Peter Trotzig Kommentare zum Zeitgeschehen
Privater Wohlstand und „öffentliche Armut“

(Urlaubseindrücke mit ein paar ausschweifenden Gedanken)

7/8-06

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Hinter mir liegt eine Woche Wanderurlaub im schönen Sauerland. Den ganzen Tag an der frischen Luft, herrlich! Übernachtet haben wir in Hotels und kleinen Pensionen. Die kleinen Ortschaften waren „wie aus dem Ei gepellt“. Wohin das Auge auch blickte, kleines, gediegenes Privateigentum. Schmucke Häuschen, entweder neu oder aufpoliertes Fachwerk. Da steckt „Kohle“ drin! Größere Ortschaften haben auch schon mal ein kleines „Villenviertel“, schön gelegen, oberhalb der Ortschaft, am Berghang. Keine Frage, hier wohnt „die Mitte der Gesellschaft“, ob Selbständige oder recht gut verdienenden Lohnabhängige.

 

Immer wieder ging mir der Gedanke durch den Kopf, welches Interesse Menschen, die hier leben, wohl an einer radikalen sozialen Umwälzung der Gesellschaft entwickeln sollten? Die Gesamtheit der Lebensumstände lässt sich aus dem Anblick des schmucken Eigentums kaum ablesen, aber auf materielle Not lässt das alles nicht schließen und damit auch nicht auf Notwendigkeit einer solchen Umwälzung.

 

Der ins Auge springende private Wohlstand soll nicht verwechselt werden mit dem überschießenden privaten Reichtum, der nach rentabler Geldanlage schreit, also mit Kapital, dass sich verwerten muss, aber er drückt ein außerordentlich hohes Konsumniveau aus, dass viele Wünsche zu befriedigen vermag oder für attraktive Ersatzbefriedigung sorgt. Dieser Wohlstand der „gesellschaftlichen Mitte“, um deren Gunst die Parteien werben, ist Produkt des Nachkriegskapitalismus. Erst die rapide steigende Zahl privater Insolvenzen zeigt an, dass dieser Wohlstand „abgetragen“ wird. Grundstücke und Häuser, der Inbegriff des Privateigentums des „kleinen Mannes“ geraten unter den Hammer und werden versteigert. Die „Mitte der Gesellschaft“ ist jedoch sehr breit und es bedarf großer Erschütterungen, diese Form des Privateigentums zu zerstören.

 

Das Sauerland steht in Deutschland nicht alleine da, es gibt einige solcher „kleinbürgerlichen Idyllen“, die die Menschen an eine Perspektive im Kapitalismus glauben lassen.

 

Unser Wanderweg endete in Dillenburg und von hier sollte es mit dem Zug zurück ins Ruhrgebiet gehen. Unser erster Zug sollte uns von Dillenburg nach Siegen bringen und von hier mit einem Anschlusszug (10 Min. später) direkt zu unserem Heimatort. Der Bahnhof war leer. Kein Servicepersonal weit und breit und die Anzeigetafeln waren ebenso leer. Null Information! Statt des Zuges kam dann eine Lautsprecheransage, dass der Zug ca. 15 Minuten Verspätung haben solle. Es kam, wie es kommen musste, als wir in Siegen ankamen, war der Anschlusszug weg. Wir konnten zwischen 2 anderen Zügen wählen. Auf denen einen, wiederum durchgehenden, Zug hätten wir ca. 50 Min. warten müssen. Der andere sollte mit nur 10 Min. Wartezeit nach Hagen fahren. Für den entschieden wir uns, in der Hoffnung auf Anschluss in Hagen. Dieser Zug hatte gerade 1 oder 2 Haltestellen hinter sich gelassen, als die Durchsage kam, der Zug würde in Kreuztal enden. Dort müssten wir in einen anderen Zug umsteigen. Auf dem Bahnhof in Siegen hatte es keine entsprechende Information gegeben! Der Bahnhof Kreuztal war eine echte Perle „öffentlicher Armut“, der dem viel geschmähten „Realsozialismus“ alle Ehre gemacht hatte. Verfallende Bahnsteige aus denen die Birken sprossen, stehende und zerstörte Uhren, vergammelte, verrostete Schilder usw. Ein wunderschöner Kontrast zwischen den blitz-blank geputzten Häuschen und diesem Bahnhof! Aber was red ich von „öffentlicher Armut“!? Die Bahn wird ja privatisiert! Die Bahn ist kein Verkehrssystem mehr sondern eine Geldanlage, die sich lohnen muss. Was interessieren die Anleger Bahnhöfe, Fahrpläne und Züge? Sie interessiert der Kurs der Wertpapiere, die sie kauften. Wenn der Kurs dieser Papiere es verlangt, das Strecken still gelegt werden, Service- und Reparaturpersonal „eingespart“ wird, dann geschieht das. Die „verdeckte“ Arbeitslosigkeit in Staatsbetrieben, wie es die Bahn mal war, wird rigoros in „offene“ Arbeitslosigkeit umgewandelt, von der man sich den „natürlichen Preis“ der Arbeit erhofft, nämlich Löhne, die allenfalls das Existenzminimum abdecken. Solange dieser Punkt nicht erreicht ist, werden die „faulen“ Arbeitslosen „motiviert“, indem ihnen die Leistungen gekürzt oder gestrichen werden. Da das Kapital eine Tendenz produziert, mehr Lohnarbeitsplätze zu vernichten als zu schaffen, produziert es aber auch eine dem entsprechende neue „verdeckte“ Arbeitslosigkeit: man rät den Lohnabhängigen zur „Selbständigkeit“, weil der Bedarf an Lohnarbeit schrumpft. Ein Kapital, dass nicht nach Lohnarbeit schreit, sondern sie für zu teuer erklärt und die „Selbständigkeit“ predigt, ist an Schranken seiner Verwertung gestoßen. Es entledigt sich damit seiner lästigen „sozialen Verpflichtung“ Lohnarbeitsplätze für die zu schaffen, die – außer vielleicht einem netten kleinen Häuschen - nichts besitzen als ihre Arbeitskraft.

 

Wenn Bahnhöfe eines ehemaligen Staatsbetriebes verrotten und es immer schwieriger wird mit der Bahn halbwegs pünktlich von Punkt A nach Punkt B zu kommen, dann handelt es sich dabei um unvermeidliche „Kollateralschäden“ von Privatisierung und Renditeerwartung. (England lässt grüßen.) Ein von mir geschätzter Kabarettist würde zu all dem wohl sagen: „Is’ ja ekelhaft! Aber was reg ich mich auf!?“

 

Die Aussicht auf soziale Revolution wird wohl erst in dem Maße realistischer werden, wie das Aussehen der Privathäuser des „kleinen Mannes“ sich dem Aussehen des Bahnhofs von Kreuztal annähert. Das Kapital arbeitet daran!

 

Apropos Kapital, zurück in der „segensreichen“ Privatwirtschaft, am ersten Arbeitstag, flattert mir per Email gleich eine zukunftsweisende Nachricht von „ganz oben“ auf den Bildschirm:

 

Nachdem „unser“ glorreicher Konzern Produktion mit Erfolg nach Ostasien verlegt hat, will er nun auch Osteuropa beglücken. Entlassungen am deutschen Standort sind vorerst nicht geplant. Sollte sich das ändern, so verspricht die Nachricht, dann wird man uns rechtzeitig darüber informieren.

 

Erleichtert sinke ich zurück in den Stuhl! Hatte schon gedacht, man wolle die Entlassungsorgien künftig weiter durchziehen, ohne uns darüber zu informieren. Das wäre schrecklich! 

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.