Hinter mir liegt eine Woche
Wanderurlaub im schönen Sauerland. Den ganzen Tag an der
frischen Luft, herrlich! Übernachtet haben wir in Hotels und
kleinen Pensionen. Die kleinen Ortschaften waren „wie aus dem Ei
gepellt“. Wohin das Auge auch blickte, kleines, gediegenes
Privateigentum. Schmucke Häuschen, entweder neu oder
aufpoliertes Fachwerk. Da steckt „Kohle“ drin! Größere
Ortschaften haben auch schon mal ein kleines „Villenviertel“,
schön gelegen, oberhalb der Ortschaft, am Berghang. Keine Frage,
hier wohnt „die Mitte der Gesellschaft“, ob Selbständige oder
recht gut verdienenden Lohnabhängige.
Immer wieder ging mir der
Gedanke durch den Kopf, welches Interesse Menschen, die hier
leben, wohl an einer radikalen sozialen Umwälzung der
Gesellschaft entwickeln sollten? Die Gesamtheit der
Lebensumstände lässt sich aus dem Anblick des schmucken
Eigentums kaum ablesen, aber auf materielle Not lässt das alles
nicht schließen und damit auch nicht auf Notwendigkeit einer
solchen Umwälzung.
Der ins Auge springende private
Wohlstand soll nicht verwechselt werden mit dem überschießenden
privaten Reichtum, der nach rentabler Geldanlage schreit, also
mit Kapital, dass sich verwerten muss, aber er drückt ein
außerordentlich hohes Konsumniveau aus, dass viele Wünsche zu
befriedigen vermag oder für attraktive Ersatzbefriedigung sorgt.
Dieser Wohlstand der „gesellschaftlichen Mitte“, um deren Gunst
die Parteien werben, ist Produkt des Nachkriegskapitalismus.
Erst die rapide steigende Zahl privater Insolvenzen zeigt an,
dass dieser Wohlstand „abgetragen“ wird. Grundstücke und Häuser,
der Inbegriff des Privateigentums des „kleinen Mannes“ geraten
unter den Hammer und werden versteigert. Die „Mitte der
Gesellschaft“ ist jedoch sehr breit und es bedarf großer
Erschütterungen, diese Form des Privateigentums zu zerstören.
Das Sauerland steht in
Deutschland nicht alleine da, es gibt einige solcher
„kleinbürgerlichen Idyllen“, die die Menschen an eine
Perspektive im Kapitalismus glauben lassen.
Unser Wanderweg endete in
Dillenburg und von hier sollte es mit dem Zug zurück ins
Ruhrgebiet gehen. Unser erster Zug sollte uns von Dillenburg
nach Siegen bringen und von hier mit einem Anschlusszug (10 Min.
später) direkt zu unserem Heimatort. Der Bahnhof war leer. Kein
Servicepersonal weit und breit und die Anzeigetafeln waren
ebenso leer. Null Information! Statt des Zuges kam dann eine
Lautsprecheransage, dass der Zug ca. 15 Minuten Verspätung haben
solle. Es kam, wie es kommen musste, als wir in Siegen ankamen,
war der Anschlusszug weg. Wir konnten zwischen 2 anderen Zügen
wählen. Auf denen einen, wiederum durchgehenden, Zug hätten wir
ca. 50 Min. warten müssen. Der andere sollte mit nur 10 Min.
Wartezeit nach Hagen fahren. Für den entschieden wir uns, in der
Hoffnung auf Anschluss in Hagen. Dieser Zug hatte gerade 1 oder
2 Haltestellen hinter sich gelassen, als die Durchsage kam, der
Zug würde in Kreuztal enden. Dort müssten wir in einen anderen
Zug umsteigen. Auf dem Bahnhof in Siegen hatte es keine
entsprechende Information gegeben! Der Bahnhof Kreuztal war eine
echte Perle „öffentlicher Armut“, der dem viel geschmähten
„Realsozialismus“ alle Ehre gemacht hatte. Verfallende
Bahnsteige aus denen die Birken sprossen, stehende und zerstörte
Uhren, vergammelte, verrostete Schilder usw. Ein wunderschöner
Kontrast zwischen den blitz-blank geputzten Häuschen und diesem
Bahnhof! Aber was red ich von „öffentlicher Armut“!? Die Bahn
wird ja privatisiert! Die Bahn ist kein Verkehrssystem mehr
sondern eine Geldanlage, die sich lohnen muss. Was interessieren
die Anleger Bahnhöfe, Fahrpläne und Züge? Sie interessiert der
Kurs der Wertpapiere, die sie kauften. Wenn der Kurs dieser
Papiere es verlangt, das Strecken still gelegt werden, Service-
und Reparaturpersonal „eingespart“ wird, dann geschieht das. Die
„verdeckte“ Arbeitslosigkeit in Staatsbetrieben, wie es die Bahn
mal war, wird rigoros in „offene“ Arbeitslosigkeit umgewandelt,
von der man sich den „natürlichen Preis“ der Arbeit erhofft,
nämlich Löhne, die allenfalls das Existenzminimum abdecken.
Solange dieser Punkt nicht erreicht ist, werden die „faulen“
Arbeitslosen „motiviert“, indem ihnen die Leistungen gekürzt
oder gestrichen werden. Da das Kapital eine Tendenz produziert,
mehr Lohnarbeitsplätze zu vernichten als zu schaffen, produziert
es aber auch eine dem entsprechende neue „verdeckte“
Arbeitslosigkeit: man rät den Lohnabhängigen zur
„Selbständigkeit“, weil der Bedarf an Lohnarbeit schrumpft. Ein
Kapital, dass nicht nach Lohnarbeit schreit, sondern sie für zu
teuer erklärt und die „Selbständigkeit“ predigt, ist an
Schranken seiner Verwertung gestoßen. Es entledigt sich damit
seiner lästigen „sozialen Verpflichtung“ Lohnarbeitsplätze für
die zu schaffen, die – außer vielleicht einem netten kleinen
Häuschen - nichts besitzen als ihre Arbeitskraft.
Wenn Bahnhöfe eines ehemaligen
Staatsbetriebes verrotten und es immer schwieriger wird mit der
Bahn halbwegs pünktlich von Punkt A nach Punkt B zu kommen, dann
handelt es sich dabei um unvermeidliche „Kollateralschäden“ von
Privatisierung und Renditeerwartung. (England lässt grüßen.) Ein
von mir geschätzter Kabarettist würde zu all dem wohl sagen: „Is’
ja ekelhaft! Aber was reg ich mich auf!?“
Die Aussicht auf soziale
Revolution wird wohl erst in dem Maße realistischer werden, wie
das Aussehen der Privathäuser des „kleinen Mannes“ sich dem
Aussehen des Bahnhofs von Kreuztal annähert. Das Kapital
arbeitet daran!
Apropos Kapital, zurück in der
„segensreichen“ Privatwirtschaft, am ersten Arbeitstag, flattert
mir per Email gleich eine zukunftsweisende Nachricht von „ganz
oben“ auf den Bildschirm:
Nachdem „unser“ glorreicher
Konzern Produktion mit Erfolg nach Ostasien verlegt hat, will er
nun auch Osteuropa beglücken. Entlassungen am deutschen Standort
sind vorerst nicht geplant. Sollte sich das ändern, so
verspricht die Nachricht, dann wird man uns rechtzeitig darüber
informieren.
Erleichtert sinke ich zurück in
den Stuhl! Hatte schon gedacht, man wolle die Entlassungsorgien
künftig weiter durchziehen, ohne uns darüber zu informieren. Das
wäre schrecklich!
Editorische Anmerkungen
Peter
Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine
Kommentare zum Zeitgeschehen.