Peter Trotzig Kommentare zum Zeitgeschehen

Über Privatisierung und „Sozialstaat“

7-8/07

trend
onlinezeitung

Gibt man bei Google das Wort „Privatisierung“ ein und nimmt sich die Zeit ca. 20 Seiten durch zu blättern, so erkennt man schnell das ganze Ausmaß des Privatisierungswahns. Da steht wirklich alles zur Disposition:

Krankenhäuser
Kurbetriebe
Stadtreinigung
Wohnungen
Sparkassen
Häfen
Wälder/Forstflächen
Abfallwirtschaft
Flugsicherung
Bildungswesen
Messen
Arbeitslosenversicherung
ARD/ZDF
Wasserversorgung
Strafvollzug
Heer
Geheimdienste
(Diese Liste herausgefilterter Objekte der Privatisierung erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit.)

Mittlerweile macht sich sogar das Verfassungsgericht Sorgen über das Ausmaß der Privatisierung.:

„Karlsruher Verfassungsgespräch: Privatisierung öffentlicher Aufgaben
(rof) Das 7. Karlsruher Verfassungsgespräch findet am Dienstag, 22. Mai, um 19 Uhr im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts zu "Privatisierung öffentlicher Aufgaben - Gefahren für die Steuerungsfähigkeit des Staates und für das Gemeinwohl" statt. Nach der Einführung durch den Präsidenten des BVG, Prof. Hans- Jürgen Papier, und einem Grußwort von OB Heinz Fenrich moderiert der Chefredakteur des Westdeutschen Rundfunks, Jörg Schönenborn, die Podiumsdiskussion mit Klaus Bräuning, Bundesverband der Deutschen Industrie, Prof. Horst Hippler, Rektor der Universität Karlsruhe, Prof. Stefan Leibfried, Universität Bremen, Prof. Bernhard Nagel, Universität Kassel, Ministerpräsident Günther Oettinger und Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble.


Einlasskarten für Bürger gibt es am Freitag, 18. Mai, ab 8 Uhr an der Rathauspforte, pro Person gegen Vorlage des Personalausweises maximal zwei. Auch für die zweite Person ist der Personalausweis bzw. eine Kopie vorzulegen. Telefonische Reservierung ist nicht möglich.“

Man kann es als eine Orgie bezeichnen, die da organisiert wird. Alles soll dem Markt überantwortet werden! Das bedeutet, das der Profit des Einzelkapitals zum non plus ultra jeder gesellschaftlichen Entscheidung wird.

Begründet wird diese Orgie mit mehr Effizienz, besseren Service, mehr Fortschritt, mit billiger, billiger, billiger. Das alles zum Wohle des sogenannten Konsumenten, der vermeintlich oder tatsächlich danach schreit. Der Konsument ist Kunde und die „Kundenorientierung“ (siehe Qualitäts-Managementsysteme) scheinbar die oberste Selbstverpflichtung des Kapitals.

Den sozialen Preis dafür zahlen zunächst vor allem die unmittelbaren Produzenten. Billiger, billiger, billiger geht nur, wenn man aus jeder Arbeitskraft ein Optimum an Arbeit zu möglichst billigen Löhnen herausholt. Technik allein reicht dafür nicht. Im Gegenteil, die teure Technik verlangt für ihre Verwertung billige und allseits verfügbare Arbeitskraft, die man heuern und feuern kann. Also wird entlassen was das Zeug hält, werden Löhne gedrückt, Sozialleistungen gestrichen etc.

Bei näherem Hinsehen und manchmal auch erst nach einiger Zeit erweist sich jedoch die vermeintliche „Kundenorientierung“ als bloßer Rattenfängertrick, mit dem der Masse der Menschen die wohltätigen Zwecke des Kapitals vermittelt werden sollen. Am Schluss zahlt die Zeche auch der Konsument. Der König Kunde wird zum Bettlerkönig Kunde. Billig erweist sich dann als minderwertig, Massenmist eben, Schrott, für den es sich oft nicht lohnen würde auch nur eine Stunde zu arbeiten. Was billig bedeutet, das können wir etwa an den Lebensmitteln und der Kleidung sehen. Hoch belastet mit giftigen Stoffen etc. Massenmist ist aber auch die Überflutung der Welt mit Schadstoff spuckenden PKWs und LKWs (Edelschrott), mit Beta-Versionen von nicht ausgereifter Software, mit High-Tech-Plunder aller Art.

Schließlich und endlich wird auch der Service immer beschissener. Ahnungslose Menschen in Call-Centern, durchgereicht werden von einem zum anderen, etc. („König Kunde“ muss sich selbst helfen etwa in Gestalt der zahllosen Foren im Internet.) Aber dafür können wir uns immer mehr von dem Massenmist leisten und immer neue, phantastische Produkte bestaunen, deren Werbung uns ein Lebensgefühl vermittelt, als lebten wir im Schlaraffenland, allerdings nur, wenn wir Produkt x von Kapitalist y kaufen. Hauptsache der Rubel rollt.

Die Dummdreistigkeit mit der heute die wohltätigen, sozialen Zwecke des Kapitals verkündet werden, ist schon beeindruckend. Die soziale Bilanz wird jedoch immer verheerender, solange das Spiel anhält.

„Wenn ihr, die Lohnabhängigen, tut, was wir von euch verlangen, dann schaffen wir Arbeit und was Arbeit schafft, ist sozial.“ So die phantastische Massage. Ja, sie sind sozial, was die Interessen ihrer Klasse betrifft. Für die ist nämlich sozial, was wettbewerbsfähige Lohnarbeitsplätze schafft. Davon lässt es sich als Kapitalist gut leben. Von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen können aber die Lohnabhängigen nicht gut leben. Die zweifelhafte soziale Wohlfahrt, die für sie übrig bleibt, heißt buckeln bis das Kreuz schmerzt, im wahrsten Sinne des Wortes (Skeletterkrankungen zählen zu den häufigsten Ursachen von „Arbeitsunfähigkeit“, auch da, wo buckeln nur sitzen heißt). Die Wettbewerbsfähigkeit von Lohnarbeitsplätzen schließt eben soziale Wohlfahrt auf der einen Seite und soziales Elend auf der anderen ein.

Was lernen wir daraus? Zurück zum „Sozialstaat“, zu einem „sozial regulierten Kapitalismus“? Der „Sozialstaat“ ist genau so eine ideologische Erfindung, wie die „Kundenorientierung“ des Kapitals. Das Kapital ist nur sich selbst verpflichtet. Es ist Verwertung von Wert sonst nichts. Alle anderen Zwecke sind im fremd und wenn sie formuliert werden, dann dienen sie ausschließlich der Verdummung. Und so wenig das Kapital wirklich „kundenorientiert“ ist, so wenig ist „der Staat“ sozial und war es nie. Er war und ist stets ein Machtinstrument der herrschende Klasse zur Sicherung der Produktionsverhältnisse, Verkörperung von Rahmenbedingungen der historisch-spezifischen Form von Ausbeutung. (Hätte es den „Sozialstaat“ gegeben und wäre er mehr als ein Instrument, nämlich ein Subjekt, dann würde er sich wehren gegen das, was mit ihm geschieht.) Die konkreten Ausgestaltungen des Machtinstrumentes „Staat“ sind Produkt von Klassenauseinandersetzungen. Gestaltungsbefugnis haben die politisch Mächtigen, wie immer sie zu dieser Macht gekommen sind. In ihren Handlungen drücken sich Klasseninteressen und Klassenkompromisse aus. Was uns als angeblicher „Sozialstaat“ vorgegaukelt wird, war nichts anderes als eine ganze Reihe zugestandener sozialer Reformen, um schlimmeres, nämlich die Abschaffung des Privateigentums, zu verhindern. Diese sozialen Reformen waren nicht das originäre Produkt weitsichtiger, sozial und human eingestellter bürgerlicher Politiker, sondern Resultate eines Klassenkampfes, der sich über Jahrzehnte hinzog und teilweise mit blutiger Gewalt ausgetragen wurde. Diese Reformen sollten ausnahmslos den Klassenkampf beenden und eine soziale Partnerschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital begründen. Nicht zuletzt mit Hilfe dieser sozialen Reformen ist es im vorigen Jahrhundert gelungen die Kritik am kapitalistischen Privateigentum weitgehend zum Verstummen zu bringen. Darin, also in der Erkenntnis, das man dem Kommunismus das Wasser abgraben kann und muss, bestand die ganze Weitsichtigkeit der bürgerlichen Politiker seit Bismark.

Wo kein tatsächlicher oder vermeintlicher Kommunismus, da braucht es auch nicht mehr eine solche Weitsichtigkeit und also keinen „Sozialstaat“. Es gibt keine Kraft mehr, die den „Sozialstaat“, nämlich die zugestandenen sozialen Reformen, verteidigen könnte. Dafür aber gibt es um so mehr ökonomische Notwendigkeit ihn abzuschaffen. Es kann also problemlos umgesetzt werden, was „ökonomisch notwendig und vernünftig“ ist.

Man darf nicht vergessen, dass diese zugestandenen Reformen das Kapital bares Geld gekostet haben. In Deutschland wird beispielsweise die ganze gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften) aus den Beiträgen des Kapitals finanziert. Die kapitalistischen Unternehmen zahlen darüber hinaus ihre Beiträge zur Krankenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung. Wäre der Staat ein „Sozialstaat“ gewesen, dann hätte er seine eigene Verschuldung nicht zugelassen. Als „Sozialstaat“ hätte er im Zuge der sich ausdehnenden und sich konsolidierenden Massenarbeitslosigkeit die dafür verantwortlichen automatisch zur Kasse gebeten. Er hätte also die Beiträge der Kapitalisten zu den Sozialversicherungen genau in dem Umfang erhöht, indem die Massenarbeitslosigkeit Löcher in die Kassen riss. Solche Maßnahmen hätten wiederum den sich verschärfenden Klassengegensatz auf die Spitze getrieben, bis hin zur Entscheidung über das Privateigentum an Produktionsmitteln.

Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 zeigen überzyklisch ansteigende Massenarbeitslosigkeit und Unternehmenspleiten die krisenhafte Entwicklung der Kapitalverwertung an (Tendenzieller Fall der Profitrate). „Sozialpartnerschaft“ musste neu buchstabiert und eingeübt werden. Sie heißt jetzt „Wertschöpfungsgemeinschaft“ und ist ganz unverschnörkelt rein ökonomisch bestimmt. Die „Partnerschaft“ zwischen Lohnarbeit und Kapital basiert nun nicht mehr auf vom Kapital zugestandenen sozialen Reformen, sondern auf durch das Kapital selbstherrlich gesetzten Zielen: alles für den Profit und die Akkumulation. Damit die „Wertschöpfungsgemeinschaft“ funktioniert muss vor allem flexibilisiert werden und müssen sich die VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft ganz dem Wirken des Marktes unterwerfen. Sie müssen bereit sein so viel und solange zu arbeiten, wie es der Markt verlangt und sie müssen bereit sein, sich mit so wenig Geld zufrieden zu geben, wie es der Markt verlangt.

Privatisierung bedeutet nicht nur Demontage der „öffentlichen Daseinsvorsorge“ und der zugestandenen  Sozialreformen. Sie bedeutet auch, dass dem Kapital neue Wege der Verwertung eröffnet werden. Privatisierung bedeutet nicht nur „Beitragssenkung“ für die Profiteure des Vereins mit Namen bürgerliche Gesellschaft. Sie bedeutet auch, das der ganze Verein zur Ausbeutung frei gegeben wird. Der Privatisierungswahn des Neoliberalismus ist weit mehr als bloße Ideologie und Politik, wie uns manche linken Theoretiker in ihrem sozialreformistischen Bemühen um Bewahrung des Kapitalverhältnisses weiß machen wollen. In ihm drückt sich die objektive Entwicklungsgesetzlichkeit des Kapitals aus, die bürgerliche Gesellschaft immer intensiver zu durchdringen, der rastlosen Bewegung des Gewinnens neue Wege zu erschließen, ohne die das Kapital an sich selbst, seiner Überakkumulation ersticken würde. Aus diesem Grunde kann man den neoliberalen Privatisierungswahn auch nicht einfach abwählen. „Sozialstaat“ gibt es allenfalls wieder, wenn Lohnabhängige massenhaft für die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln streiten, sozusagen als Nebenprodukt des Kampfes zur Verwirklichung von Kommunismus.

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.