Jüngst,
in der Stichwahlrunde der französischen Parlamentswahlen (am
17. Juni), hatte der rechtsextreme Front National nur noch
eine einzige Kandidatin im Rennen: Marine Le Pen, die Tochter
des Chefs. Als einzige Bewerberin ihrer Partei hatte sie die
Hürde von 12,5 Prozent der eingetragenen Wahlberechtigten, das
waren in diesem Jahr in vielen Wahlkreisen bis zu 21 Prozent
der abgegebenen Stimmen, überspringen und in den zweiten
Wahlgang einziehen können. Dies markiert einen historischen
Tiefsstand, womit auch die „Schadenskapazität“ des FN aus
Sicht des konservativ-liberalen Bürgerblocks sehr stark
zurückging. (Also kein Grund zur Beunruhigung über die extreme
Rechte mehr, aus konservativer Sicht?)
Letztgenannte „Schadenskapazität“ hing bisher damit zusammen,
dass der rechtsextreme FN seine Kandidaten auch in der
Stichwahlrunde (dort, wo er die Hürde der erforderlichen
Stimmenzahl nehmen konnte) neben denen des bürgerlichen rechten
Lagers aufrecht erhielt, und dadurch Wahlsiege der
Konservativ-Liberalen erheblich erschwerte, sofern diese sich
nicht mit ihm verbünden mochten. Aber das erstaunlich hohe
Abschneiden der „überlebenden“ Kandidatin Marine Le Pen in
„ihrem“ Wahlkreis -- im ehemaligen Bergbaurevier Pas-de-Calais
nahe der belgischen Grenze – in der Stichwahl belegt
gleichzeitig, dass im rechtsextremen Potenzial noch immer
erhebliche Kräfte schlummern. Und es weist darauf, dass die „Aus
und Vorbei“-Rufe doch ziemlich voreilig gewesen sein könnten.
Der FN und die Stichwahlen
Bei den Parlamentswahlen 1997 kam der FN noch in 131
Wahlkreisen in die Stichwahl, und seine Präsenz führte
in 76 Fällen zu Dreierkonstellationen zwischen
Linksparteien, Bürgerlich-Konservativen und FN. (76 von 79
Stichwahlen „zu dritt“ gingen damals auf die Anwesenheit
des FN zurück; hingegen gab es in diesem Jahr 2007 nur
eine einzige Dreierkonstellation im zweiten Wahlgang, und
diese hing mit dem christdemokratisch-liberalen MoDem als
neuer Partei „zwischen Linker und Rechter“ zusammen.)
Diese Konfiguration fiel grundsätzlich zu Ungunsten der
bürgerlichen Rechten aus, da das traditionelle
Links-versus-Rechts-Schema dadurch aufgebrochen wurde und
es nunmehr auf ihrem rechten Flügel Konkurrenz gab. Es
wird geschätzt, dass die bürgerliche Rechte dadurch bei
den Wahlen von 1997 rund 60 Sitze verloren hat, was ihr
damals, unter anderen Faktoren, den Wahlsieg kostete.
Im Juni 2002, als der FN bei den Parlamentswahlen bereits
zurückging, trotz vorausgehenden Triumphs bei der
Präsidentschaftswahl, kamen seine Bewerber noch in 39
Fällen in die Stichwahl.
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Die
weitere Entwicklung wird selbstverständlich in hohem Mabe
von der Gesamtentwicklung der gesellschftlichen Widersprüche
unter der Präsidentschaft Sarkozy abhängen. Aber ist wohl
vorschnell, nicht nur den nahenden Abschluss der politischen
Karriere Jean-Marie Le Pens vorauszusagen - was aus
Altersgründen nicht gar so schwer ist, denn der Mann wurde am
vergangenen Mittwoch 79 Jahre alt -, sondern auch seiner Partei
das „Ende“ zu prognostizieren. Wahrscheinlich schon: Die
österreichische Erfahrung der Jahre 2002 bis 2006 hat erwiesen,
dass auch eine extreme Rechte, die mehrere schwere Krisen, einen
erheblichen Rückgang ihrer Wählerschaft und sogar eine Spaltung
hinter sich hat, dadurch noch nicht von der Bildfläche
verschwindet. Die beiden rechtsextremen Parteien in jenem Land,
FPÖ und BZÖ, erhielten immerhin bei der Parlamentswahl vom 1.
Oktober 2006 zusammen noch immer 15 Prozent der Stimmen (ein
erheblich höherer Anteil als bei Wahlen in den beiden Jahren
zuvor).
Marine Le Pen rettet die Hoffnungen der extremen Rechten
Als
einzige Bewerberin des Front National konnte die Cheftochter
Marine Le Pen in ihrem Wahlkreis Hénin-Beaumont, im früheren
Bergbaurevier Pas-de-Calais, die magische Hürde überspringen,
die die Teilnehmer am ersten Wahlgang von den in die zweite
Runde einziehenden Bewerbern trennt. Dazu sind 12,5 Prozent
erforderlich, nicht der abgegebenen gültigen Stimmen (wie man in
deutschen Medien oft fälschlich liest), sondern der in die
Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten. Das bedeutet, dass,
je nach Wahlbeteiligung, 15 oder 18 Prozent oder auch mehr der
abgegebenen Stimmen im ersten Durchgang erforderlich sein
können. Die Wahlenthaltung war frankreichweit an diesem Sonntag
auberordentlich
hoch (39 Prozent), so dass die Hürde – in Prozentergebnissen
gemessen - dieses Mal noch höher lag, bis zu 21 Prozent.
Die
Cheftochter hatte sich jenen Wahlkreis (in der industriellen
Krisenzone in der Nähe von Lens) ausgesucht, wo der FN anders
als fast überall sonst noch eine echte gesellschaftliche
Verankerung vor Ort aufweist, konkrete soziale Probleme
aufgreift und im Alltag sofort auf neu auftauchende Ereignisse
zu reagieren vermag. Diese Zone bildet in gewisser Weise das
„soziale Laboratorium“ des FN. Andernorts ist er dazu aber
überhaupt nicht mehr in der Lage. Zu verdanken ist ihr
Wahlerfolg also nicht hauptsächlich der Persönlichkeit Marine Le
Pens, sondern der Kleinarbeit des örtlichen Kaders Steeve
Briois, der im Juni 2002 in demselben Wahlkreis wie jetzt „die
Tocher“ antrat und jahrein, jahraus die örtliche Terrainarbeit
verrichtet. Marine Le Pen selbst war 2002 im benachbarten
Wahlkreis von Lens angetreten, und hatte dort 24,2 Prozent im
ersten und gut 32 Prozent im zweiten Durchgang der damaligen
Parlamentswahl erzielt. Beide Wahlkreise liegen direkt
nebeneinander: Lens ist das 13., Hénin-Beuamont das 14.
Wahldistrikt des Départements Pas-de-Calais. Ihr dortiges
Wahlergebnis, zu einer Zeit, als Marine Le Pen bei weitem noch
nicht so prominent (aufgrund ihrer Medienpräsenz) war wie heute
und noch nicht als potenzielle Nachfolgerin ihres Vaters
gehandelt wurde wie seit 2003, lag also sehr in der Nähe der
jetzigen Gröbenordnung.
Es erklärt sich weitaus eher aus der sozialen und politischen
Konfiguration in dem fraglichen Gebiet als aus ihrer
persönlichen „Leistung“.
Zwischen den beiden Wahlgängen
In
„ihrem“ Wahlkreis erhielt Marine Le Pen in der ersten Runde am
10. Juni dieses Jahres 24,5 Prozent der Stimmen und lag damit um
knappe 4 Prozent hinter dem bestplatzierten Bewerber: Albert
Facon (28,2 %) aus den Reihen der französischen
Sozialdemokratie, dem bisherigen Abgeordneten des Wahlkreises.
Gegen ihn konnte sie nun in der zweiten Runde antreten.
Aussichten darauf, in der Stichwahl aacht Tage später den
Parlamentssitz zu erobern, konnte sie sich im Prinzip keine
ausrechnen. Die Regionalzeitung ‚La Voix du Nord’ (mit Sitz
in Lille) schrieb bereits kurz nach dem ersten Wahlgang, Marine
Le Pen habe ihr Stimmenpotenzial bereits voll ausgeschöpft,
während ihr Gegenkandidat auf einen Stimmentransfer von allen
übrigen (je nach Sichtweise: demokratischen bzw.
etablierten) Parteien bauen könne.
Allerdings erhielt Marine Le Pen in den Tagen vor der Stichwahl
die Unterstützung zweier konservativer Prominenter, unter ihnen
der frühere Leitartikler im ‚Figaro Magazine’ (und berüchtigte
Reaktionär sowie langjährige Befürworter von Allianzen der
politischen Rechten mit dem FN, etwa anlässlich der
Regionalparlamentswahlen im März 1998) Alain Griotteray. Der
Zweite im Bunde ist Michel Caldaguès, der ebenfalls wie
Griotteray aus nationalistischen Gründen in der Résistance aktiv
war und später als gaullistischer Senator von Paris (d.h.
Mitglied des parlamentarischen Oberhauses, das dort die
Hauptstadt vertritt) war. Caldaguès amtierte zudem bis im Jahr
2000 als neogaullistischer (RPR-)Bürgermeister des 1.
Arrondissements der Hauptstadt Paris, während Griotteray bis
2002 konservativ-liberaler (UDF-)Bürgermeister des bürgerlich
geprägten Pariser Vororts Charenton war. Beide erklärten ihre
Unterstützung für die Kandidatur Le Pens (Tochter), um die
französische Nation vor dem Aufgehen in einem supranationalen
Europa zu schützen. Griotteray und Caldaguès luden die
„Cheftochter“ des FN zudem am 13. Juni, also genau zwischen den
beiden Durchgängen der Parlamentswahl, in die von ihnen
animierte Sendung auf ‚Radio Courtoisie’ ein. Bei diesem
Radiosender, der im 16. Pariser Arrondissement ansässig ist,
kommen unterschiedliche Strömungen der Rechten und extremen
Rechten zu Wort.
Auch
der Europaparlaments-Abgeordnete der nationalkonservativen
„Souveränisten“ Paul-Marie Coûteaux, der 2004 auf der durch
Philippe de Villiers angeführten Liste ins EP gewählt wurde,
rief aus ähnlichen Gründen zur Stimmabgabe für Marine Le Pen
auf. Das Unterstützerkomitee für die Kandidatin wurde zudem von
einem enttäuschten Sozialdemokraten geleitet, Daniel Janssens,
der während 17 Jahren Vorsitzender des PS-Ortsverbands von
Laforest (einer Kommune in der Nähe von Lens, Douai und
Hénin-Beaumont) war. Ferner war er 24 Jahre lang
stellvertretender Bürgermeister von Laforest gewesen.
Aber
jenseits solcher Engagements von (mehr oder minder prominenten)
Einzelpersonen hielten alle übrigen politischen Kräfte, im
Prinzip, gegen die Kandidatur Marine Le Pens zusammen. Die
konservative Regierungspartei UMP erklärte zwar die Wahl Marine
Le Pens für nicht wünschenswert und trat gegen sie ein, rief
aber auch nicht explizit zur Stimmabgabe für ihren
sozialdemokratischen Gegenkandidaten auf. Hingegen hatte ihr
örtlicher Kandidat in der ersten Runde, Nesrédine Ramdani (der
im ersten Wahlgang rund 13 Prozent erhielt), seinerseits
erklärt, er persönlich stimme im zweiten Wahlgang für Albert
Facon. Der Kandidat des christdemokratisch-liberalen MoDem
(ehemals UDF), Jean Urbaniak, rief seinerseits klar zur
Stimmabgabe gegen Marine Le Pen auf.
Ergebnis
Und
doch... Und doch erhielt Marine Le Pen in der Stichwahl mit 41,7
Prozent (auf Wahlkreisebene) ein gewaltiges Ergebnis. An ihrem
Wahlerfolg, auch wenn er am Ende nicht von einem Sitz gekrönt
war, gibt es nichts herumzudeuteln. Denn auch in absoluten
Zahlen ausgedrückt, und nicht allein in Prozentanteilen
gemessen, legt Marine Le Pen zwischen den beiden Runden der Wahl
nochmals ordentlich zu. Statt 10.593 Stimmen im ersten
Durchgang erhält sie nunmehr, im zweiten Wahlgang, 17.107
Stimmen. In der Kommune Beaumont sammelt sie 52 Prozent der
Stimmen, und im persönlichen Wahlbüro von Steeve Briois – des
örtlichen Kaders, der ihr das Terrain bereitet hatte – in Hénin
53 Prozent.
Das
Gesamtergebnis deutet darauf hin, dass es dem Front National
zwischen den beiden Wahlgängen gelungen sein muss, einen nicht
unerheblichen Teil des Publikums der bürgerlichen Parteien auf
ihre Seite zu ziehen. Denn jene Wählerschaft in den sozialen
Unterklassen, die für die extreme Rechte gewinnbar ist, dürfte
sie von Anfang an für sich gehabt haben – diese Anhängerschaft
dürfte wohl kaum erst bürgerlich gestimmt haben. In einem kurz
vor dem Stichwahltermin unter dem Titel „Marine Le Pen bewegt
sich in erobertem Gebiet“ erschienen Artikel berichtet die
Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ darüber, wie Marine Le Pen am
Ausgang der Fabriken in „ihrem“ Wahlkreis ein anscheinend
höchst freundlicher Empfang bereitet wird. Allem Anschein nach
hat es der FN zumindest in dieser einen Ecke Frankreichs –
seinem „sozialen Laboratorium“, wie der extra darüber gedrehte
Film ‚Au pays des gueules noires’ (2004) feststellt –
tatsächlich vermocht, sich real auch in den sozialen
„Unterschichten“ inklusive einer prekarisierten Arbeiterschaft
zu verankern.
Die
extreme Rechte jubelt und feiert ihren Wahlerfolg als eine
Rettung ihrer Hoffnungen, auch wenn dies an vielen Orten eher
dem Pfeifen im dunklen Wald ähneln mag. Die parteinahe
Wochenzeitung ‚National Hebdo’ macht am Donnerstag danach (21.
Juni) ihre Titelseite mit den lakonischen Worten „Marine 42 %“
und einem Foto der Kandidatin auf. Diese selbst sprach in ihrer
Erklärung am Wahlabend in Hénin-Beaumont von einer „immensen
Hoffnungsbotschaft für die Zukunft“. Ihr Wahlergebnis habe
gezeigt, dass der FN „das kleine Volk gegen die Apparate, gegen
die traditionellen Parteien sammeln“ könne. Und fuhr fort: „Die
nationale Rückeroberung beginnt an diesem Abend von
Hénin-Beaumont aus, von dieser Erde der kleinen Leute – ein
Symbol.“ Zudem gab sie als nächstes Etappenziel die nächsten
Rathauswahlen (die in ganz Frankreich im März 2008 stattfinden)
in Hénin-Beaumont aus. Auch ihr Vater Jean-Marie Le Pen sprach
davon, dieses Ergebnis sei „vielversprechend für die Zukunft,
sowohl auf lokaler Ebene als auch nationaler Ebene“. Mit den
letzten Worten dürfte er vielleicht auch an die offene Frage der
späteren Regelung seiner Nachfolge gedacht haben.
Einstweilen plagen den Mann aber noch andere Sorgen. Zeitgleich
mit dem Wahlergebnis von Hénin-Beaumont wurde ebenfalls
bekannt, dass Jean-Marie Le Pen eine Spendenkampagne unter dem
Titel „SOS Front National“ lanciert habe. Darin richtet der Chef
der rechtsextremen Partei sich an Privatleute, die er auf die
dramatische finanzielle Situation des FN hinweist. Nicht nur,
dass die staatliche Parteienfinanzierung für den Front National
(die von den Stimmergebnissen bei den Parlamentswahlen abhängt:
1,63 pro Wähler und pro Jahr bis zur nächsten Wahl) künftig um
60 Prozent gegenüber dem bisherigen Stand reduziert wird, da er
in diesem Jahr 1,1 Millionen Wähler hatte gegenüber 2,8
Millionen im Juni 2002. Zudem erhalten über 300 (von insgesamt
555) Parlamentskandidaten des FN keine Rückerstattung ihrer
Wahlkampfkosten, da sie dafür erforderlichen 5 Prozent verfehlt
haben.
Und
inzwischen wurde nun auch noch bekannt, dass der FN 8 Millionen
Euro an vorgestreckten Wahlkampfkosten seinen eigenen Kandidaten
wird zurückzahlen müssen. Wohl bekomm’s!
Editorische Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir von Autor am
2.7.07 zur Veröffentlichung.
Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus
und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid
wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch
erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu
haben sein.