Teil sogar noch weiter rechts.  

Hingegen steht fest, dass viele Angehörige der sozialen Unterklassen und namentlich die Nachfahren aus Einwandererfamilien – von denen viele aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen in den Banlieues wohnen – den Ausgang der letzten Wahlen wie eine Aggression wahrnehmen. Tatsächlich dürften auch viele sozial besser situierte Franzosen nicht zuletzt an sie gedacht haben, als sie ihre Stimme abgaben. Denn viele Wähler Sarkozys stimmten eher gegen als für etwas: gegen faule Arbeitslose, die in der „sozialen Hängematte“ liegen, gegen zu oft streikende und „privilegierte“ öffentliche Bedienstete, und eben auch gegen das „Gesindel“, gegen die gefährlichen Klassen in den Banlieues. Als classes dangereuses bezeichnete man dereinst noch das Proletariat, heute hingegen erscheinen die subproletarisierten Schichten der Trabantenstadtgesellschaft als solche. Auch wenn der Begriff als solcher dafür nicht benutzt wird, denn es fehlt häufig schon an der Wahrnehmung der „Banlieueproblematik“ als soziale Frage, als Klassenfrage. Nicht sozioökonomische Faktoren erklären aus der Sicht der Mehrheit der französischen Gesellschaft das „Banlieueproblem“, das überwiegend als Gewaltproblem aufgefasst wird, sondern allenfalls städtebauliche Ursachen wie die Architektur. Wenn nicht gleich ihre Bewohner, vor allem die Einwandererkinder unter ihnen, als Unruhestifter oder potenzielle Kriminelle „von Natur aus“ wahrgenommen und selbst zur Problemursache abgestempelt werden. 

Angehörige von associations (also Bürgerinitiativen und Sozialvereinigungen) ebenso wie politische AktivistInnen versuchten nun am vergangenen Wochenende – 22. bis 24. Juni  -, die soziale und politische Dimension des „Banlieueproblems“ zurück auf die Tagesordnung zu bringen. Seit vielen Wochen war das Forum social des quartiers populaires, das Sozialforum der Viertel der kleinen Leute – mit letzteren sind überwiegend die französischen Banlieues gemeint – in einer Reihe von Städten vorbereitet worden. Das Gewerkschaftshaus der nördlich an Paris angrenzenden Stadt Saint-Denis war dafür zur Verfügung gestellt worden. Einige hundert Meter weiter war eine kleine Zeltstadt aufgebaut worden, in Sichtweise des Grand Stade, wo die Fubball-Weltmeisterschaft 1998 mitten in der Banlieue ausgetragen worden war. Am selben Ort, wo auch ein Teil der  Veranstaltungen des Europäischen Sozialforums von November 2003 stattgefunden hatte, wechselten Esszelte, Fotoausstellungen, Informationsstände verschiedener Initiativen und Debattenräume einander ab.

Kann man dieses besondere Sozialforum als einen Erfolg bezeichnen? Allenfalls in Grenzen. Nicht nur, dass der am Freitag Nachmittag einsetzende Regen den Aufbau der Zelte erschwerte und das Freiluftgelände zeitweise in eine Matschwiese verwandelte, und dass die teilweise Überforderung der Organisatoren für Verzögerungen im Zeitablauf sorgte. Wichtiger war, dass die Aktiven von Initiativen und politischen Gruppen mehrheitlich unter sich blieben: Von den insgesamt einige hundert TeilnehmerInnen dürfte die Mehrheit irgend einer association, Frauengruppe oder Gewerkschaft angehören. Der Ansturm durch die „einfachen“ Bewohner der Plattenbausiedlungen, die am Nordrand von Saint-Denis in zwei bis drei Kilometern Entfernung beginnen, blieb aus. Allenfalls Einzelne dürften aus Neugier gekommen sein. Das ist auch kein Wunder, bilden doch gerade die Unterschichtsiedlungen seit der Implosion der dort früher stark verankerten französischen KP und eines Gutteils der Arbeiterbewegung – die in den 80er Jahren schrittweise einsetzte – ein politisches Vakuum. Das Misstrauen gehen gesellschaftliche Utopien sitzt dort heute tief. Das Problem wurde am Wochenende aufgeworfen, aber es bleibt gestellt. 

Nicht immer in jüngster Zeit blieben die Banlieues von politischer Passivität geprägt. Denn bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl wurden gerade in den Trabantenstädten, in ihren subproletarischen Milieus und Einwandererfamilien zahlreich, vor allem junge Wähler mobilisiert. Nach den Riots vom November 2005 hatten zahllose frisch gegründete Initiativen die jungen Bewohner der Banlieues dazu aufgerufen, sich nunmehr aktiv in die Politik einzumischen – mit dem Stimmzettel. Da die sozialen Ursachen für die Explosion vom vorvergangenen Herbst nicht beseitigt worden seien, die militante Randale aber ihren Mangel an Perspektiven im Hinblick auf reale Veränderungen gezeigt habe, solle man nun als Wähler aktiv werden.  Tatsächlich haben viele Banlieuebewohner bei der Präsidentschaftswahl im April eine manifeste „Anti-Sarkozy-Stimme“ abgegeben. Denn die politische Problematik hatte sich in hohem Mabe rund um die Person des früheren Innenministers polarisiert: Pro oder kontra Sarkozy erschien als die entscheidende Frage. Dagegen blieb die Mobilisierung dann bei den Parlamentswahlen im Juni ungleich schwächer. In Clichy-sous-Bois, jener Vorstadt 10 Kilometer östlich von Paris, von der im Oktober 2005 – aufgrund eines Vorfalls im Zusammenhang mit Polizeigewalt – die mehrwöchigen Unruhen in den Banlieues ausgingen, lässt sich dies besonders gut ablesen. Bei der Präsidentschaftswahl gingen hier 82 Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen Stimmberechtigten zur Wahl. Im ersten Durchgang der Parlamentswahlen waren es nur noch 46 Prozent. Anderorts sieht es sehr ähnlich aus. 

Eine Remobilisierung auf der Ebene der Teilnahme an Wahlen versuchen nunmehr mehrere der Veranstalter des Sozialforums am vergangenen Wochenende. Allerdings nicht, indem sie wie in diesem Frühjahr zur Stimmabgabe für eine Kandidatin wie Ségolène Royal aufrufen, im Namen des Prinzips „Alles auber Sarkozy“. Vielmehr orientieren sie sich, im Hinblick auf die im März kommenden Jahres in ganz Frankreich stattfindenen Rathauswahlen, am Modell alternativer Kandidaturen oder „autonomer Listen“. Als Vorbild können die „Motivés“-Listen dienen, die sowohl in manchen Kernstädten (Toulouse und Rennes) als auch in einzelnen Pariser Trabantenstädten wie Bondy bei den letzten Kommunalwahlen im März 2001 über 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten. Das Prinzip dabei lautete, dass es kein Programm gebe, sondern die Bewohner der jeweiligen Kommunen selbst in einem „partizipativen Prozess“ das Programm ausarbeiten sollten.  

Vertreter der Listen aus Toulouse und aus Bondy, die heute in den dortigen Stadtparlamenten sitzen, bildeten denn auch bei der Veranstaltung zum Thema „Politisches Engagement“ am Freitag Abend das Podium. Dort zeigte sich aber auch die Begrenztheit dieses Ansatzes. Der Vertreter aus Bondy – Mohammed Mokrani - berichtete etwa, nach drei Jahren in der Opposition gehöre seine Liste nun der „Kommunalexekutive“ an. Dies brachte er zwar mit einem erfrischend vorgetragenen Erfahrungsbericht rüber: „Vorher wusste ich nicht mal, was eine Exekutive ist...“ Auf Nachfragen, welche positiven gesellschaftlichen Veränderungen diese lokale Regierungsbeteiligung bewirkt habe, musste er jedoch passen. Auch die übrigen Beiträge schienen sich eher auf die Methode zu beschränken, denn ein reales Projekt gesellschaftlicher Transformation zu beschreiben. Aus dem Publikum kam vielfach der Vorhalt, „politisches Engagement“ bedeute eben nicht nur Teilnahme an Wahlen, vieles Andere sei ebenfalls politisch. Die Debatte darum verlief jedoch eher zäh. Bei der Abschlussveranstaltung am Sonntag Nachmittag wiederum verkündeten die Hauptveranstalter des Sozialforums – das MIB (Mouvement de l’immigration et des banlieues) aus Paris, das Kollektiv MixCité aus Lyon sowie die Toulouser Motivés-Liste -, ihr Ziel sei es, bei den Kommunalwahlen von 2008 mit um die 30 „autonomen Listen“ anzutreten. 

Die übrigen Debatten zeichneten einen anderen Horizont der gesellschaftlichen Probleme in den Banlieues. Eine der besser besuchten Veranstaltungen drehte sich um „Polizei, Justiz und Gefängnis“, also namentlich um die Repression in den Trabantenstädten. Örtliche Initiativen lieferten erschütternde Berichte. Aufschlussreich war besonders die Erfahrung aus Dammaries-les-Lys, rund 30 Kilometer östlich von Paris. Dort war im Dezember 1997 der 16jährige Abdelkader, der – freilich ohne Führerschein – das Auto seiner Mutter fuhr, durch eine militarisierte Polizeieinheit gejagt und im Anschluss erschossen worden. Die Beamten hatten behauptet, aus Notwehr gehandelt zu haben, da der Wagen mit 140 km/h auf sie „zugeschossen“ sei. Die gerichtliche Rekonstruktion der Ereignisse ergab jedoch, dass das Fahrzeug eine Geschwindigkeit von nur 36 km/h hatte, als es auf die Beamten zufuhr,  von einem „Geschoss“ konnte also keine Rede sei. Die Polizisten wurden dennoch nach jahrelanger Verschleppung des Verfahrens freigesprochen. Daraufhin bildete sich eine örtliche Initiative von Jugendlichen, „Bouge qui bouge“. Als Sarkozy als frischgebackener Innenminister im Juni 2002 eine neue polizeiliche Eingreiftruppe „zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität“ in den Banlieue aufstellte, richtete deren erster Einsatz überhaupt sich gegen diese Initiative. Ihr Lokal wurde geschlossen und versiegelt. Später gewann die Gruppe ein Gerichtsverfahren, und nach dem Prozess sollten ihr die Schlüssel zu ihren Räumlichkeiten wieder ausgehändigt werden. Aber in der Nacht vor der Schlüsselübergabe brannte das Lokal auf mysteriöse Art vollständig aus.  

Dass solche Erzählungen über das Verhalten der Polizei keineswegs nur der Vergangenheit angehören, belegt die Aktualität. Am vorvergangenen Sonntag 17. Juni)  starb in einem Unterschichtsviertel innerhalb von Paris der 25jährigen Lamine Dieng, Franzose senegalesischer Herkunft, gegen 4 Uhr früh in einem Polizeifahrzeug. Bis zum heutigen Tag wurden der Familie die Eregebnisse der Autopsie noch nicht bekannt gegeben. Am vorigen Sonntag fand deshalb im östlichen Teil von Paris ein Schweigemarsch von 1.000 Bewohnern und jungen Leuten statt – die Szenen erinnern an Aufnahmen, wie man sie aus vielen Banlieues kennt. Auch von der Bühne des Sozialforums aus war zur Teilnahme aufgerufen worden. Dessen Teilnehmern konnten sich im Übrigen bei den eingeladenen Gästen aus den USA und Grobbritannien über historische und aktuelle Erfahrungen in diesen Ländern kundig machen. Insbesondere über jene der Black Panther-Bewegung - die mit dem Historiker Ahmad Rahman aus dem US-Bundesstaat Michigan, der für sein Engagement für die Black Panther Party 21 Jahre hinter Gittern verbracht hat, prominent war. Ramdan vertrat die Einschätzung, nicht die Militanz der Panthers sei es gewesen, die der Staat wirklich gefürchtet hatte: Aus den FBI-Berichten, die der Infiltrationsstrategie der US-Bundespolizei zur Zerstörung der Bewegung zugrunde lagen, gehe hervor, dass nicht die Zahl ihrer Gewehre die Behörden besorgte, sondern ihre Sozial- und Bildungsprogramme. Am härtesteten habe der Staat dort zugeschlagen, wo die Black Panthers aufgrund dieser Einrichtungen realen Einfluss in den Schwarzenvierteln errungen hatten, und nicht dort, wo die Zahl der abgegebenen Schüsse hoch gewesen sei. Daraus müsse man auch für die heutige Strategie Schlüsse ziehen. Im übrigen schilderten Ahmad Rahman aus den USA, aber auch der schwarze Brite vom Cilius Victor vom Monitoring Project (East London) ihre Erfahrungen mit der Einrichtung von Wachsamkeitskomitees, um die Polizei zu kontrollieren und öffentlich gegen Polizeigewalt zu mobilisieren. Ein Beispiel, aus dem man künftig auch in französischen Stadtteilen und Banlieues Lehren ziehen möchte. 

Am besten besucht, mit rund 300 TeilnehmerInnen, war die Debatte über Frauen in den Banlieues. Erfahrungsberichte der Aktivistinnen diverser Initiativen wechselten sich ab mit Kontroversen, insbesondere über die Frage des Kopftuchverbots durch die französische Regierung. Am Schluss der Diskussion vertraten aber Veranstalterinnen und Teilnehmerinnen überwiegend die Auffassung, dass man sich nicht unmittelbar auf eine gemeinsame Forderungsplattform einigen könne, da die Situationen der Bewohnerinnen in den Banlieues zu heterogen seien. Hingegen zog die Debatte über „Arbeit und Prekarität“ am Samstag Vormittag nur wenig Leute an. Nicht nur die Uhrzeit schien ungünstig zu sein. Auch hatte es den Anschein, dass die Fragen von Lohnarbeit und Klassenkampf für viele Teilnehmer nicht prioritär sind – weil diese Frage in ihrem Leben keine Rolle spielen würden? Wohl kaum, aber anscheinend werden sie nicht als zentrale, strukturierende Elemente eines kollektiven Widerstands betrachtet. Auch dies ist schlieblich nur eine Widerspiegelung der sozialen Realität.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 2.7.07 zur Veröffentlichung.

Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu haben sein.