War der jüngste Wahlsieg der französischen Konservativen unter
Nicolas Sarkozy eine Niederlage für die Menschen in den
Banlieues? Eine einfache Antwort darauf gibt es insofern
nicht, als die Gesellschaft in den Trabantenstädten an der
Peripherie der urbanen Ballungsräume vielschichtig und
keineswegs homogen ist. Auch manche Schichten der
Einwohnerschaft in den Banlieues, etwa die Bewohner der
Reihenhausviertel in Sichtweise der Hochhaus- oder
Plattenbausiedlungen, stimmten mehrheitlich für Sarkozy. In
jüngerer Vergangenheit wählten sie zum Teil sogar noch weiter
rechts.
Hingegen steht fest, dass viele Angehörige der sozialen
Unterklassen und namentlich die Nachfahren aus
Einwandererfamilien – von denen viele aus sozialen und
wirtschaftlichen Gründen in den Banlieues wohnen – den Ausgang
der letzten Wahlen wie eine Aggression wahrnehmen. Tatsächlich
dürften auch viele sozial besser situierte Franzosen nicht
zuletzt an sie gedacht haben, als sie ihre Stimme abgaben. Denn
viele Wähler Sarkozys stimmten eher gegen als für etwas: gegen
faule Arbeitslose, die in der „sozialen Hängematte“ liegen,
gegen zu oft streikende und „privilegierte“ öffentliche
Bedienstete, und eben auch gegen das „Gesindel“, gegen die
gefährlichen Klassen in den Banlieues. Als classes dangereuses
bezeichnete man dereinst noch das Proletariat, heute hingegen
erscheinen die subproletarisierten Schichten der
Trabantenstadtgesellschaft als solche. Auch wenn der Begriff als
solcher dafür nicht benutzt wird, denn es fehlt häufig schon an
der Wahrnehmung der „Banlieueproblematik“ als soziale Frage, als
Klassenfrage. Nicht sozioökonomische Faktoren erklären aus der
Sicht der Mehrheit der französischen Gesellschaft das
„Banlieueproblem“, das überwiegend als Gewaltproblem aufgefasst
wird, sondern allenfalls städtebauliche Ursachen wie die
Architektur. Wenn nicht gleich ihre Bewohner, vor allem die
Einwandererkinder unter ihnen, als Unruhestifter oder
potenzielle Kriminelle „von Natur aus“ wahrgenommen und selbst
zur Problemursache abgestempelt werden.
Angehörige von associations (also Bürgerinitiativen und
Sozialvereinigungen) ebenso wie politische AktivistInnen
versuchten nun am vergangenen Wochenende – 22. bis 24. Juni -,
die soziale und politische Dimension des „Banlieueproblems“
zurück auf die Tagesordnung zu bringen. Seit vielen Wochen war
das Forum social des quartiers populaires, das Sozialforum der
Viertel der kleinen Leute – mit letzteren sind überwiegend die
französischen Banlieues gemeint – in einer Reihe von Städten
vorbereitet worden. Das Gewerkschaftshaus der nördlich an Paris
angrenzenden Stadt Saint-Denis war dafür zur Verfügung gestellt
worden. Einige hundert Meter weiter war eine kleine Zeltstadt
aufgebaut worden, in Sichtweise des Grand Stade, wo die Fubball-Weltmeisterschaft
1998 mitten in der Banlieue ausgetragen worden war. Am selben
Ort, wo auch ein Teil der Veranstaltungen des Europäischen
Sozialforums von November 2003 stattgefunden hatte, wechselten
Esszelte, Fotoausstellungen, Informationsstände verschiedener
Initiativen und Debattenräume einander ab.
Kann man dieses besondere Sozialforum als einen Erfolg
bezeichnen? Allenfalls in Grenzen. Nicht nur, dass der am
Freitag Nachmittag einsetzende Regen den Aufbau der Zelte
erschwerte und das Freiluftgelände zeitweise in eine Matschwiese
verwandelte, und dass die teilweise Überforderung der
Organisatoren für Verzögerungen im Zeitablauf sorgte. Wichtiger
war, dass die Aktiven von Initiativen und politischen Gruppen
mehrheitlich unter sich blieben: Von den insgesamt einige
hundert TeilnehmerInnen dürfte die Mehrheit irgend einer
association, Frauengruppe oder Gewerkschaft angehören. Der
Ansturm durch die „einfachen“ Bewohner der Plattenbausiedlungen,
die am Nordrand von Saint-Denis in zwei bis drei Kilometern
Entfernung beginnen, blieb aus. Allenfalls Einzelne dürften aus
Neugier gekommen sein. Das ist auch kein Wunder, bilden doch
gerade die Unterschichtsiedlungen seit der Implosion der dort
früher stark verankerten französischen KP und eines Gutteils der
Arbeiterbewegung – die in den 80er Jahren schrittweise einsetzte
– ein politisches Vakuum. Das Misstrauen gehen gesellschaftliche
Utopien sitzt dort heute tief. Das Problem wurde am Wochenende
aufgeworfen, aber es bleibt gestellt.
Nicht immer in jüngster Zeit blieben die Banlieues von
politischer Passivität geprägt. Denn bei der diesjährigen
Präsidentschaftswahl wurden gerade in den Trabantenstädten, in
ihren subproletarischen Milieus und Einwandererfamilien
zahlreich, vor allem junge Wähler mobilisiert. Nach den Riots
vom November 2005 hatten zahllose frisch gegründete Initiativen
die jungen Bewohner der Banlieues dazu aufgerufen, sich nunmehr
aktiv in die Politik einzumischen – mit dem Stimmzettel. Da die
sozialen Ursachen für die Explosion vom vorvergangenen Herbst
nicht beseitigt worden seien, die militante Randale aber ihren
Mangel an Perspektiven im Hinblick auf reale Veränderungen
gezeigt habe, solle man nun als Wähler aktiv werden.
Tatsächlich haben viele Banlieuebewohner bei der
Präsidentschaftswahl im April eine manifeste
„Anti-Sarkozy-Stimme“ abgegeben. Denn die politische Problematik
hatte sich in hohem Mabe
rund um die Person des früheren Innenministers polarisiert: Pro
oder kontra Sarkozy erschien als die entscheidende Frage.
Dagegen blieb die Mobilisierung dann bei den Parlamentswahlen im
Juni ungleich schwächer. In Clichy-sous-Bois, jener Vorstadt 10
Kilometer östlich von Paris, von der im Oktober 2005 – aufgrund
eines Vorfalls im Zusammenhang mit Polizeigewalt – die
mehrwöchigen Unruhen in den Banlieues ausgingen, lässt sich dies
besonders gut ablesen. Bei der Präsidentschaftswahl gingen hier
82 Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen
Stimmberechtigten zur Wahl. Im ersten Durchgang der
Parlamentswahlen waren es nur noch 46 Prozent. Anderorts sieht
es sehr ähnlich aus.
Eine Remobilisierung auf der Ebene der Teilnahme an Wahlen
versuchen nunmehr mehrere der Veranstalter des Sozialforums am
vergangenen Wochenende. Allerdings nicht, indem sie wie in
diesem Frühjahr zur Stimmabgabe für eine Kandidatin wie Ségolène
Royal aufrufen, im Namen des Prinzips „Alles auber
Sarkozy“. Vielmehr orientieren sie sich, im Hinblick auf die im
März kommenden Jahres in ganz Frankreich stattfindenen
Rathauswahlen, am Modell alternativer Kandidaturen oder
„autonomer Listen“. Als Vorbild können die „Motivés“-Listen
dienen, die sowohl in manchen Kernstädten (Toulouse und Rennes)
als auch in einzelnen Pariser Trabantenstädten wie Bondy bei den
letzten Kommunalwahlen im März 2001 über 10 Prozent der Stimmen
auf sich vereinigten. Das Prinzip dabei lautete, dass es kein
Programm gebe, sondern die Bewohner der jeweiligen Kommunen
selbst in einem „partizipativen Prozess“ das Programm
ausarbeiten sollten.
Vertreter der Listen aus Toulouse und aus Bondy, die heute in
den dortigen Stadtparlamenten sitzen, bildeten denn auch bei der
Veranstaltung zum Thema „Politisches Engagement“ am Freitag
Abend das Podium. Dort zeigte sich aber auch die Begrenztheit
dieses Ansatzes. Der Vertreter aus Bondy – Mohammed Mokrani -
berichtete etwa, nach drei Jahren in der Opposition gehöre seine
Liste nun der „Kommunalexekutive“ an. Dies brachte er zwar mit
einem erfrischend vorgetragenen Erfahrungsbericht rüber: „Vorher
wusste ich nicht mal, was eine Exekutive ist...“ Auf Nachfragen,
welche positiven gesellschaftlichen Veränderungen diese lokale
Regierungsbeteiligung bewirkt habe, musste er jedoch passen.
Auch die übrigen Beiträge schienen sich eher auf die Methode zu
beschränken, denn ein reales Projekt gesellschaftlicher
Transformation zu beschreiben. Aus dem Publikum kam vielfach der
Vorhalt, „politisches Engagement“ bedeute eben nicht nur
Teilnahme an Wahlen, vieles Andere sei ebenfalls politisch. Die
Debatte darum verlief jedoch eher zäh. Bei der
Abschlussveranstaltung am Sonntag Nachmittag wiederum
verkündeten die Hauptveranstalter des Sozialforums – das MIB
(Mouvement de l’immigration et des banlieues) aus Paris, das
Kollektiv MixCité aus Lyon sowie die Toulouser Motivés-Liste -,
ihr Ziel sei es, bei den Kommunalwahlen von 2008 mit um die 30
„autonomen Listen“ anzutreten.
Die übrigen Debatten zeichneten einen anderen Horizont der
gesellschaftlichen Probleme in den Banlieues. Eine der besser
besuchten Veranstaltungen drehte sich um „Polizei, Justiz und
Gefängnis“, also namentlich um die Repression in den
Trabantenstädten. Örtliche Initiativen lieferten erschütternde
Berichte. Aufschlussreich war besonders die Erfahrung aus
Dammaries-les-Lys, rund 30 Kilometer östlich von Paris. Dort war
im Dezember 1997 der 16jährige Abdelkader, der – freilich ohne
Führerschein – das Auto seiner Mutter fuhr, durch eine
militarisierte Polizeieinheit gejagt und im Anschluss erschossen
worden. Die Beamten hatten behauptet, aus Notwehr gehandelt zu
haben, da der Wagen mit 140 km/h auf sie „zugeschossen“ sei. Die
gerichtliche Rekonstruktion der Ereignisse ergab jedoch, dass
das Fahrzeug eine Geschwindigkeit von nur 36 km/h hatte, als es
auf die Beamten zufuhr, von einem „Geschoss“ konnte also keine
Rede sei. Die Polizisten wurden dennoch nach jahrelanger
Verschleppung des Verfahrens freigesprochen. Daraufhin bildete
sich eine örtliche Initiative von Jugendlichen, „Bouge qui
bouge“. Als Sarkozy als frischgebackener Innenminister im Juni
2002 eine neue polizeiliche Eingreiftruppe „zur Bekämpfung von
schwerer Kriminalität“ in den Banlieue aufstellte, richtete
deren erster Einsatz überhaupt sich gegen diese Initiative. Ihr
Lokal wurde geschlossen und versiegelt. Später gewann die Gruppe
ein Gerichtsverfahren, und nach dem Prozess sollten ihr die
Schlüssel zu ihren Räumlichkeiten wieder ausgehändigt werden.
Aber in der Nacht vor der Schlüsselübergabe brannte das Lokal
auf mysteriöse Art vollständig aus.
Dass solche Erzählungen über das Verhalten der Polizei
keineswegs nur der Vergangenheit angehören, belegt die
Aktualität. Am vorvergangenen Sonntag 17. Juni) starb in einem
Unterschichtsviertel innerhalb von Paris der 25jährigen Lamine
Dieng, Franzose senegalesischer Herkunft, gegen 4 Uhr früh in
einem Polizeifahrzeug. Bis zum heutigen Tag wurden der Familie
die Eregebnisse der Autopsie noch nicht bekannt gegeben. Am
vorigen Sonntag fand deshalb im östlichen Teil von Paris ein
Schweigemarsch von 1.000 Bewohnern und jungen Leuten statt – die
Szenen erinnern an Aufnahmen, wie man sie aus vielen Banlieues
kennt. Auch von der Bühne des Sozialforums aus war zur Teilnahme
aufgerufen worden. Dessen Teilnehmern konnten sich im Übrigen
bei den eingeladenen Gästen aus den USA und Grobbritannien
über historische und aktuelle Erfahrungen in diesen Ländern
kundig machen. Insbesondere über jene der Black Panther-Bewegung
- die mit dem Historiker Ahmad Rahman aus dem US-Bundesstaat
Michigan, der für sein Engagement für die Black Panther Party 21
Jahre hinter Gittern verbracht hat, prominent war. Ramdan
vertrat die Einschätzung, nicht die Militanz der Panthers sei es
gewesen, die der Staat wirklich gefürchtet hatte: Aus den
FBI-Berichten, die der Infiltrationsstrategie der
US-Bundespolizei zur Zerstörung der Bewegung zugrunde lagen,
gehe hervor, dass nicht die Zahl ihrer Gewehre die Behörden
besorgte, sondern ihre Sozial- und Bildungsprogramme. Am
härtesteten habe der Staat dort zugeschlagen, wo die Black
Panthers aufgrund dieser Einrichtungen realen Einfluss in den
Schwarzenvierteln errungen hatten, und nicht dort, wo die Zahl
der abgegebenen Schüsse hoch gewesen sei. Daraus müsse man auch
für die heutige Strategie Schlüsse ziehen. Im übrigen
schilderten Ahmad Rahman aus den USA, aber auch der schwarze
Brite vom Cilius Victor vom Monitoring Project (East London)
ihre Erfahrungen mit der Einrichtung von Wachsamkeitskomitees,
um die Polizei zu kontrollieren und öffentlich gegen
Polizeigewalt zu mobilisieren. Ein Beispiel, aus dem man künftig
auch in französischen Stadtteilen und Banlieues Lehren ziehen
möchte.
Am
besten besucht, mit rund 300 TeilnehmerInnen, war die Debatte
über Frauen in den Banlieues. Erfahrungsberichte der
Aktivistinnen diverser Initiativen wechselten sich ab mit
Kontroversen, insbesondere über die Frage des Kopftuchverbots
durch die französische Regierung. Am Schluss der Diskussion
vertraten aber Veranstalterinnen und Teilnehmerinnen überwiegend
die Auffassung, dass man sich nicht unmittelbar auf eine
gemeinsame Forderungsplattform einigen könne, da die Situationen
der Bewohnerinnen in den Banlieues zu heterogen seien. Hingegen
zog die Debatte über „Arbeit und Prekarität“ am Samstag
Vormittag nur wenig Leute an. Nicht nur die Uhrzeit schien
ungünstig zu sein. Auch hatte es den Anschein, dass die Fragen
von Lohnarbeit und Klassenkampf für viele Teilnehmer nicht
prioritär sind – weil diese Frage in ihrem Leben keine Rolle
spielen würden? Wohl kaum, aber anscheinend werden sie nicht als
zentrale, strukturierende Elemente eines kollektiven Widerstands
betrachtet. Auch dies ist schlieblich
nur eine Widerspiegelung der sozialen Realität.
Editorische Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir von Autor am
2.7.07 zur Veröffentlichung.
Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus
und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid
wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch
erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu
haben sein.