MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE
7-8/07

trend
onlinezeitung

KAPITEL X
KAREL KOSIK
Martin Hüttel

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A. ZUR STANDORTBESTIMMUNG KOSIKS ALS REPRÄSENTANTEN DER OPPOSITIONELLEN PHILOSOPHIE IN DEN SOZIALISTISCHEN LÄNDERN OSTEUROPAS

Die philosophische Diskussion in den sozialistischen Ländern Osteuropas basiert auf dem theoretischen Ansatz von Marx, Engels und Lenin. Dieser wird jedoch in unterschiedlicher Weise interpretiert. Eine erste Richtung versteht den dialektischen Materialismus vornehmlich im Kontext der herrschenden Staatsauffassung. Sie hat vor allem ein Interesse daran, die bestehenden Errungenschaften des realen Sozialismus systemkonform darzustellen. Die „Positivisten" wie auch die „Dialektiker4" haben hiergegen opponiert, indem sie bestimmte Seiten des dialektischen Materialismus als besonders wichtig erklären, indirekt aber dadurch zu vereinseitigter Weltanschauung gelangen. So verzichten die „Positivisten44 darauf, ihre sozialwissenschaftlichen Untersuchungen in eine umfassende Philosophiekonzeption zu integrieren. Die „Dialektiker" hingegen haben es nicht vermocht, ihre philosophische Konzeption im Zusammenhang mit der sozioökonomischen Realität und deren empirisch zu beobachtenden Veränderungen darzulegen.(1) Unter den „Dialektikern44 ist Kosik wohl einer der renommiertesten philosophischen Vertreter.(2) Er hat in journalistischen, essayistischen und wissenschaftlichen Schriften den Begriff der Dialektik in grundsätzlicher Weise thematisiert. Dabei beschränkt sich sein Einfluß nicht nur auf die Diskussion in der CSSR - er verstand sich selbst als Repräsentant des Prager Frühlings -,(3) Kosiks Einfluß macht sich auch in der Konzeption der jugoslawischen Zeitschrift „Praxis" geltend: dies zeigt insbesondere sein Aufsatz „Gramsci et la Philosophie de la Praxis"(4); ebenfalls in dieser Zeitschrift läßt " sich Kosiks Verbindung zu polnischen Philosophen belegen: 1968 hat er sich mit der Position von sechs relegierten Professoren der Universität Warschau (u.a. auch Kolakowski) solidarisch erklärt.(5) Auch im Westen ist Kosik nicht unbekannt. Seine Arbeiten wurden ins Deutsche, Französische, Italienische und Spanische übersetzt. Aufgrund der genannten Hinweise erscheint es angebracht, Kosiks Dialektikkonzeption exemplarisch zu untersuchen, nämlich als Modell dialektischen Denkens, wie es in den sozialistischen Ländern Osteuropas Mitte der sechziger Jahre verbreitet war und z.T. noch Gültigkeit besitzt.

Kennzeichnend für das Kosiksche Denken ist hierbei die Vereinigung vielfältiger Argumentationsebenen: so sucht er in „Dialektik des Konkreten" Dialektik nicht allein in erkenntnistheoretischer Hinsicht aufzuzeigen, sondern überdies auch in bezug auf das Alltagsdenken, die Ökonomie und die alltägliche Praxis. In seinem Aufsatz „Dialektik der Moral und Moral der Dialektik44 geht Kosik schließlich auch auf den ethischen Aspekt der Dialektikein.

Um die Argumentationsweise solch vielschichtiger Philosophie des näheren zu erklären, ist es m.E. angebracht, einen Aspekt des Kosikschen Dialek-tikverständnisses bevorzugt zu erörtern. Zur Begründung der Auswahl dieses Aspektes ist kurz auf das Anliegen seines Philosophierens einzugehen: Kosik versucht - sowohl gegenüber bürgerlichen Ansätzen als auch gegenüber vereinseitigten wissenschaftlichen Positionen im Bereich der sozialistischen Länder -, folgenden Aspekt der Marxschen Theorie zu aktualisieren: Es geht ihm darum, jedes Erkenntnisbemühen als einen spezifischen Zugang zur Wirklichkeit zu begreifen, d.h. eine Form von Umgestaltung: eine praktischkonkrete oder erkennend - rekonstruierende, wobei die praktische die Voraussetzung der erkennenden ist. Diesem Grundanliegen Kosiks sind alle Einzelanalysen untergeordnet. Entsprechend soll auch in der folgenden Darstellung der Dialektikkonzeption Kosiks der erkenntnistheoretische Aspekt im Mittelpunkt stehen.

B. DER ZENTRALE ERKENNTNISTHEORETISCHE ASPEKT DER „DIALEKTIK DES KONKRETEN" (1967)

Den erkenntnistheoretischcn Begriff der Dialektik erläutert Kosik vorab im Sinne von Marx. Dabei nimmt er sowohl auf das Methodenkapitel in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie44 Bezug als auch auf die im . „Kapital44 konkretisierte DialektikaufTassung. Diese konfrontiert Kosik mit Theoremen der Anthropologie, der Phänomenologie und der Philosophie der Praxis, wobei er bei so unterschiedlichen Theoretikern wie Lukäcs, Gramsci und Heidegger Anleihen macht.(6)

1. Kritik an pseudokonkreten Konzeptionen

Anlaß für die erkenntnistheoretischen Untersuchungen von Kosik ist die ideologische Befangenheit innerhalb der hochtechnisierten arbeitsteiligen Gesellschaft. Solche Befangenheit zeigt sich besonders im Alltagsdenken und der mit ihm einhergehenden Praxis, bildet sich aber auch in vereinseitigten Positionen der Wissenschaft und Kultur ab.

Diese generalisierende Betrachtungsweise bezieht Kosik sowohl auf das Alltagsdenken als auch auf die alltägliche Praxis. Er kann sich hierbei auf theoretische Überlegungen von Marx stützen, wie dieser sie im sogenannten Fetischismuskapitel programmatisch ausgeführt hat; darüber hinaus hat sich Marx im „Kapital" mit der Ideologiekritik des Alltagslebens nicht beschäftigt.

Solche Thematik wurde erst in neuerer Zeit Gegenstand der Forschung. Aufgrund der Komplexität dieses Gegenstandes hat die Wissenschaft auf diesem Gebiet freilich kaum mehr als erste Schritte gemacht: diesbezüglich sind neben Kosiks Arbeiten diejenigen von G. Lukäcs, P. Bourdieu, H. Lefebvre und Th. Leithäuser zu nennen.(7)

Im Unterschied zu Marx bezieht Kosik seine Analysen nicht nur auf die kapitalistischen Gesellschaften. Kosik greift den Kernpunkt der Marxschcn Analyse (gesellschaftliche Beziehungen erscheinen als Beziehungen von Sachen) auf und general isiert ihn im Blick auf alle hochtechnisierten arbeitsteiligen Gesellschaften, also auch auf die sozialistischen Gesellschaften Osteuropas, ökonomisch abgesichert wird diese Verallgemeinerung von Kosik freilich nicht. Er orientiert sich vielmehr am Alltagsdenken und der mit ihr einhergehenden Alltagspraxis. Diese versteht er im Kapitalismus wie auch im Sozialismus als pseudokonkret. Die Geltungsbereiche des Pseudokonkreten zählt er im einzelnen auf wie folgt: „die Welt der äußeren Erscheinungen, die sich an der Oberfläche der wirklichen, wesentlichen Prozesse abspielen ;/die Welt der Versorgung und Manipulation, d.h. die zum Fetisch erhobene Praxis der Menschen (die mit der revolutionär-kritischen Praxis der Menschheit nicht identisch ist);die Welt der geläufigen Vorstellungen, die eine Projektion der äußeren Erscheinungen in das Bewußtsein der Menschen und ein Gebilde der fetischisierenden Praxis, ideologische Formen ihrer Bewegung sind;die Welt der fixierten Objekte, die den Eindruck natürlicher Bedingungen machen und nicht unmittelbar als Ergebnisse der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen erkennbar sind."(8)

Alltagsdenken und Alltagspraxis erfassen die Wirklichkeit nicht hinreichend. Die Alltagspraxis gewährleistet nur ein vordergründiges Funktionieren des gesellschaftlichen Gesamtprozesses, das dazugehörige Denken erklärt diesen Prozeß keineswegs in wissenschaftlich hinreichender Weise: „die praktischen Träger der Verhältnisse mögen sich ebenso daheim fühlen wie ein Fisch im Wasser" - schreibt Kosik im Rekurs auf Marx. „Trotzdem sind die Erscheinungsformen, die den inneren Zusammenhängen entfremdet sind, in dieser Isoliertheit völlig unsinnig."(10)

Für wissenschaftliche Erkenntnis ist es nach Kosik unumgänglich, von der Erscheinungsebene, die die Oberfläche beschreibt, zum Wesen vorzudringen (Dialektik von Wesen und Erscheinung). Dies realisiert sich in der „Zweiteilung des Einen": „Erkenntnis verwirklicht sich als Trennung der Erscheinung vom Wesen, des Nebensächlichen vom Wesentlichen, denn nur durch diese Trennung kann sich ihr innerer Zusammenhang und damit der spezifische Charakter der Sache erweisen."(10)

Dienlich für diese Zweiteilung des Einen scheint Kosik im Bereich des Alltagsdenkens und der Alltagspraxis insbesondere der von Heidegger in die Philosophie eingebrachte Begriff der Sorge. Dieser bezeichne die subjektivistische Befangenheit, in welcher sich das Individuum mit dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß konfrontiert sieht. Solches Ideologem sei in der hochtechnisierten Gesellschaft besonders häufig anzutreffen, da deren Wesen nicht ohne weiteres einsichtig sei. Obgleich Heidegger den Begriff der Sorge ontologisch, nicht aber materialistisch fundiert habe, eigne er sich doch zur Beschreibung entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse. Er ermögliche es, die Marxsche Theorie in differenzierter Weise zu explizieren.

Hierauf bezieht sich denn auch Kosik, wenn er den Begriff der Sorge als Paradigma des alltäglichen Lebens bestimmt. Danach bedeutet Sorge: „i. die Verstocktheit des gesellschaftlichen Individuums in das System der gesellschaftlichen Beziehungen aufgrund seiner Engagiertheit und utilitären Praxis; 2. das Handeln dieses Individuums, das in seiner elementaren Gestalt als Fürsorgen und Besorgen in Erscheinung tritt; 3. das Subjekt des Handelns (besorgen und fürsorgen), das als Undifferenziertheit und Anonymität erscheint."(11)

Mithin vollzieht das in der Sorge befangene Denken die alltägliche Praxis als Manipulation. Die Verdinglichung der Welt erscheint als total. Vom Standpunkt Heideggers läßt sich solches Denken nur dann destruieren, wenn man der „uneigentlichen" Erscheinung das ihr korrelierende „eigentliche" Wesen der Sache zuordnet.

Für die Decouvrierung der Alltäglichkeit kann die Heideggersche Betrachtungsweise freilich nur partielle Hinweise geben. Sie macht eine ökonomische Untersuchung nicht überflüssig. Wissenschaftlich fundiert wurde diese erstmals in der klassischen englischen Ökonomie. Sie stellte präzis gesellschaftsbezogen die Frage: wie funktioniert das System der ökonomischen Beziehungen als Mechanismus und wie kann er in Gang gehalten werden?

Solche Fragestellung erkennt nach Kosik die Notwendigkeit an, die gesellschaftlichen Erscheinungen mittels eines theoretischen Modells zu erklären.

Sie impliziert ferner, daß die zahllosen chaotischen individuellen Aktionen, die scheinbar willkürlich und unberechenbar sind, sich auf eine Anzahl charakteristischer und typischer Bewegungen reduzieren lassen. Das führt zur Möglichkeit einer Quantifizierung und Mathematisierung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten,

Diese erste wissenschaftliche Untersuchung des Kapitalismus verblieb freilich einseitig, denn sie verstand die Ökonomie gleichsam als Selbstzweck. Der Mensch wurde nur als ein Bestandteil der Ökonomie aufgefaßt. Im Bestreben, soweit als möglich subjektivistische Denkweise zu vermeiden, wurde die objektive Realität letztlich verzerrt. Sie wurde als eine objekthafle Wirklichkeit, d.h. als eine Wirklichkeit der Objekte verstanden. Daß solch verdinglichter Begriff der Wirklichkeit vereinseitigt ist, zeigt sich für Kosik besonders bezüglich des ideologischen Überbaus: Wissenschaft, Kunst, Religion usw. lassen sich vom Standpunkt des Ökonomismus nur teilweise erklären.

Der Ökonomismus ist für Kosik nicht in der Lage, Wesen und Erscheinung zu vermitteln; weil er die Dialektik von Subjekt und Objekt (der Mensch ist Produkt und Produzent zugleich) vernachlässigt, bleibt er in seinem Festhalten am Objekt einseitig. Denselben Fehler, obwohl durch Vereinseitigung in umgekehrter Richtung - Verabsolutierung des Subjekts -, macht eine Konzeption, die von einem metaphysischen Vernunft- und Wissenschaftsbegriff ausgeht.

Ein solch metaphysischer Wissenschafts- und Vernunftbegriff ist für Kosik im neuzeitlichen Rationalismus seit R. Descartes angelegt. Dieser ging von der methodologischen Forderung aus, daß jegliche Erkenntnis in bezug auf ihren theoretischen Wahrheitsgehalt in Zweifel zu ziehen sei. Unbezweifelbar bleibe auf diese Weise lediglich das Bewußtsein des Zweifelns; dieses letzte Unbezweifelbare bezeichnet Descartes als res cogitans. Sie ist ihm Garant für wissenschaftlich begründete Erkenntnis.

Der Vernunftbegriff von Descartes hat zwar, philosophiegeschichtlich betrachtet, Autorität und Tradition im Bereich der spätmittelalterlichen Philosophie kritisiert. Auf der anderen Seite läßt er außer acht, daß - wie Kosik es nennt - „das Individuum nicht nur ein Subjekt des Setzens, sondern auch seinerseits gesetzt ist, daß die Vernunft des atomisierten Individuums, sobald sie sich realisiert, notwendigerweise die Unvernunft produziert, weil sie von sich selbst als von etwas Unmittelbarem ausgeht und weder praktisch noch theoretisch die Totalität der Welt einschließt."(12)

Insbesondere unter kapitalistischen Verhältnissen habe sich die unabhängige Vernunft als „falsches Subjekt" erwiesen, „dessen Kraft, Macht und ....Vernunft wirklicher Subjekte gesellschaftlich handelnder Menschen genährt wird." (Text - eine Zeile - fehlt in der Vorlage; d. Scänner) Vom Standpunkt des Materialismus aus ist der Rationalismus insofern als theoretisch beschränkt anzusehen und die Vernunft als die Vernunft des gesellschaftlichen Subjekts zu begreifen: „die Vernünftigkeit seiner Vernunft besteht nicht darin, daß sie ohne Voraussetzungen ist, sondern darin, daß sie vernünftige Voraussetzungen als Voraussetzungen ihrer eigenen Vernünftigkeit einbezieht. Sie besitzt deshalb nicht die unmittelbare Evidenz der kartesianischen Vernunft, sondern ist vermittelt durch eine vernünftig gegliederte und vernünftig gebildete (gesellschaftliche) Wirklichkeit."(13)

Vereinseitigte Erkenntnis kann nach Kosik schließlich noch durch einen metaphysischen Begriff von Kultur bedingt sein, wie sie die sogenannte Faktorentheorie verkörpert. Diese bestimmt Kosik in Anlehnung an Labriola und Plechanov als unmarxistisch: Zwar anerkennt die Faktorentheorie die Bedeutung des ökonomischen für das Begreifen der sozialen Wirklichkeit. Sie mißt aber auch anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Geltung bei, die u.U. diejenige des ökonomischen übertrifft: So sei beispielsweise im Mittelalter der Katholizismus hauptsächlicher Faktor gewesen, in der Antike die Politik. Kennzeichnend für die Faktorentheorie ist in jedem Fall der Versuch, Teile der sozialen Wirklichkeit isoliert herauszugreifen und ihre gegenseitige Abhängigkeit von einem determinierenden Faktor aus zu erklären.

Eine solche Denkweise muß nach Kosik ideologiekritisch erklärt werden, was seiner Auffassung nach Labriola und Plechanov nicht geleistet haben. Für ihn ist die Faktorentheorie Ausdruck der Entwicklung, in welcher die Resultate der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen autonom verstanden werden.(14) Sie erscheinen dann als vom Menschen und seiner Tätigkeit unabhängige Kräfte.

Kritik an solcher Theoriekonzeption hält Kosik auch gegenüber Max Weber für angebracht, dessen pluralistischer Determinismus sich letzlich auf die Faktorentheorie reduzieren lasse. Für Weber bilden die sozialen Determinanten Ökonomie, Macht und soziale Stellung eine gleichsam überhistorische Existenz. Daß diese tatsächlich immer innerhalb und aufgrund einer bestimmten ökonomischen Formation bestehen, läßt Weber außer Betracht.

Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus ist die soziale Wirklichkeit nicht durch die Faktorentheorie zu erklären. Zwar mag die Faktorentheorie zur Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene geeignet sein. Sie vermag aber nicht die unterschiedliche Bewertung sozialer Teilbereiche im Verlauf der Geschichte einsichtig zu machen. Der dialektische Materialismus kann u.a. solche Bedeutungsverschiebung, wie sie auf der Erscheinungsebene sichtbar wird, hinreichend begründen, indem er durch die Erklärung der Besonderheit den Geschichtsprozeß als solchen erfaßt. Kosik schreibt:

„Die Faktorentheorie kehrt die gesellschaftliche Bewegung völlig um, denn sie sieht als Träger der gesellschaftlichen Entwicklung isolierte Produkte der gegenständlichen oder geistigen Praxis des Menschen an, obwohl der einzige wirkliche Träger der gesellschaftlichen Bewegung der Mensch im Prozeß der Produktion und Reproduktion seines gesellschaftlichen Lebens ist."(15) Soziale Umwertungsprozesse sind demzufolge nicht primär als das Ergebnis subjektiver Bewertung anzusehen, sondern als Reflex auf objektive Veränderungen im Bereich der ökonomischen Struktur.

2. Die dialektisch-materialistische Betrachtung der Realität

Nach Kosik ist für das Zustandekommen von Erkenntnis die Metaphysik des Alltagslebens, der Wissenschaft und Vernunft und auch diejenige der Kultur hinderlich. Die Wirklichkeit könne nicht von einem idealistischen Prinzip her begriffen werden, wie dies Descartes mit seiner res cogitans befürwortet. Selbst ein dialektisches Prinzip wie dasjenige von Hegel ermögliche nicht, die Wirklichkeit angemessen zu begreifen. Unabdingbar für die Erkenntnis im Sinne der marxistischen Klassiker sei vielmehr, von den sinnlich vermittelten Daten auszugehen. Die Eigenheit einer dialektisch-materialistischen Position sucht Kosik hierbei in der Unterscheidung gegenüber undialektischen Konzeptionen des Materialismus aufzuzeigen.

Eine solch undialektische Position vertritt u.a. der Spinozismus. Dieser beläßt es bei einer Reduktion der sinnlichen Eindrücke auf abstrakte Begrifflichkeit. Für Spinoza ist alles Konkrete und Einmalige illusorisch, der ganze Reichtum der Wirklichkeit sei vielmehr im Hinblick auf etwas Grundlegendes und Elementares zu begreifen: die unveränderliche Substanz. Ähnlich abstrakt verbleibt nach Kosik auch der moderne Positivismus. Dieser versteht die Realität als eine Welt der idealisierten realen Werte, des Ausgebreitetseins, der Quantität, der Meßbarkeit und der geometrischen Formen. Eine solche Reduktion vermag indes die alltägliche Welt des Menschen nicht angemessen zu verstehen. Dessen Dasein könne der moderne Positivist nur in der Form abstrahierender Aktivität bestimmen. Ihm gelte der Mensch nur mehr als Physiker, Statistiker, Mathematiker, Linguist, „keineswegs aber mit allen seinen Potenzen, keineswegs als ganzer Mensch."(16)

Nach Kosik darf die Materie demgegenüber nicht als unwandelbare Substanz angesehen werden. Falsch ist jedoch auch eine Auffassung von marxistischer Theorie, die sich letzlich als eine Modifikation des spinozisti-schen Standpunktes erweist: danach ist die Welt der Erscheinung als dynamisierte Substanz zu verstehen. Das Erkennen der Substanz bedeutet ...... Erkenntnis der Gesetze, nach denen sich die Sache selbst bewegt.(Text - eine Zeile - fehlt in der Vorlage; d. Scänner)  Solche Auffassung versteht unter Dynamik eine Äußerlichkeit der Sache selbst, eine Phase, Form und Aspekt derselben. Auch dieses Theorem reduziert letzlich alles Neue auf Bedingungen und Voraussetzungen, die schon der ursprünglichen Sache zu eigen waren.

Dieser Standpunkt ist nach Kosik insofern verfehlt, als er das Neue als etwas Äußerliches erklären muß, selbst dann, wenn das Neue dem Alten wesensfremd ist. Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus ist hingegen die Wirklichkeit nicht als unwandelbare oder auch dynamisierte Substanz anzusehen. Der Materiebegriff des dialektischen Materialismus hat andere Qualität, nämlich die der Negativität. Sie besitzt die Fähigkeit, neue Qualitäten und höhere Entwicklungsstufen hervorzubringen: „Wenn die Materie als Negativität aufgefaßt wird, hört die wissenschaftliche Erklärung auf, eine Reduktion zu sein, ein Zurückführen des Neuen auf seine Voraussetzungen, der konkreten Erscheinungen auf eine abstrakte Basis, und wird zur Explikation der Erscheinungen. Die Wirklichkeit läßt sich nicht durch Reduktion auf etwas anderes als sie selbst erklären, sondern nur durch die Explikation ihrer selbst, durch Entfaltung und Durchleuchtung ihrer Phasen und ihrer Bewegungen."(17)

Im Gegensatz zum Spinozismus und zum modernen Positivismus reduziert der dialektische Materialismus nicht die Daseinsfülle auf eine abstrakte Substanz hin. Vielmehr spricht er der Materie Negativität zu, die wesensmäßige Veränderungen der Wirklichkeit erst rational erklärt. Dieses dialektische Materieverständnis setzt die Realdialektik als Grundlage aller menschlichen Erkenntnistätigkeit voraus. Der Begriff der Negativität selbst hat für den dialektisch-materialistischen Erkenntnisprozeß große Bedeutung, denn er kennzeichnet, wie die abstrakte Begrifflichkeit hin zu einem Gedankenkonkretum zu strukturieren ist. Dieser konstruktive, „aufsteigende" Erkenntnisschritt entspricht der Realdialektik. Kosik schreibt: „Wenn die Wirklichkeit ein dialektisches, strukturiertes Ganzes ist, kann die konkrete Erkenntnis der Wirklichkeit kein systematisches Aneinanderreihen von Fakten an Fakten und von Erkenntnissen an Erkenntnisse sein, nur ein Prozeß der Konkretisierung, der vom Ganzen zu den Teilen und von den Teilen zum Ganzen, von der Erscheinung zum Wesen und vom Wesen zu den Erscheinungen, von der Totalität zu den Gegensätzen und von den Gegensätzen zur Totalität fortschreitet, und eben in diesem spiralförmigen Fortgang, bei dem alle Begriffe in gegenseitige Bewegung geraten und sich gegenseitig erläutern, erreicht sie ihre Konkretheit."(18) Das Resultat des dialektisch-materialistischen Erkenntnisprozesses zeichnet sich dadurch aus, daß die Realität nicht vereinseitigt, sondern als konkrete Totalität begriffen ist.

3. Der Begriff der konkreten Totalität

Um das Kosiksche Dialektikmodell zusammenfassend zu erörtern, ist nunmehr noch auf den für Kosik zentralen Begriff der konkreten Totalität einzugehen. Diesen Begriff verwendet Kosik konträr zu demjenigen der Pseudokonkretheit: im Gegensatz zu vereinseitigt bestimmter Erkenntnis bezeichnet konkrete Totalität die dialektisch begriffene Wirklichkeit.

Eine falsche Auffassung von Totalität besteht dort, wo dieser Begriff auf ein methodologisches Postulat reduziert wird, beziehungsweise auf eine methodische Rege! zur Prüfung der Wirklichkeit. Solche Auflassung beschränkt sich darauf, Totalität dahingehend zu erklären, daß ein universaler Zusammenhang zwischen den Teilen bestehe, wobei das Ganze mehr sei als die Teile.

Nach Kosik sind für den dialektischen Materialismus indes methodologische Fragen nicht das Primäre, sondern vielmehr die sinnlich vermittelte Realität. Erst im nachhinein, wenngleich untrennbar verbunden, lassen sich hieraus methodologische und epistemologische Folgerungen ableiten. Kosik schreibt: „Der Frage, wie man die Wirklichkeit erkennen könne, geht immer die fundamentalere Frage voraus, was die Wirklichkeit sei."(19)

Um die Besonderheit des Marxschen Totalitätsbegriffs zu explizieren, kritisiert Kosik außerdem einen Einwand Poppers. Für Popper konstituiert sich die Wirklichkeit aus der Summe aller Fakten. Um die Wirklichkeit konkret zu begreifen, müßte die Gesamtheit aller Fakten zusammengefaßt werden. Das ist aber, wie leicht einzusehen ist, unmöglich. Prinzipiell lassen sich nämlich endlos Fakten aneinanderreihen, indem man etwa auf bislang außer acht gelassene zurückgreift oder auf noch nicht entdeckte Fakten Bezug nimmt. Popper folgert daraus, daß die Realität immer nur abstrakt, niemals konkret erfaßt werden kann und daß eine empirisch gehaltvolle Theorie der Realität niemals als Inbegriff aller denkbaren Bestimmungen und Beziehungen aufgefaßt werden könne. Dies sei u.a. auch gegen den Marxschen Begriff der Totalität vorzubringen. Nach Poppers Auffassung täuscht dieser Begriff nur vor, „die konkrete Struktur der sozialen Realität selbst" zu erfassen.(20)

Wie Kosik aufzeigt, unterscheidet sich der Totalitätsbegriff von Marx grundlegend von demjenigen Poppers: für Popper ist „konkrete Totalität" die Summe aller Fakten, wohingegen für Marx das Konkrete die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, d.h. „Einheit des Mannigfaltigen."(21) Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus ist die konkrete Totalität nicht eine abgeschlossene Universalbeschreibung und Universalerklärung. „Totalität," schreibt Kosik, „bedeutet die Wirklichkeit als strukturiertes, dialektisches Ganzes, in welchem und aus welchem beliebige Fakten (eine Gruppe, ein Komplex von Fakten) rational begriffen werden können."(22) Nach Kosik konkretisiert sich dieser Begriff von Totalität in der wechselseitigen Beziehung von Gesetzmäßigkeit und Zufälligkeit, von Wesen und Erscheinung, von Teilen und Ganzem, vom Produzieren und den Produkten usw. Auf diese Weise spiegelt jedes Faktum „durch sein ontologisches Wesen die gesamte Wirklichkeit wider, und die objektive Bedeutung der Fakten hängt davon ab, wie reich und wie wesentlich sie die Wirklichkeit zusammenfassen und gleichzeitig widerspiegeln ... Die Wirklichkeit ist in gewissem Sinne nichts anderes als eine Zusammenfassung von Fakten, eine hierarchisierte und gegliederte Totalität von Fakten."(23)

Erst eine solche genetisch-dynamische Auffassung der Totalität begreift die Wirklichkeit angemessen. Sie vereinigt den logischen und historischen Gesichtspunkt bei der Erkenntnis der Wirklichkeit. Die logische Methode zeigt, wo die historische anzusetzen hat. Umgekehrt ergänzt die historische Methode die logische, von der sie ausgeht.(24)

C. KRITIK DES KOSIKSCHEN DIALEKTIK-MODELLS ALS ABSTRAKT-ALLGEMEIN, HUMANISTISCH-VAGE UND EKLEKTIZISTISCH

Obgleich in der bisherigen Darstellung die Konzeption Kosiks nur von dem zentralen Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie aus wiedergegeben wurde, läßt sich trotz dieser Beschränkung die Argumentationsweise Kosiks deutlichmachen. Kosiks Hauptanliegen ist es, die Sache selbst zu erkennen, indem man Erscheinung und Wesen als dialektisch in sich unterschiedene Einheit begreift. Der Weg hierzu ist die Destruktion der Pseudokonkretheit. Sie vollzieht sich, von seinem Beitrag zur Lösung dieses Problems aus gesehen, als „dialektisches Denken, das die fetischisicrte Welt des Scheins auflöst, um zur Wirklichkeit und zur .Sache selbst' durchdringen zu können." Die Realisierung der Wahrheit als Gestaltung der menschlichen Wirklichkeit ist vom gesellschaftlich-historischen Individuum eigenverantwortlich zu leisten: „Jedes Individuum muß seihst und ohne Stellvertretung sich die Kultur aneignen und sein Leben loben." Als „revolutionär-kritische Praxis der Menschheit" ist diese identisch mit dem „Prozeß der .Vermenschlichung des Menschen,' dessen entscheidende Etappen die sozialen Revolutionen sind."(25)

Um den Begriff der Dialektik zu erläutern, greift Kosik auf eine ganze Reihe von Theoremen zurück. Diese können, wie oben gezeigt, verschiedenster Provenienz sein. Je nach Gesichtspunkt zeigt Kosik Analogien oder auch Differenzen zwischen dem dialektischen Materialismus und dem Positivismus, der Phänomenologie, der Anthropologie, dem Existentialismus, ja sogar der christlichen Theologie auf. Dabei erkennt Kosik durchaus das theoretische Niveau und die formallogische Differenziertheit solcher Richtungen an. Dies gilt vor allem in bezug auf Heidegger, der ja über Marcuse und Sartre auch in den sozialistischen Ländern Osteuropas eine breite Resonanz gefunden hat. Durch eine kritische Rezeption im Sinne des dialektischen Materialismus meint Kosik, den bestehenden Marxismus-Leninismus in der CSSR aus provinzieller Enge führen zu können.(26)

In der Auseinandersetzung mit bürgerlicher Philosophie bleibt Kosik auf abstrakt-allgemeiner Ebene, indem er die Grundzüge des jeweiligen Ansatzes skizziert und ihn dann an allgemein-philosophischen Kriterien mißt. Hierbei wird der jeweilige Wirklichkeitsbegriff untersucht, das jeweilige Verhältnis von Subjekt und Objekt, das jeweilige Verständnis von Totalität usw. Bei dieser Ausseinandersetzung kommt Kosik weder zu einer detaillierten immanenten Kritik noch zu einer ideologiekritischen Analyse. Auf diese Weise verwischen sich für ihn die Unterschiede zwischen bürgerlichen Theorien und materialistischer Dialektik. Dies zeigt sich besonders deutlich in seiner Generalisierung der Analyse des Warenfetischismus. Es zeigt sich ferner auch dort, wo er anthropologische Fragen reflektiert. Kosik fordert zwar historisch-konkrete Betrachtung, seine eigenen Überlegungen lösen diesen Anspruch indes nicht ein. Über der Frage nach dem Menschen (als solchem, bzw. in jeder geschichtlichen Gestalt) vernachlässigt er empirisch fundierte sozioökonomische Untersuchung. Der Bezug auf den Menschen bleibt vage. Er führt zwar über die Begrenztheit der philosophischen Konzeptionen in den sozialistischen Ländern Osteuropas hinaus, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren bestand, aber er bietet keine konkrete gesellschaftlich-politische Zielbestimmung.

Die Bedeutung, die der Anthropologie beigemessen wird, hat auch zur Folge, daß das Historische immer nur abstrakt bestimmt, niemals aber inhaltlich näher gefaßt wird. Im abschließenden Resümee seines Dialektikbegriffs schreibt Kosik: „Der Dialektik geht es um ,die Sache selbst.' Aber ,die Sache selbst' ist keine gewöhnliche Sache, sie ist sogar überhaupt keine Sache. .Die Sache selbst,' mit der sich die Philosophie befaßt, ist der Mensch und seine Stellung im Weltall, oder, was mit anderen Worten dasselbe ausdrückt: die Totalität der Welt, die vom Menschen in der Geschichte enthüllt wird, und der in der Totalität der Welt existierende Mensch."(27)

Zusammenfassend kann man sagen, daß Kosik immer wieder außermarxistische Positionen benutzt - wenn nicht als Alternative so doch als Illustration -, um den Bedeutungsgehalt von Dialektik zu erklären. Bei ihm verwirren diese Verweise auch angesichts ihrer Vielzahl eher, als daß sie die Besonderheit von Dialektik im Sinne der marxistischen Theorie einsichtig machen. Alles in allem ist Kosiks Dialektikmodell eklektizistisch.

Neben diesem Vorbehalt gegen Kosik ist noch praxisbezogen zu bemängeln, daß Kosik in seinem Bemühen, die Sache selbst zu begreifen, nicht mehr nach der politischen Bedeutung und Funktion seiner Dialektikkonzeption fragt. Auf die konkreten sozioökonomischen Fragen, die sich beim Aufbau des Sozialismus in der CSSR stellen, geht er nicht ein. Kosiks Kritik am herrschenden Marxismus-Leninismus beruft sich zwar noch autoritativ auf die marxistischen Klassiker, interpretiert dieselben jedoch im Sinne kosmopolitischer Humanitätsideologie.

Anmerkungen

1) Fetscher, Zur gegenwärtigen Philosophie-Diskussion im Ostblock, S. 46.

2) Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 40; Theorie und Praxis, S. 281; Vranicki, Geschichte des Marxismus, vol. 2, S. 765-772.

3) Liehm, Gespräch an der Moldau, S. 330-348; Koslk, Die Krise unserer Gegenwart, S. 55-85.

4) Kosik, Gramsci et la Philosophie de la Praxis, S. 328-332.

5) Kosik, Solidarität, S. 305; Kosik u.a., Les Reponses des Membres du Comite de Soutien de Praxis, S. 477.

6) Pepperle, Rezension, S. 1124-1133.

7) Lukacs, Ästhetische Theorie; Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen; Lefebvre, Kritik des Alltagslebens; Leithäuser, Formen des Alllagsbewußtseins.

8) Kosik, Dialektik des Konkreten, S. 9.

9) a.a.O., S. 8.

10)  a.a.O., S. 13.

11) a.a.O., S. 64. ,

12) a.a.O., S. 98.

13) a.a.O., S. 97. _ '

14) a.a.O., S. 106-111.

15) a.a.O., S. 109.

16) a.a.O., S. 24.

17) a.a.O., S. 29 f.

18) a.a.O., S. 44.

19 a.a.O., S. 36.

20) a.a.O., S. 36; Poppcr, Das Elend des Historizismus, S. 63; Ritsert, Probleme politisch-ökonomischer Theoriebildung, S. 54-56.

21) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 21.

22) Kosik. Dialektik, S. 37.

23) a.a.O., S. 48.

24) a.a.O., S. 55.

25) a.a.O.. S. 18 f.

26) Liehm, Gespräch, S. 310-348; Kosik, Krise, S. 55-85.

27) Kosik, Dialektik, S. 247.

 

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 10. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 230-

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