Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich nach der zweiten Runde der Parlamentswahl:  Der FN muss betteln. Aber Marine Le  Pen bei fast 42 Prozent...
7-8/07

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Jüngst, in der Stichwahlrunde der französischen Parlamentswahlen (am 17. Juni), hatte der rechtsextreme Front National nur noch eine einzige Kandidatin im Rennen:  Marine Le Pen, die Tochter des Chefs. Als einzige Bewerberin ihrer Partei hatte sie die Hürde von 12,5 Prozent der eingetragenen Wahlberechtigten, das waren in diesem Jahr in vielen Wahlkreisen bis zu 21 Prozent der abgegebenen Stimmen, überspringen und in den zweiten Wahlgang einziehen können. Dies markiert einen historischen Tiefsstand, womit auch die „Schadenskapazität“ des FN aus Sicht des konservativ-liberalen Bürgerblocks sehr stark zurückging. (Also kein Grund zur Beunruhigung über die extreme Rechte mehr, aus konservativer Sicht?)  

Letztgenannte „Schadenskapazität“ hing bisher damit zusammen, dass der rechtsextreme FN seine Kandidaten auch in der Stichwahlrunde (dort, wo er die Hürde der erforderlichen Stimmenzahl nehmen konnte) neben denen des bürgerlichen rechten Lagers aufrecht erhielt, und dadurch Wahlsiege der Konservativ-Liberalen erheblich erschwerte, sofern diese sich nicht mit ihm  verbünden mochten. Aber das erstaunlich hohe Abschneiden der „überlebenden“ Kandidatin Marine Le Pen in „ihrem“ Wahlkreis -- im ehemaligen Bergbaurevier Pas-de-Calais nahe der belgischen Grenze – in  der Stichwahl belegt gleichzeitig, dass im rechtsextremen Potenzial noch immer erhebliche Kräfte schlummern. Und es weist darauf, dass die „Aus und Vorbei“-Rufe doch ziemlich voreilig gewesen sein könnten.

Der FN und die Stichwahlen  

Bei den Parlamentswahlen 1997 kam der FN noch in 131 Wahlkreisen in die Stichwahl,  und seine Präsenz  führte in 76 Fällen zu Dreierkonstellationen zwischen Linksparteien, Bürgerlich-Konservativen und FN. (76 von 79 Stichwahlen „zu dritt“ gingen damals auf die Anwesenheit des FN zurück; hingegen gab es in diesem Jahr 2007 nur eine einzige  Dreierkonstellation im zweiten Wahlgang, und diese hing mit dem christdemokratisch-liberalen MoDem als neuer Partei „zwischen Linker und Rechter“ zusammen.) Diese Konfiguration fiel grundsätzlich zu Ungunsten der bürgerlichen Rechten aus, da das traditionelle Links-versus-Rechts-Schema dadurch aufgebrochen wurde und es nunmehr auf ihrem rechten Flügel Konkurrenz gab. Es wird geschätzt, dass die bürgerliche Rechte dadurch bei den Wahlen von 1997 rund 60 Sitze verloren hat, was ihr damals, unter anderen Faktoren, den Wahlsieg kostete.
 Im Juni 2002, als der FN bei den Parlamentswahlen bereits zurückging, trotz vorausgehenden Triumphs bei der Präsidentschaftswahl, kamen seine Bewerber noch in 39 Fällen in die Stichwahl.

Die weitere Entwicklung wird selbstverständlich in hohem Mabe von der Gesamtentwicklung der gesellschftlichen Widersprüche unter der Präsidentschaft Sarkozy abhängen. Aber ist wohl vorschnell, nicht nur den nahenden Abschluss der politischen Karriere Jean-Marie Le Pens vorauszusagen - was aus Altersgründen nicht gar so schwer ist,  denn der Mann wurde am  vergangenen Mittwoch 79 Jahre alt -, sondern auch seiner Partei das „Ende“ zu prognostizieren. Wahrscheinlich schon: Die österreichische Erfahrung der Jahre 2002 bis 2006 hat erwiesen, dass auch eine extreme Rechte, die mehrere schwere Krisen, einen erheblichen Rückgang ihrer Wählerschaft und sogar eine Spaltung hinter sich hat, dadurch noch nicht von der Bildfläche verschwindet. Die beiden rechtsextremen Parteien in jenem Land, FPÖ und BZÖ, erhielten immerhin bei der Parlamentswahl vom 1. Oktober 2006 zusammen noch immer 15 Prozent der Stimmen (ein erheblich höherer Anteil als bei Wahlen in den beiden Jahren zuvor).  

Marine Le Pen rettet die Hoffnungen der extremen Rechten 

Als einzige Bewerberin des Front National konnte die Cheftochter Marine Le Pen in ihrem Wahlkreis Hénin-Beaumont, im früheren Bergbaurevier Pas-de-Calais, die magische Hürde überspringen, die die Teilnehmer am ersten Wahlgang von den in die zweite Runde einziehenden Bewerbern trennt. Dazu sind 12,5 Prozent erforderlich, nicht der abgegebenen gültigen Stimmen (wie man in deutschen Medien oft fälschlich liest), sondern der in die Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten. Das bedeutet, dass, je nach Wahlbeteiligung, 15 oder 18 Prozent oder auch mehr der abgegebenen Stimmen im ersten Durchgang erforderlich sein können. Die Wahlenthaltung war frankreichweit an diesem Sonntag auberordentlich hoch (39 Prozent), so dass die Hürde – in Prozentergebnissen gemessen - dieses Mal noch höher lag, bis zu 21 Prozent.  

Die Cheftochter hatte sich jenen Wahlkreis (in der industriellen Krisenzone in der Nähe von Lens) ausgesucht, wo der FN anders als fast überall sonst noch eine echte gesellschaftliche Verankerung vor Ort aufweist, konkrete soziale Probleme aufgreift und im Alltag sofort auf neu auftauchende Ereignisse zu reagieren vermag. Diese Zone bildet in gewisser Weise das „soziale Laboratorium“ des FN. Andernorts ist er dazu aber überhaupt nicht mehr in der Lage. Zu verdanken ist ihr Wahlerfolg also nicht hauptsächlich der Persönlichkeit Marine Le Pens, sondern der Kleinarbeit des örtlichen Kaders Steeve Briois, der im Juni 2002 in demselben Wahlkreis  wie jetzt „die Tocher“ antrat und jahrein, jahraus die örtliche Terrainarbeit verrichtet. Marine Le Pen selbst war 2002 im benachbarten Wahlkreis von Lens angetreten, und hatte dort 24,2 Prozent im ersten und gut 32 Prozent im zweiten Durchgang der damaligen Parlamentswahl erzielt. Beide Wahlkreise liegen direkt nebeneinander: Lens ist das 13., Hénin-Beuamont das 14. Wahldistrikt des Départements Pas-de-Calais. Ihr dortiges Wahlergebnis, zu einer Zeit, als Marine Le Pen bei weitem noch nicht so prominent (aufgrund ihrer Medienpräsenz) war wie heute und noch nicht als potenzielle Nachfolgerin ihres Vaters gehandelt wurde wie seit 2003, lag also sehr in der Nähe der jetzigen Gröbenordnung. Es erklärt sich weitaus eher aus der sozialen und politischen Konfiguration in dem fraglichen Gebiet als aus ihrer persönlichen „Leistung“.  

Zwischen den beiden Wahlgängen 

In „ihrem“ Wahlkreis erhielt Marine Le Pen in der ersten Runde am 10. Juni dieses Jahres 24,5 Prozent der Stimmen und lag damit um knappe 4 Prozent hinter dem bestplatzierten Bewerber: Albert Facon (28,2 %) aus den Reihen der französischen Sozialdemokratie, dem bisherigen Abgeordneten des Wahlkreises. Gegen ihn konnte sie nun in der zweiten Runde antreten. Aussichten darauf, in der Stichwahl aacht Tage später den Parlamentssitz zu erobern, konnte sie sich im Prinzip keine ausrechnen.  Die  Regionalzeitung  ‚La Voix du Nord’ (mit Sitz in Lille) schrieb bereits kurz nach dem ersten Wahlgang, Marine Le Pen habe ihr Stimmenpotenzial bereits voll ausgeschöpft, während ihr Gegenkandidat auf einen Stimmentransfer von allen übrigen (je nach  Sichtweise:   demokratischen bzw.  etablierten) Parteien bauen könne.   

Allerdings erhielt  Marine Le Pen in den Tagen vor der Stichwahl die Unterstützung zweier konservativer Prominenter, unter ihnen der frühere Leitartikler im ‚Figaro Magazine’ (und berüchtigte Reaktionär sowie langjährige Befürworter von Allianzen der politischen Rechten mit dem FN, etwa anlässlich der Regionalparlamentswahlen im März 1998) Alain Griotteray. Der Zweite im Bunde ist Michel Caldaguès, der ebenfalls  wie Griotteray aus nationalistischen Gründen in der Résistance aktiv war und später als gaullistischer Senator von Paris (d.h. Mitglied des parlamentarischen  Oberhauses, das dort die Hauptstadt vertritt) war. Caldaguès amtierte zudem bis im Jahr 2000 als neogaullistischer (RPR-)Bürgermeister  des 1. Arrondissements der Hauptstadt Paris, während Griotteray bis 2002 konservativ-liberaler (UDF-)Bürgermeister des bürgerlich geprägten Pariser Vororts Charenton war. Beide erklärten ihre Unterstützung für die Kandidatur Le Pens (Tochter), um die französische Nation vor dem Aufgehen in einem supranationalen Europa zu schützen. Griotteray und Caldaguès luden die „Cheftochter“ des FN zudem am 13. Juni, also genau zwischen den beiden Durchgängen der Parlamentswahl, in die von ihnen animierte Sendung auf ‚Radio Courtoisie’ ein. Bei diesem Radiosender, der im 16. Pariser Arrondissement ansässig ist, kommen unterschiedliche Strömungen der Rechten und extremen Rechten zu Wort.   

Auch der Europaparlaments-Abgeordnete der nationalkonservativen „Souveränisten“ Paul-Marie Coûteaux, der 2004   auf der durch Philippe de Villiers angeführten Liste ins  EP  gewählt wurde, rief aus ähnlichen Gründen zur  Stimmabgabe für Marine Le Pen auf. Das Unterstützerkomitee für die Kandidatin wurde zudem von einem enttäuschten Sozialdemokraten geleitet, Daniel Janssens, der während 17 Jahren Vorsitzender des PS-Ortsverbands von Laforest (einer  Kommune in der Nähe von  Lens, Douai und Hénin-Beaumont) war. Ferner war er 24 Jahre lang stellvertretender Bürgermeister von Laforest gewesen.  

Aber jenseits solcher Engagements von (mehr oder minder prominenten) Einzelpersonen hielten alle übrigen politischen Kräfte, im Prinzip, gegen die Kandidatur Marine Le Pens zusammen. Die  konservative Regierungspartei UMP erklärte zwar die Wahl Marine Le Pens für nicht wünschenswert und trat gegen sie ein, rief aber auch nicht explizit zur Stimmabgabe für ihren sozialdemokratischen Gegenkandidaten auf. Hingegen hatte ihr örtlicher Kandidat in der ersten Runde, Nesrédine Ramdani (der im ersten Wahlgang rund 13 Prozent erhielt), seinerseits erklärt, er persönlich stimme im zweiten Wahlgang für Albert  Facon. Der Kandidat des christdemokratisch-liberalen MoDem (ehemals UDF), Jean Urbaniak, rief seinerseits klar zur Stimmabgabe gegen Marine Le Pen auf.  

Ergebnis 

Und doch... Und doch erhielt Marine Le Pen in der Stichwahl mit 41,7 Prozent (auf  Wahlkreisebene) ein gewaltiges Ergebnis. An ihrem  Wahlerfolg, auch wenn er am Ende nicht von einem Sitz gekrönt war, gibt es nichts herumzudeuteln. Denn auch in absoluten Zahlen ausgedrückt, und nicht allein in Prozentanteilen gemessen, legt Marine Le Pen zwischen den beiden Runden der Wahl nochmals ordentlich zu.  Statt 10.593 Stimmen im ersten Durchgang erhält sie nunmehr, im zweiten Wahlgang, 17.107 Stimmen. In der Kommune Beaumont sammelt sie 52 Prozent der Stimmen, und im persönlichen Wahlbüro von Steeve Briois – des örtlichen Kaders, der ihr das Terrain bereitet hatte – in Hénin 53 Prozent.   

Das Gesamtergebnis deutet darauf hin, dass es dem Front National zwischen den beiden Wahlgängen gelungen sein muss, einen nicht unerheblichen Teil des  Publikums der bürgerlichen Parteien auf ihre Seite zu ziehen. Denn jene Wählerschaft in den sozialen Unterklassen, die für die extreme Rechte gewinnbar ist, dürfte sie von Anfang an für sich gehabt haben – diese Anhängerschaft dürfte wohl kaum erst  bürgerlich gestimmt haben. In einem kurz vor dem Stichwahltermin unter dem Titel „Marine Le Pen bewegt sich in erobertem Gebiet“ erschienen Artikel berichtet die Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ darüber, wie Marine Le Pen am Ausgang der Fabriken in „ihrem“ Wahlkreis ein  anscheinend höchst freundlicher Empfang bereitet wird. Allem Anschein nach hat es der FN zumindest in dieser einen Ecke Frankreichs – seinem  „sozialen Laboratorium“, wie der extra darüber gedrehte Film ‚Au pays des gueules noires’ (2004) feststellt – tatsächlich vermocht, sich real auch in den sozialen „Unterschichten“  inklusive einer prekarisierten Arbeiterschaft zu verankern. 

Die extreme Rechte jubelt und feiert ihren Wahlerfolg als eine Rettung ihrer Hoffnungen, auch wenn dies an vielen Orten eher dem Pfeifen im dunklen Wald ähneln mag. Die parteinahe Wochenzeitung ‚National Hebdo’ macht am Donnerstag danach (21. Juni) ihre Titelseite mit  den lakonischen Worten „Marine 42 %“ und einem Foto der Kandidatin auf. Diese selbst sprach in ihrer Erklärung am Wahlabend in Hénin-Beaumont von einer „immensen Hoffnungsbotschaft für die Zukunft“. Ihr Wahlergebnis habe gezeigt, dass der FN „das kleine Volk  gegen die Apparate, gegen die traditionellen Parteien sammeln“ könne. Und fuhr fort: „Die nationale Rückeroberung beginnt an diesem Abend von Hénin-Beaumont aus, von dieser Erde der kleinen Leute – ein Symbol.“ Zudem gab sie als nächstes Etappenziel die nächsten  Rathauswahlen (die in ganz Frankreich im März 2008 stattfinden) in Hénin-Beaumont aus. Auch ihr Vater Jean-Marie Le Pen sprach davon, dieses Ergebnis sei „vielversprechend für die Zukunft, sowohl auf lokaler Ebene als auch nationaler Ebene“. Mit den letzten Worten dürfte er vielleicht auch an die offene Frage der späteren Regelung seiner Nachfolge gedacht haben.   

Einstweilen plagen den Mann aber noch andere Sorgen. Zeitgleich mit dem Wahlergebnis von Hénin-Beaumont wurde ebenfalls bekannt,  dass Jean-Marie Le Pen eine Spendenkampagne unter dem Titel „SOS Front National“ lanciert habe. Darin richtet der Chef der rechtsextremen Partei sich an Privatleute, die er auf die dramatische finanzielle Situation des FN hinweist. Nicht nur, dass die staatliche Parteienfinanzierung für den Front National (die von den Stimmergebnissen bei den Parlamentswahlen abhängt: 1,63 pro Wähler und pro Jahr bis zur nächsten Wahl) künftig um 60 Prozent gegenüber dem bisherigen Stand reduziert wird, da er in diesem Jahr 1,1 Millionen Wähler hatte gegenüber 2,8 Millionen im Juni 2002. Zudem erhalten über 300 (von insgesamt 555) Parlamentskandidaten des FN keine Rückerstattung ihrer  Wahlkampfkosten, da sie dafür erforderlichen 5 Prozent  verfehlt haben. 

Und inzwischen wurde nun auch noch bekannt, dass der FN 8 Millionen Euro an vorgestreckten Wahlkampfkosten seinen eigenen Kandidaten wird zurückzahlen müssen. Wohl bekomm’s!

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 2.7.07 zur Veröffentlichung.

Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu haben sein.