Die neoliberale Politik war für die Massen in Lateinamerika
eine Katastrophe. Sie war ein Geschenk an die multinationalen
Konzerne, die den Kontinent plünderten, indem sie
privatisierte Betriebe und Ressourcen zu Spottpreisen
erstanden. Den Preis haben die Lohnabhängigen und die Armen
gezahlt, deren Lebensstandard weiter und weiter nach unten
getrieben worden ist. Mehr als 215 Millionen Menschen leben
offiziell unter der Armutsgrenze, 41 Prozent leben von weniger
als zwei Dollar pro Tag und weitere 18 Prozent kämpfen mit
einem Dollar pro Tag ums überleben.
Die
achtziger Jahre wurden in Lateinamerika auch das „verlorene
Jahrzehnt“ genannt. Die neunziger Jahre waren nur wenig besser,
da der Kontinent brutalst von den imperialistischen Mächten und
den korrupten herrschenden Klassen geplündert wurde. Diese
beiden Jahrzehnte haben klar die Unmöglichkeit gezeigt, dass
innerhalb des kapitalistischen Systems die dortige Industrie und
die Wirtschaft weiterentwickelt und die Massenarmut bekämpft
werden kann. 1978 war das Pro-Kopf Einkommen der
imperialistischen Länder fünfmal größer als das der am weitesten
entwickelten Länder in Lateinamerika, wie Argentinien und
Brasilien. Die Kluft zwischen den ärmsten Ländern wie Bolivien
und Ecuador und den wichtigsten Imperialistischen Ländern war
zwölfmal so groß. Im Jahr 2000 ist diese Kluft auf sieben- bzw.
dreißigmal angewachsen. Jegliche Hoffnung der ArbeiterInnen,
LandarbeiterInnen, BäuerInnen und Armen in Lateinamerika darauf,
dass Privatisierung und der „freie Markt“ zu einem anhaltenden
Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung führen würde, haben
sich längst in Luft aufgelöst.
Diese
neoliberale Politik hat zu Massenopposition gegen die
Regierungen, die diese Maßnahmen umgesetzt haben, geführt. In
Ecuador haben Massenaufstände drei Präsidenten gestürzt. In
Argentinien wurden innerhalb weniger Wochen vier Präsidenten aus
dem Amt gejagt, als das Finanzsystem 2001 zusammenbrach. In
Bolivien wurde 2005 mit Massendemonstrationen
Wiederverstaatlichung der Energieindustrie gefordert und das
Land stand am Rande des Bürgerkriegs. Der Druck der Bewegung
führte im Januar 2006 zur Wahl von Evo Morales. In Peru,
Argentinien, Mexiko, Kolumbien und vielen anderen Ländern sind
in den letzten Jahren immer wieder Kämpfe von ArbeiterInnen,
LandarbeiterInnen, Studierenden und anderen vom Kapitalismus und
Imperialismus Ausgebeuteten ausgebrochen.
Mexiko
In Mexiko
findet zurzeit in der Provinz Oaxaca ein Streik von 70 000
Lehrerinnen für höhere Löhne statt. Nachdem sie von einer
Sondereinheit von 1 700 Polizisten angegriffen wurden,
bewaffneten sich die LehrerInnen mit Stöcken und Steinen und
lieferten sich mit der Polizei einen anhaltenden Kampf. Die
Bewegung hat sich nun in einen regelrechten Volksaufstand
ausgeweitet, der den Rücktritt des Staatsgouverneurs Ulises Ruiz
fordert. Ruiz ist Teil der korrupten, autokratischen PRI (Partido
Revolucionario Institucional) die Mexiko bereits über siebzig
Jahre regierte. Die Beschäftigten sind mit Transparenten auf die
Straße gegangen, auf denen „Widerstand des Volkes“ und
„Revolution – raus mit Ulises“ zu lesen war. Einigen Berichten
zufolge haben die Lehrer mehr als zwanzig Rathäuser in kleinen
Dörfern übernommen und die Hauptplätze in einen einzigen
Protestzug verwandelt.
Innerhalb
dieser Revolten und Massenbewegungen sind die Ablehnung des
Neoliberalismus und die Unterstützung für Staatsinterventionen
und Verstaatlichung klar in den Forderungen zu erkennen. In
einigen dieser Forderungen ist auch erstmals die Frage von
Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus aufgetaucht und
wird innerhalb einiger Schichten diskutiert. Diese Revolten
haben den Weg dafür geebnet, was viele Kommentatoren als
„Wiederaufleben der Linken“ und Machtübernahme durch „linke“
Regierungen bezeichnen. Am prominentesten unter diesen
Vertretern „linker“ Regierungen finden sich Hugo Chavez in
Venezuela, Nestor Kirchner in Argentinien und nun Evo Morales in
Bolivien wieder. Es besteht auch die Möglichkeit, dass in
Mexiko, sozusagen vor der Haustüre des US-Imperialismus, der
Populist Lopez Obrador, ehemaliger PRD Bürgermeister von Mexiko
City, an die Macht kommt.
Er hat sich
an die Armen gewendet, hat versprochen die Korruption zu
bekämpfen und das Präsidentengehalt zu halbieren. Er hat auch
eine Neuverhandlung für die FTAA (Free Trade Agreement of the
Americas – Freihandelszone der Amerikas) gefordert. Er hat aber
keine Verstaatlichung gefordert und erklärt innerhalb des
Kapitalismus agieren zu wollen. Es sieht so aus, dass er eine
Politik zwischen der eines Chavez und eines Lulas machen will.
Eine von ihm angeführte Regierung wäre für George Bush und den
US-Imperialismus sehr irritierend. Bis jetzt konnten sie mit dem
US-freundlichen Präsidenten Vincente Fox zusammenarbeiten, der
eine thatcheristischen Politik gefolgt ist. Der Sieg von Lopez
Obrador würde vermutlich eine Flut von neuen Kämpfen der
mexikanischen ArbeiterInnen und BäuerInnen auslösen. Das würde
nördlich der Grenze wichtige Folgen unter der
Latino-Bevölkerung in den USA haben, die bereits in eine
Massenbewegung gegen das Bush-Regime involviert war.
Neue linke Regierungen
Die Wahl von
Evo Morales wird von den lateinamerikanischen Massen als enormer
Sieg gesehen worden. Ein wichtiger Faktor darin ist dass er aus
der indigenen Bevölkerung stammt – er ist Amaya. Das ist das
erste Mal, dass ein nicht europäisch-stämmiger Präsident in
Bolivien gewählt wurde – trotz der überwiegenden Mehrheit der
indigenen Bevölkerung. Die Revolten der indigenen Bevölkerung in
Lateinamerika spielten eine wichtige Rolle bei den Bewegungen,
besonders in den Andenländern Bolivien, Peru, Ecuador, und auch
in Venezuela, Mexiko und Chile.
Die
Machtübernahme von neuen, radikal-populistischen Regierungen in
Venezuela, Argentinien und Bolivien stellt eine Abweichung von
den ideologischen und wirtschaftspolitischen Tendenzen dar, die
noch in den neunziger Jahren dominant waren. Sie spiegeln die
massive soziale Krise wieder, die diese drei Länder erschüttert
haben und stellen einen Bruch mit der neoliberalen Politik von
Privatisierung und dem „ungezügelten“ freien Markt dar. Sie
stellen auch eine Quelle der Irritation und des Konflikts für
den US- und den europäischen Imperialismus dar, die wichtige
Investitionen in Lateinamerika getätigt haben – wie zum Beispiel
Spanien oder Frankreich. Diese Entwicklung hat bereits eine
Debatte auf der Linken in Lateinamerika darüber eröffnet,
welches Programm und welche Art von Regierung nötig sind, um mit
dem Kapitalismus und dem Imperialismus zu brechen.
Lulas Rolle
in Brasilien
Allerdings
war dieser Prozess nicht einheitlich. Eine andere Schicht von
Repräsentanten der „Neuen Linken“ ist in Ländern wie Brasilien,
Uruguay und Chile an die Macht gekommen. Die Wahl von Lula
(Brasilien), Tabare Vazquez (Uruguay) und zuletzt Michel
Bachelet (Chile) spiegeln dasselbe anti-neoliberale Bewusstsein
wieder, das bereits den gesamten Kontinent erfasst hat. Lucio
Gutierrez in Ecuador war als Chavez-ähnliche Figur, auf
Grundlage eines anti-neoliberalen Programms an die Macht gespült
worden. Er hat allerdings sofort gegenüber dem IWF und dem
Imperialismus klein beigegeben und neoliberale Maßnahmen
angekündigt. Als Folge dessen wurde er von einer Massenbewegung
von ArbeiterInnen, Landbevölkerung und der indigenen Bevölkerung
2005 gestürzt – der dritte Präsident der in Ecuador seit 1996
von einer Massenbewegung gestürzt worden ist.
Eine
Ausnahme stellen Kolumbien und Peru dar. In Kolumbien gibt es
allgemeine Gewalt und Konflikte, die von den Drogenkartellen
und rechten Paramilitärs ausgehen. Vor diesem Hintergrund und
den Guerilla-Kampagnen der FARC und der ELN, wurde der von den
USA unterstützte Alvaro Uribe wieder gewählt. In Peru war die
Alternative des Nationalisten Ollanta Humala nicht attraktiv
genug um das Comeback von Alan Garcia, einem Vertreter der
ältesten populistischen Partei in Lateinamerika, APRA, die nun
nach rechts gerückt ist, zu verhindern. Garcia war in den
achtziger Jahren von der Macht verdrängt worden, nachdem seine
Regierung Preiserhöhungen von bis zu 1 000 000 Prozent
zugelassen hat. Im Allgemeinen sind aber die alten, etablierten
Politiker und Parteien aus dem Amt gedrängt worden. Die
Vertreter der „Neuen Linken“ (neu wie bei „New Labour“, der
neoliberal gewendeten Labour Party in Großbritannien, A.d.Ü.)
der Partido dos Trabalhadores (PT - Arbeiterpartei) in
Brasilien, der Partido Socialista in Chile und Frente Amplio in
Uruguay, sind unter hohem Erwartungsdruck für grundlegende
Veränderungen an die Macht gekommen. Allerdings sind die
Hoffnungen der ArbeiterInnen und Jugendlichen in diesen Ländern
sehr rasch enttäuscht worden. Diese Regierungen haben gegenüber
den Forderungen des Imperialismus und ihrer eigenen herrschenden
Klassen kapituliert, und setzen nun die neoliberale Politik
ihrer Vorgänger fort.
Dieser
Prozess hat in Brasilien mit der Wahl von Lula begonnen, der
sogar bereits vor seiner Wahl den IWF und andere
imperialistische und kapitalistische Institutionen überzeugt
hat, dass er die Politik seines Vorgängers Fernando Henrique
Cardoso fortsetzen würde. Er hat nichts getan um die massiven
Ungleichheiten, die in der brasilianischen Gesellschaft
existieren, auszumerzen. Während die reichsten 10 Prozent der
Bevölkerung 47 Prozent des Nationalen Einkommens konsumieren,
bekommen die ärmsten 10 Prozent lediglich 0,5 Prozent davon.
Die Mehrheit
der herrschenden Klasse stützt sich zufrieden auf die Lula-
Regierung, die weitere Attacken auf die Arbeiterklasse umsetzt.
Fortgesetzte Privatisierung, keine effektiven Schritte zur
Armutsbekämpfung und eine Serie von Korruptionsskandalen hätten
heftige Kämpfe der Arbeiterklasse und der Jugend hervorgerufen,
wenn die traditionellen kapitalistischen Parteien und Politiker
am Ruder gewesen wären. Lula gelang es zum Teil, mit Hilfe der
verräterischen Rolle der Führung des Gewerkschaftsdachverbandes
CUT, die Arbeiterklasse in den letzten vier Jahren relativ ruhig
zu halten. Die Mehrheit der CUT Führung ist heute ein integraler
Bestandteil der Regierung und erfüllt eine Funktion als
„inoffizielles Arbeitsministerium“.
Das Anhalten
eines sehr labilen Wirtschaftswachstums aufgrund der Situation
in der Weltwirtschaft, die Angst vor der Wiederkehr der
traditionellen kapitalistischen Parteien, Uneinigkeit unter den
anderen kapitalistischen Politikern und das Fehlen einer starken
Alternative haben Lula zeitweilig erlaubt eine Basis unter
älteren ArbeiterInnen zu halten. Sein wahrscheinlicher Sieg bei
den Wahlen im Oktober wird keine reine Wiederholung seiner
ersten Amtszeit sein. Eine Verlangsamung des
Wirtschaftswachstums, aufgrund der zusätzlichen Gefahr einer
weltweiten Rezession, kann für machtvolle Kämpfe von
ArbeiterInnen, Landlosen, Jugendlichen und der städtischen
Bevölkerung nach den Wahlen Tür und Tor öffnen. Der
Autohersteller Volkswagen hat zuletzt angekündigt, seine
Belegschaft von 21 500 auf 15 500 zu verringern. Das zeigt die
Größenordnung, die zukünftige Angriffe der herrschenden Klasse
annehmen können und die sehr wahrscheinlich große Bewegungen und
Kämpfe der Arbeiterklasse auslösen werden.
Bereits
jetzt gibt es wachsende Unterstützung für eine radikale
sozialistische Alternative. Eine bedeutende Schicht von
SozialistInnen und AktivistInnen der Arbeiterbewegung haben
begonnen, eine solche aufzubauen. Die Gründung der P-SOL stellt
einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. Mit sieben
bis acht Prozent Unterstützung in Umfragen wird die P-SOL
während der Präsidentschaftswahlen große Möglichkeiten haben,
ihre Basis auszubauen. Wenn die P-SOL sich auf eine Strategie
rund um ein radikales sozialistisches Programm einigen kann, und
es ihr gelingt zu einem wirklichen Kampfinstrument der
Arbeiterklasse zu werden, hat sie die große Chance während und
nach den Wahlen zu wachsen. Allerdings findet zurzeit eine
Debatte innerhalb der P-SOL darüber statt, welches Programm sie
annehmen soll und wie die Partei aufgebaut werden soll. Teile
der Führung versuchen das Programm abzuschwächen und die Partei
nach rechts zu verschieben und zu verhindern, dass eine wirklich
kämpferische, demokratische Partei, die für Sozialismus kämpft,
entsteht. Die P-SOL hat große Möglichkeiten sich zu einer
starken Kraft zu entwickeln. Allerdings könnte dieses Potential
ungenutzt bleiben, wenn es der Partei nicht gelingt, die Idee
einer sozialistischen Alternative zu verteidigen und sich durch
Beteiligung und Eingreifen in Klassenkämpfe eine Basis
aufzubauen.
Mit dem
Wiederaufbau einer kämpferischen Alternative wird auch bereits
in den Gewerkschaften begonnen, mit Vorbereitungsschritten für
die Bildung einer neuen Dachgewerkschaft. Hunderte von lokalen
Gewerkschaftsgliederungen haben sich bereits von der CUT
losgelöst oder aufgehört ihre Beiträge an die CUT zu entrichten.
Studierendenproteste in Chile
Während es
Lula geschafft hat, starke soziale Bewegungen in den letzten
Jahren weitgehend zu unterbinden, war Michel Bachelet,
„sozialistische“ Präsidentin in Chile, in der Hinsicht glücklos.
Weniger als drei Monate nachdem sie ihren Eid geschworen hatte,
sah sie sich bereits der ersten Mobilisierung von SchülerInnen
gegenüber, die Änderungen im gesamten Bildungssystem forderten.
Das war die größte Jugendbewegung in Chile seit dem
Militärputsch 1973. Die Bewegung zwang die Regierung zu
Zugeständnissen, darunter die Erhöhung des Bildungsbudgets um
200 Millionen US-Dollarund die Abschaffung der Gebühren für die
Aufnahmetests an den Universitäten.
Auffällig an
diesen Protesten war die scharfe Repression durch die verhasste
Polizei. Das gilt auch für die allgemeine Situation. Die
Wiederkehr der „Demokratie“ nach den Militärdiktaturen der
siebziger und achtziger Jahre hat nicht das Ende der brutalen
Polizeirepression gegen Arbeiterbewegung, Landbevölkerung und
die Stadtarmut in den stattfindenden Kämpfen bedeutet. In Chile,
Brasilien, Mexiko, Bolivien und anderen Ländern wurden die
Massen, wenn sie auf die Straße gingen um für ihre Rechte zu
kämpfen, mit Wasserwerfern, Tränengas und in einigen Fällen
scharfer Munition beschossen. In Chile hat das als Wortspiel
eine eigene Bezeichnung: „demodura“ (harte Demokratie) im
Gegensatz zur „dictatura“ (Diktatur).
Der erste
„100-Tage-Plan“ der Bachelet-Regierung ist von den
Schülerprotesten gestoppt worden. Das brachte die Regierung in
eine schwere Krise und öffnet ein neues Kapitel im Kampf der
chilenischen Bevölkerung nach dem Ende der Pinochet-Diktatur
1990. Das Beispiel, dass die Jugend hier gesetzt hat, kann von
weiteren Kämpfen der Arbeiterklasse imitiert werden, die von der
Bewegung inspiriert wurden. Auffällig war auch, dass die
SchülerInnen instinktiv die Notwendigkeit ihrer Unterstützung in
der Arbeiterschaft und anderen Teilen der Bevölkerung begriffen,
und diese auszubauen verstanden. Mehr als achtzig Prozent gaben
an, dass sie die Studierenden und SchülerInnen unterstützten,
und nur 17 Prozent unterstützten die Regierung.
Diese
Bewegung hat auch weitere Auswirkungen. Chile war als
wirtschaftliches Aushängeschild von Lateinamerika präsentiert
worden. Mit Rekordwachstum, beeindruckenden Investitionen in die
Infrastruktur, besonders im Transportwesen, sollte Chile das
nachzuahmende neoliberale Modell sein – glaubt man den
kapitalistischen Analysen. Teile der chilenischen herrschenden
Klasse sprachen von ihrem Land sogar als einer „entwickelten
Wirtschaft“. Allerdings war das Wachstum stets einseitig. Es
ging Hand in Hand mit einer massiven Erhöhung der Ausbeutung der
chilenischen Arbeiterklasse.
Die
Bankangestellten befinden sich zurzeit in einer Kampagne zur
Verhinderung der Sonntagsöffnungszeit. Bessere Wohnungen, der
Kauf von Häusern, Autos und anderen Konsumgütern wurden
hauptsächlich durch die Anhäufung massiver Schulden finanziert.
Die überwiegende Mehrheit des gewachsenen nationalen Einkommens,
das vor allem durch hohe Kupferpreise und Agrarexporte von
Früchten und Weinen erzeugt wurde, wurde von der reichen Elite
eingestreift. Die reichsten 20Prozent der Bevölkerung beziehen
62,2 Prozent des nationalen Einkommens, während die untersten
zwanzig Prozent mit 3,3 Prozent überleben sollen!
Bezeichnenderweise entstand diese enorme Jugendbewegung als die
Wirtschaft begonnen hatte sich zu verlangsamen. Indem sie die
„Marktorientierung“ des Bildungssystems bekämpften, haben die
Jugendlichen das gesamte neoliberale Modell in Frage gestellt.
Sie haben nicht nur die Privatisierung des Bildungssystems in
Frage gestellt, sondern auch die ganze Gesellschaft. Die volle
Auswirkung dieser Bewegung wird in Chile und im Kontinent erst
später spürbar werden. Allerdings ist klar, dass die
„sozialistische“ Regierung nicht dieselbe Ruhe haben wird, wie
die vorherigen Koalitionsregierungen. Bachelet und ihre
kapitalistische Koalition werden ohne Zweifel versuchen weitere
neoliberale Reformen umzusetzen.
Sie werden dabei aber auf wesentlich größeren Widerstand von
Seiten der Arbeiterklasse stoßen. Während der Schüler- und
Studierendenproteste fielen Bachelets Umfragewerte von 67
Prozent Zustimmung im Mai auf 56 Prozent im Juni, nur drei
Monate nachdem sie Präsidentin wurde. Das Festhalten an
neoliberaler Politik durch die Regierung und die schnelle
Entwicklung von Widerstand gegen Bachelet bestätigen, wie falsch
es von der Kommunistischen Partei Chiles und einigen anderen,
die behaupten marxistische Ideen zu verteidigen, war, Bachelet
im zweiten Wahlgang zu unterstützen. Die Kommunistische Partei
hat für diesen Fehler mit einer massiven innerparteilichen Krise
bezahlt. Das CWI und seine Schwesterorganisation in Chile,
Socialismo Revolucionario, haben stattdessen dafür argumentiert
ungültig zu wählen und eine Kampagne zum Aufbau einer neuen
Arbeiterpartei zu beginnen, die für sozialistische Politik
kämpf. Die Krise der Kommunistischen Partei steht im Widerspruch
zur Popularität des radikalen Kandidaten Tomás Hirsch, der in
der Präsidentschaftswahl als Mitglied der „Humanistischen
Partei“ für das linke Bündnis „PODEMOS“ antrat, und der in der
zweiten Wahlrunde aufgrund von Bachelets neoliberaler
Ausrichtung dazu aufrief ungültig zu wählen.
Staatsintervention
Der Aufstand
gegen den Neoliberalismus hat einer neue Welle von radikalen,
linkspopulistischen Regierungen in Venezuela, Argentinien und
Bolivien den Weg geebnet. Dies ist ein Ausdruck des massiven
Drucks der Massen und der tiefen wirtschaftlichen und sozialen
Krise dieser Länder. Diese neuen Regierungen, die eine Politik
von stärkerer Staatsintervention in der Wirtschaft unterstützen,
stehen für wichtige Änderungen in der Weltsituation nach 1990.
Diese
Maßnahmen haben in begrenzter Form auch teilweise
Verstaatlichung beinhaltet. In Venezuela entstanden Joint
Ventures zwischen staatlichen Gesellschaften und privaten
Multis. In Argentinien hat die Regierung Kirchner die Kontrolle
über die Verwaltung der Flughäfen wieder an sich genommen, 40
Prozent der privatisierten staatlichen Fluglinie Aerolineas
Argentinas erworben, und über einen Staatsbetrieb auch den
privatisierten Wasserversorger in der Hauptstadt Buenos Aires
übernommen.
Die
„Verstaatlichung“ der Öl- und Gasindustrie in Bolivien durch
Morales ist jedoch bis dato die signifikanteste Entwicklung und
hat eine große Opposition der herrschende Klasse hervorgerufen –
besonders in Brasilien und Spanien, die den größten Teil dieser
Industrien besitzen. In der Arbeiterklasse in ganz Lateinamerika
hat diese „Verstaatlichung“ allerdings einen großen Eindruck
hinterlassen und erfreut sich größter Popularität. Brasilien,
die größte regionale Macht in Lateinamerika, hat sehr große
Investitionen in Bolivien. 51 Prozent des Gasverbrauches kommen
aus Bolivien, in der Großstadt Sao Paulo sogar 75 Prozent. Der
brasilianische Konzern Petrobras kontrolliert 46 Prozent von
Boliviens Gasressourcen und 95 Prozent der Raffinerien. Sein
Umsatz in Bolivien stellt 19 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
des Landes dar.
Diese
Staatsintervention hat massiven Widerstand des Imperialismus und
Teilen der nationalen kapitalistischen Klasse ausgelöst.
Allerdings handelt es sich bei diesen Maßnahmen nur teilweise um
wirkliche Verstaatlichungen. In einigen Fällen ist es nicht mehr
als eine Form von Joint Venture. Sogar in Bolivien wurde von
Morales nichts anderes getan, als Joint Ventures zu errichten,
in denen der Staat 50 Prozent plus eine Aktie kontrolliert – und
zwar in Betrieben die vor der Privatisierung 1996 ganz in
Staatsbesitz waren. Damit steht er weit hinter der
Verstaatlichung von Standard Oil 1937 oder Gulf Oil 1969 zurück.
Er erfüllt
damit auch nicht die Forderungen der bolivianischen Massen, die
die Verstaatlichung von Öl und Gas unterstützen. Diese
Teilmaßnahmen sind völlig unzureichend um mit dem Kapitalismus
zu brechen. Im Gegenteil, sie sind Teil einer Alternative die
von Morales, Chavez und Kirchner propagiert wird – der Aufbau
eines „Andenkapitalismus“ als Alternative zum neoliberalen
Modell – ein Kapitalismus mit einem menschlicheren Antlitz.
Argentinien
In
Argentinien versucht Kirchner zum traditionellen Peronismus
zurückzukehren - zum Peronismus aus der Ära vor Carlos Menem -
zu Staatsinterventionismus der durch eine starke, einflussreiche
Gewerkschaftsbürokratie flankiert wird. Im Aufsichtsrat der neu
verstaatlichten Wassergesellschaft sitzen Repräsentanten der
peronistischen Gewerkschaften. Im Bereich des Flugwesens
bekleidet Ricardo Ciielli, ein einflussreicher
Gewerkschaftsführer, den Posten des Vize-Staatssekretärs im
Zuständigkeitsbereich „Transporte Aerocomercial“.
Jedoch ist
diese Rückkehr zum Staatsinterventionismus nicht dasselbe wie
die Maßnahmen, die von der peronistischen Regierung nach dem
zweiten Weltkrieg eingeführt wurden. Damals sorgte der
Fleischexport in ein hungerndes Europa dafür, dass sich die
herrschende Klasse ein Polster bilden konnte, mit dem wichtige
Reformen finanziert wurden und von denen die Arbeiterklasse
profitierte. Daraus bezog die populistisch- nationalistische
peronistische Bewegung ihre Massenunterstützung von der sie
jahrzehntelang profitierte. Obwohl er zurzeit breite
Unterstützung genießt, hat Kirchner nicht dieselbe komfortable
Ausgangsposition und auch nicht die Mittel um nachhaltige
Reformen zu garantieren.
Die Medien
berichteten von einem jährlichen Wachstum von mehr als 9 Prozent
über die letzten vier Jahre. Die Millionen haben davon aber
nicht profitiert, 58 Prozent der argentinischen Kinder leben
immer noch in Armut. Die restaurierte ehemalige Hafengegend von
Buenos Aires, Puerto Madero, ist voll von teuren Cafés und
begehrten Appartements. Aber sogar hier zeigt die Eröffnung
einer Suppenküche die Ungleichmäßigkeit des Booms und entblößt
die Tatsache, dass die Kluft zwischen arm und reich - trotz
wachsender Wirtschaft - sich ausgeweitet hat. Es ist ein labiler
Boom, getragen von der Bauwirtschaft und dem Wachstum von
Agrarexporten beispielsweise nach Chile. Tritt die
Weltwirtschaft in Stagnation oder Rezession, brechen auch diese
ein. Kirchner kombiniert seine Politik von mehr
Staatsintervention mit Angriffen und Repression gegen
Belegschaften und Arbeitslosen, die in Kämpfe involviert sind.
Regionaler
Konflikt
Das
Aufkommen dieser radikalen populistischen Regierungen hat die
Konflikte zwischen diesen Regierungen und dem Imperialismus
sowie auch mit den neoliberalen Regierungen in anderen
lateinamerikanischen Ländern verstärkt. Venezuela, Bolivien und
Argentinien, mit der Unterstützung von Kuba, bilden momentan
eine Kerngruppe von Ländern, die mit den Interessen des
Imperialismus und anderen Regionalmächten wie Brasilien,
Kolumbien und Chile in Konflikt geraten sind.
Die
Konflikte spiegeln die unterschiedlichen nationalen Interessen
der einzelnen herrschenden Klassen wieder. Während diese
Kerngruppe, angeführt von Venezuela, auf eine größere regionale
Integration spekulieren, und Handelsverbindungen mit anderen
Ländern als die USA bilden wollen (wie z.B. Europa, China und
Russland), favorisieren Chile, Brasilien, Kolumbien und vor
allem Mexiko stärkere Kooperation und Integration mit der
US-Wirtschaft. Aber sogar diese Entwicklungen sind
widersprüchlich. Während der US-Imperialismus beim Gipfel der
Amerikas im Jahr 2005 hinsichtlich seines Vorschlags mit der
Freihandelszone FTAA fortzufahren eine Niederlage einstecken
musste, haben viele lateinamerikanischen Länder versucht eigene
bilaterale Abkommen mit den USA abzuschließen.
Zur selben
Zeit wurden nationalistische Tendenzen durch eine Serie von
Konflikten zwischen einzelnen Ländern über Handelsabkommen und
Grenzziehungen verstärkt. Argentinien steht in Konflikt mit
Uruguay, Bolivien mit Brasilien und Chile, Peru wiederum mit
Chile. Dies hat dazu geführt, dass sich die nationalistische
Züge in den radikalen populistischen Bewegungen in einigen
Ländern verschärft haben. Das spiegelt zum einen die
antiimperialistische Stimmung, die in ganz Lateinamerika
existiert wieder, aber auch die Versuche der herrschenden
Klassen nationalistische Gefühle innerhalb des Kontinents zu
schüren. Das ist eine potentielle Gefahr für die Massen, die die
Arbeiterklasse, die Stadt- und die Landarmut durch den Aufbau
einer starken sozialistischen und internationalistischen
Alternative zum Kapitalismus und Imperialismus überwinden muss.
Die
teilweise Verstaatlichung von Petrobras hat in der
brasilianischen herrschenden Klasse einen Schock ausgelöst. Sie
versuchten daraufhin eine nationalistische Stimmung gegen
Bolivien zu erzeugen. Die Presse malte das Bild einer kurz
bevorstehenden Bedrohung der Gasversorgung an die Wand. Lula
protestierte gegen die „Art und Weise“ wie Morales die Öl- und
Gasbetriebe, die Petrobras gehörten „verstaatlicht“ hatte.
Morales erklärte, dass er eine „politische Geste erbringen
musste um eine Destabilisierung zu verhindern – Bolivien hatte
in vier Jahren vier Präsidenten“. Wenn Morales nicht Schritte
gegen Petrobras und Repsol unternommen hätte, dann wäre es zu
einer frühzeitigen Konfliktsituation mit den Lohnabhängigen und
den BäuerInnen gekommen, die ihn an die Macht gebracht haben.
Obwohl Morales gezwungen war, eine Teil- Verstaatlichung von Öl
und Gas durchzuführen, hat er zur selben Zeit die Armee benützt
um die Flughäfen zu besetzen, als die ArbeiterInnen der bankrott
gegangenen bolivianischen Fluglinie Lyoyd Aero Boliviano deren
Verstaatlichung forderten.
Die
Massenarmut in Angriff nehmen
Chavez und
Morales haben einige begrenzte, sehr willkommene Reformen
durchgeführt. Das betrifft besonders den Gesundheits- und
Bildungsbereich sowie die Ausgabe billigen Essens. In Venezuela
geschieht das durch die Einrichtung von „missiones“ die eine
gewisse Erleichterung für Teile der ärmsten Schichten der
Gesellschaft gebracht haben. In Bolivien ist der Mindestlohn um
13 Prozent von 440 Bolivianos (55 US-Dollar) auf 500 Bolivianos
(63 US-Dollar) angehoben worden, das ist aber noch weit weniger
als die vor den Wahlen versprochenen 1500 Bolivianos (192
US-Dollar).
Immer noch
erhalten fast 30 Prozent der Stadtbevölkerung weniger als den
Mindestlohn. Die Entsendung von kubanischen Ärzten nach Bolivien
hat es ermöglicht 7000 Graue-Star-Operationen in zwei Monaten
durchzuführen. Und zwar unter den ärmsten Schichten der
Bevölkerung, die sich niemals die 500 bis 700 Dollar leisten
können, die in den Privatkliniken von La Paz dafür verlangt
werden.
Während
diese Reformen zwar freudig begrüßt werden, haben sie dennoch
nicht die Massenarmut bekämpfen können. Der Kapitalismus
verurteilt 67,3 Prozent der bolivianischen Bevölkerung zu einem
Leben in Armut. Dasselbe Problem existiert in Venezuela, wo zu
der weiterhin bestehenden Armut noch ein Anwachsen von
Bürokratie und Korruption kommt, bedingt durch den ausgedehnten
Staatssektor der ohne eine wirklich demokratische
Arbeiterkontrolle- und Verwaltung geführt wird.
Während die
Chavez-Regierung vom steigenden Ölpreis am Weltmarkt bis jetzt
profitiert, kann dieses Polster in den nächsten Monaten und
Jahren schwinden, was eine tiefe soziale und politische Krise
auslösen wird. Wenn die Arbeiterklasse nicht die notwendigen
Schritte ergreift um ihre eigenen unabhängigen Organisationen zu
bilden und eine Arbeiter- und Bauernregierung zu etablieren,
kann die Bedrohung durch die Konterrevolution und einen Sturz
von Chavez wieder akut werden.
In Bolivien
hat Morales noch weniger Raum für Manöver. Dies liegt an der
weitaus tieferen sozialen und wirtschaftlichen Krise, der
grassierenden Armut und der starken Tradition von unabhängigem
revolutionärem Kampf der Arbeiterklasse und der Bauern. Obwohl
Chavez die Sympathie der Masse der Arbeiterklasse auf seiner
Seite hat, führt die Tatsache dass er nicht mit dem Kapitalismus
bricht, die um sich greifende Korruption und wachsende
Bürokratie sowie das Fehlen von Arbeiterkontrolle und
–Verwaltung dazu, dass viele ArbeiterInnen in Lateinamerika
seiner Regierung gegenüber skeptisch sind.
Eine Umfrage
der brasilianischen Tageszeitung „O Estado“, die auf seine
Popularität in Bolivien hinwies, ergab, dass nur 14 Prozent der
BrasilianerInnen ein positives Bild von Chavez haben. Lediglich
zehn Prozent meinten, dass sein „Bolivarianisches Modell“
nachahmenswert sei. Gleichzeitig hat dieselbe Umfrage
festgestellt, dass 60 Prozent die Verstaatlichung natürlicher
Ressourcen und 78 Prozent Maßnahmen, wie staatliche Kontrolle
über die multinationalen Konzerne und Banken sowie über Preise
unterstützen.
Der Aufstand
der Massen gegen den Neoliberalismus und die sich auf dem
ganzen Kontinent entwickelnde Krise, verlangen nach eigenen
politischen und sozialen Organisationen der Arbeiterklasse und
der armen Landbevölkerung. Solche brauchen ein Programm, dass
mit dem Kapitalismus bricht und den Imperialismus herausfordert.
Die Errichtung von Arbeiter- und Bauernregierungen mit
revolutionärem sozialistischem Programm ist dringend nötig.
Solch ein Programm muss bei der Verstaatlichung der großen
Betriebe, Banken und multinationalen Konzernen in jedem Land
ansetzen, und einer wirklichen Landreform, wo diese nötig ist.
Nur dann wird es möglich sein, den Kapitalismus zu besiegen und
mit dem Aufbau einer geplanten Wirtschaft zu beginnen, die sich
nach den Bedürfnissen der Massen richtet.
Solch ein
Programm kann sich auch nicht auf ein Land beschränken. Die
aktuelle Energiekrise auf dem Kontinent zeigt die Notwendigkeit
von regionaler Integration und Planung der Wirtschaft. Chavez
hat zur Bildung einer lateinamerikanischen Öl- und
Gasgesellschaft, der „Petrosur“, aufgerufen. Aber wie wird das
auf kapitalistischer Basis möglich sein? Um ein solches Vorhaben
zu ermöglichen, müsste die Arbeiterklasse und die arme
Landbevölkerung die Kontrolle und Verwaltung der Wirtschaft und
der Gesellschaft übernehmen. Nur dann könnten die riesigen
Ressourcen des Kontinents im Sinne der Bedürfnisse der Massen
eingesetzt und geplant werden, anstatt jener der herrschenden
Klasse und des Imperialismus. Der Aufbau einer freiwilligen,
demokratischen sozialistischen Föderation lateinamerikanischer
Staaten ist die einzig wirkliche Alternative zu Kapitalismus und
Imperialismus und der einzige Weg um die Armut und Ausbeutung,
die den Kontinent plagen, auszumerzen. Ein Schritt in diese
Richtung wäre die Errichtung einer demokratischen
sozialistischen Föderation von Venezuela, Kuba und Bolivien auf
der Basis der Bildung von demokratischen Arbeiter- und
Bauernregierungen in diesen Ländern. Das ist der Weg um mit der
Einigung des Kontinents und der Planung der Ressourcen und der
Wirtschaft zu beginnen, als einer Alternative zu den
kapitalistischen Handelsblöcken und Abkommen die derzeit
entstehen.
Editorische Anmerkungen
Tony Saunois
ist Lateinamerika-Sekretär des Komitees für eine
Arbeiterinternationale. Er hat im Frühjahr 2006 Brasilien und
Chile besucht.
Den Text erhielten wir
von Sascha Stanicic (SAV) zur Veröffentlichung.