Lateinamerika im Aufstand gegen den Neoliberalismus

von Tony Saunois, 3. Juli 2006

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Die neoliberale Politik war für die Massen in Lateinamerika eine Katastrophe. Sie war ein Geschenk an die multinationalen Konzerne, die den Kontinent plünderten, indem sie privatisierte Betriebe und Ressourcen zu Spottpreisen erstanden. Den Preis haben die Lohnabhängigen und die Armen gezahlt, deren Lebensstandard weiter und weiter nach unten getrieben worden ist. Mehr als 215 Millionen Menschen leben offiziell unter der Armutsgrenze, 41 Prozent leben von weniger als zwei Dollar pro Tag und weitere 18 Prozent kämpfen mit einem Dollar pro Tag ums überleben.

Die achtziger Jahre wurden in Lateinamerika auch das „verlorene Jahrzehnt“ genannt. Die neunziger Jahre waren nur wenig besser, da der Kontinent brutalst von den imperialistischen Mächten und den korrupten herrschenden Klassen geplündert wurde. Diese beiden Jahrzehnte haben klar die Unmöglichkeit gezeigt, dass innerhalb des kapitalistischen Systems die dortige Industrie und die Wirtschaft weiterentwickelt und die Massenarmut bekämpft werden kann. 1978 war das Pro-Kopf Einkommen der imperialistischen Länder fünfmal größer als das der am weitesten entwickelten Länder in Lateinamerika, wie Argentinien und Brasilien. Die Kluft zwischen den ärmsten Ländern wie Bolivien und Ecuador und den wichtigsten Imperialistischen Ländern war zwölfmal so groß. Im Jahr 2000 ist diese Kluft auf sieben- bzw. dreißigmal angewachsen. Jegliche Hoffnung der ArbeiterInnen, LandarbeiterInnen, BäuerInnen und Armen in Lateinamerika darauf, dass Privatisierung und der „freie Markt“ zu einem anhaltenden Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung führen würde, haben sich längst in Luft aufgelöst.

Diese neoliberale Politik hat zu Massenopposition gegen die Regierungen, die diese Maßnahmen umgesetzt haben, geführt. In Ecuador haben Massenaufstände drei Präsidenten gestürzt. In Argentinien wurden innerhalb weniger Wochen vier Präsidenten aus dem Amt gejagt, als das Finanzsystem 2001 zusammenbrach. In Bolivien wurde 2005 mit Massendemonstrationen Wiederverstaatlichung der Energieindustrie gefordert und das Land stand am Rande des Bürgerkriegs. Der Druck der Bewegung führte im Januar 2006 zur Wahl von Evo Morales. In Peru, Argentinien, Mexiko, Kolumbien und vielen anderen Ländern sind in den letzten Jahren immer wieder Kämpfe von ArbeiterInnen, LandarbeiterInnen, Studierenden und anderen vom Kapitalismus und Imperialismus Ausgebeuteten ausgebrochen.

Mexiko

In Mexiko findet zurzeit in der Provinz Oaxaca ein Streik von 70 000 Lehrerinnen für höhere Löhne statt. Nachdem sie von einer Sondereinheit von 1 700 Polizisten angegriffen wurden, bewaffneten sich die LehrerInnen mit Stöcken und Steinen und lieferten sich mit der Polizei einen anhaltenden Kampf. Die Bewegung hat sich nun in einen regelrechten Volksaufstand ausgeweitet, der den Rücktritt des Staatsgouverneurs Ulises Ruiz fordert. Ruiz ist Teil der korrupten, autokratischen PRI (Partido Revolucionario Institucional) die Mexiko bereits über siebzig Jahre regierte. Die Beschäftigten sind mit Transparenten auf die Straße gegangen, auf denen „Widerstand des Volkes“ und „Revolution – raus mit Ulises“ zu lesen war. Einigen Berichten zufolge haben die Lehrer mehr als zwanzig Rathäuser in kleinen Dörfern übernommen und die Hauptplätze in einen einzigen Protestzug verwandelt.

Innerhalb dieser Revolten und Massenbewegungen sind die Ablehnung des Neoliberalismus und die Unterstützung für Staatsinterventionen und Verstaatlichung klar in den Forderungen zu erkennen. In einigen dieser Forderungen ist auch erstmals die Frage von Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus aufgetaucht und wird innerhalb einiger Schichten diskutiert. Diese Revolten haben den Weg dafür geebnet, was viele Kommentatoren als „Wiederaufleben der Linken“ und Machtübernahme durch „linke“ Regierungen bezeichnen. Am prominentesten unter diesen Vertretern „linker“ Regierungen finden sich Hugo Chavez in Venezuela, Nestor Kirchner in Argentinien und nun Evo Morales in Bolivien wieder. Es besteht auch die Möglichkeit, dass in Mexiko, sozusagen vor der Haustüre des US-Imperialismus, der Populist Lopez Obrador, ehemaliger PRD Bürgermeister von Mexiko City, an die Macht kommt.

Er hat sich an die Armen gewendet, hat versprochen die Korruption zu bekämpfen und das Präsidentengehalt zu halbieren. Er hat auch eine Neuverhandlung für die FTAA (Free Trade Agreement of the Americas – Freihandelszone der Amerikas) gefordert. Er hat aber keine Verstaatlichung gefordert und erklärt innerhalb des Kapitalismus agieren zu wollen. Es sieht so aus, dass er eine Politik zwischen der eines Chavez und eines Lulas machen will. Eine von ihm angeführte Regierung wäre für George Bush und den US-Imperialismus sehr irritierend. Bis jetzt konnten sie mit dem US-freundlichen Präsidenten Vincente Fox zusammenarbeiten, der eine thatcheristischen Politik gefolgt ist. Der Sieg von Lopez Obrador würde vermutlich eine Flut von neuen Kämpfen der mexikanischen ArbeiterInnen und BäuerInnen auslösen. Das würde nördlich der Grenze  wichtige Folgen unter der Latino-Bevölkerung in den USA haben, die bereits in eine Massenbewegung gegen das Bush-Regime involviert war.

Neue linke Regierungen

Die Wahl von Evo Morales wird von den lateinamerikanischen Massen als enormer Sieg gesehen worden. Ein wichtiger Faktor darin ist dass er aus der indigenen Bevölkerung stammt – er ist Amaya. Das ist das erste Mal, dass ein nicht europäisch-stämmiger Präsident in Bolivien gewählt wurde – trotz der überwiegenden Mehrheit der indigenen Bevölkerung. Die Revolten der indigenen Bevölkerung in Lateinamerika spielten eine wichtige Rolle bei den Bewegungen, besonders in den Andenländern Bolivien, Peru, Ecuador, und auch in Venezuela, Mexiko und Chile.

Die Machtübernahme von neuen, radikal-populistischen Regierungen in Venezuela, Argentinien und Bolivien stellt eine Abweichung von den ideologischen und wirtschaftspolitischen Tendenzen dar, die noch in den neunziger Jahren dominant waren. Sie spiegeln die massive soziale Krise wieder, die diese drei Länder erschüttert haben und stellen einen Bruch mit der neoliberalen Politik von Privatisierung und dem „ungezügelten“ freien Markt dar. Sie stellen auch eine Quelle der Irritation und des Konflikts für den US- und den europäischen Imperialismus dar, die wichtige Investitionen in Lateinamerika getätigt haben – wie zum Beispiel Spanien oder Frankreich. Diese Entwicklung hat bereits eine Debatte auf der Linken in Lateinamerika darüber eröffnet, welches Programm und welche Art von Regierung nötig sind, um mit dem Kapitalismus und dem Imperialismus zu brechen.

Lulas Rolle in Brasilien

Allerdings war dieser Prozess nicht einheitlich. Eine andere Schicht von Repräsentanten der „Neuen Linken“ ist in Ländern wie Brasilien, Uruguay und Chile an die Macht gekommen. Die Wahl von Lula (Brasilien), Tabare Vazquez (Uruguay) und zuletzt Michel Bachelet (Chile) spiegeln dasselbe anti-neoliberale Bewusstsein wieder, das bereits den gesamten Kontinent erfasst hat. Lucio Gutierrez in Ecuador war als Chavez-ähnliche Figur, auf Grundlage eines anti-neoliberalen Programms an die Macht gespült worden. Er hat allerdings sofort gegenüber dem IWF und dem Imperialismus klein beigegeben und neoliberale Maßnahmen angekündigt. Als Folge dessen wurde er von einer Massenbewegung von ArbeiterInnen, Landbevölkerung und der indigenen Bevölkerung 2005 gestürzt – der dritte Präsident der in Ecuador seit 1996 von einer Massenbewegung gestürzt worden ist.

Eine Ausnahme stellen Kolumbien und Peru dar. In Kolumbien gibt es  allgemeine Gewalt und Konflikte, die von den  Drogenkartellen und rechten Paramilitärs ausgehen. Vor diesem Hintergrund und den Guerilla-Kampagnen der FARC und der ELN, wurde der von den USA unterstützte Alvaro Uribe wieder gewählt. In Peru war die Alternative des Nationalisten Ollanta Humala nicht attraktiv genug um das Comeback von Alan Garcia, einem Vertreter der ältesten populistischen Partei in Lateinamerika, APRA, die nun nach rechts gerückt ist, zu verhindern. Garcia war in den achtziger Jahren von der Macht verdrängt worden, nachdem seine Regierung Preiserhöhungen von bis zu 1 000 000 Prozent zugelassen hat. Im Allgemeinen sind aber die alten, etablierten Politiker und Parteien aus dem Amt gedrängt worden. Die Vertreter der „Neuen Linken“ (neu wie bei „New Labour“, der neoliberal gewendeten Labour Party in Großbritannien, A.d.Ü.) der Partido dos Trabalhadores (PT - Arbeiterpartei) in Brasilien, der Partido Socialista in Chile und Frente Amplio in Uruguay, sind unter hohem Erwartungsdruck für grundlegende Veränderungen an die Macht gekommen. Allerdings sind die Hoffnungen der ArbeiterInnen und Jugendlichen in diesen Ländern sehr rasch enttäuscht worden. Diese Regierungen haben gegenüber den Forderungen des Imperialismus und ihrer eigenen herrschenden Klassen kapituliert, und setzen nun die neoliberale Politik ihrer Vorgänger fort.

Dieser Prozess hat in Brasilien mit der Wahl von Lula begonnen, der sogar bereits vor seiner Wahl den IWF und andere imperialistische und kapitalistische Institutionen überzeugt hat, dass er die Politik seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso fortsetzen würde. Er hat nichts getan um die massiven Ungleichheiten, die in der brasilianischen Gesellschaft existieren, auszumerzen. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 47 Prozent des Nationalen Einkommens konsumieren, bekommen die ärmsten 10 Prozent lediglich 0,5 Prozent davon.

Die Mehrheit der herrschenden Klasse stützt sich zufrieden auf die Lula- Regierung, die weitere Attacken auf die Arbeiterklasse umsetzt. Fortgesetzte Privatisierung, keine effektiven Schritte zur Armutsbekämpfung und eine Serie von Korruptionsskandalen hätten heftige Kämpfe der Arbeiterklasse und der Jugend hervorgerufen, wenn die traditionellen kapitalistischen Parteien und Politiker am Ruder gewesen wären. Lula gelang es zum Teil, mit Hilfe der verräterischen Rolle der Führung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, die Arbeiterklasse in den letzten vier Jahren relativ ruhig zu halten. Die Mehrheit der CUT Führung ist heute ein integraler Bestandteil der Regierung und erfüllt eine Funktion als „inoffizielles Arbeitsministerium“.

Das Anhalten eines sehr labilen Wirtschaftswachstums aufgrund der Situation in der Weltwirtschaft, die Angst vor der Wiederkehr der traditionellen kapitalistischen Parteien, Uneinigkeit unter den anderen kapitalistischen Politikern und das Fehlen einer starken Alternative haben Lula zeitweilig erlaubt eine Basis unter älteren ArbeiterInnen zu halten. Sein wahrscheinlicher Sieg bei den Wahlen im Oktober wird keine reine Wiederholung seiner ersten Amtszeit sein. Eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, aufgrund der zusätzlichen Gefahr einer weltweiten Rezession, kann für machtvolle Kämpfe von ArbeiterInnen, Landlosen, Jugendlichen und der städtischen Bevölkerung nach den Wahlen Tür und Tor öffnen. Der Autohersteller Volkswagen hat zuletzt angekündigt, seine Belegschaft von 21 500 auf 15 500 zu verringern. Das zeigt die Größenordnung, die zukünftige Angriffe der herrschenden Klasse annehmen können und die sehr wahrscheinlich große Bewegungen und Kämpfe der Arbeiterklasse auslösen werden.

Bereits jetzt gibt es wachsende Unterstützung für eine radikale sozialistische Alternative. Eine bedeutende Schicht von SozialistInnen und AktivistInnen der Arbeiterbewegung haben begonnen, eine solche aufzubauen. Die Gründung der P-SOL stellt einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. Mit sieben bis acht Prozent Unterstützung in Umfragen wird die P-SOL während der Präsidentschaftswahlen große Möglichkeiten haben, ihre Basis auszubauen. Wenn die P-SOL sich auf eine Strategie rund um ein radikales sozialistisches Programm einigen kann, und es ihr gelingt zu einem wirklichen Kampfinstrument der Arbeiterklasse zu werden, hat sie die große Chance während und nach den Wahlen zu wachsen. Allerdings findet zurzeit eine Debatte innerhalb der P-SOL darüber statt, welches Programm sie annehmen soll und wie die Partei aufgebaut werden soll. Teile der Führung versuchen das Programm abzuschwächen und die Partei nach rechts zu verschieben und zu verhindern, dass eine wirklich kämpferische, demokratische Partei, die für Sozialismus kämpft, entsteht. Die P-SOL hat große Möglichkeiten sich zu einer starken Kraft zu entwickeln. Allerdings könnte dieses Potential ungenutzt bleiben, wenn es der Partei nicht gelingt, die Idee einer sozialistischen Alternative zu verteidigen und sich durch Beteiligung und Eingreifen in Klassenkämpfe eine Basis aufzubauen.

Mit dem Wiederaufbau einer kämpferischen Alternative wird auch bereits in den Gewerkschaften begonnen, mit Vorbereitungsschritten für die Bildung einer neuen Dachgewerkschaft. Hunderte von lokalen Gewerkschaftsgliederungen haben sich bereits von der CUT losgelöst oder aufgehört ihre Beiträge an die CUT zu entrichten.

Studierendenproteste in Chile

Während es Lula geschafft hat, starke soziale Bewegungen in den letzten Jahren weitgehend zu unterbinden, war Michel Bachelet, „sozialistische“ Präsidentin in Chile, in der Hinsicht glücklos. Weniger als drei Monate nachdem sie ihren Eid geschworen hatte, sah sie sich bereits der ersten Mobilisierung von SchülerInnen gegenüber, die Änderungen im gesamten Bildungssystem forderten. Das war die größte Jugendbewegung in Chile seit dem Militärputsch 1973. Die Bewegung zwang die Regierung zu Zugeständnissen, darunter die Erhöhung des Bildungsbudgets um 200 Millionen US-Dollarund die Abschaffung der Gebühren für die Aufnahmetests an den Universitäten.

Auffällig an diesen Protesten war die scharfe Repression durch die verhasste Polizei. Das gilt auch für die allgemeine Situation. Die Wiederkehr der „Demokratie“ nach den Militärdiktaturen der siebziger und achtziger Jahre hat nicht das Ende der brutalen Polizeirepression gegen Arbeiterbewegung, Landbevölkerung und die Stadtarmut in den stattfindenden Kämpfen bedeutet. In Chile, Brasilien, Mexiko, Bolivien und anderen Ländern wurden die Massen, wenn sie auf die Straße gingen um für ihre Rechte zu kämpfen, mit Wasserwerfern, Tränengas und in einigen Fällen scharfer Munition beschossen. In Chile hat das als Wortspiel eine eigene Bezeichnung: „demodura“ (harte Demokratie) im Gegensatz zur „dictatura“ (Diktatur).

Der erste „100-Tage-Plan“ der Bachelet-Regierung ist  von den Schülerprotesten gestoppt worden. Das brachte die Regierung in eine schwere Krise und öffnet ein neues Kapitel im Kampf der chilenischen Bevölkerung nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990. Das Beispiel, dass die Jugend hier gesetzt hat, kann von weiteren Kämpfen der Arbeiterklasse imitiert werden, die von der Bewegung inspiriert wurden. Auffällig war auch, dass die SchülerInnen instinktiv die Notwendigkeit ihrer Unterstützung in der Arbeiterschaft und anderen Teilen der Bevölkerung begriffen, und diese auszubauen verstanden. Mehr als achtzig Prozent gaben an, dass sie die Studierenden und SchülerInnen unterstützten, und nur 17 Prozent unterstützten die Regierung.

Diese Bewegung hat auch weitere Auswirkungen. Chile war als wirtschaftliches Aushängeschild von Lateinamerika präsentiert worden. Mit Rekordwachstum, beeindruckenden Investitionen in die Infrastruktur, besonders im Transportwesen, sollte Chile das nachzuahmende neoliberale Modell sein – glaubt man den kapitalistischen Analysen. Teile der chilenischen herrschenden Klasse sprachen von ihrem Land sogar als einer „entwickelten Wirtschaft“. Allerdings war das Wachstum stets einseitig. Es ging Hand in Hand mit einer massiven Erhöhung der Ausbeutung der chilenischen Arbeiterklasse.

Die Bankangestellten befinden sich zurzeit in einer Kampagne zur Verhinderung der Sonntagsöffnungszeit. Bessere Wohnungen, der Kauf von Häusern, Autos und anderen Konsumgütern wurden hauptsächlich durch die Anhäufung massiver Schulden finanziert. Die überwiegende Mehrheit des gewachsenen nationalen Einkommens, das vor allem durch hohe Kupferpreise und Agrarexporte von Früchten und Weinen erzeugt wurde, wurde von der reichen Elite eingestreift. Die reichsten 20Prozent der Bevölkerung beziehen 62,2 Prozent des nationalen Einkommens, während die untersten zwanzig Prozent mit 3,3 Prozent überleben sollen!

Bezeichnenderweise entstand diese enorme Jugendbewegung als die Wirtschaft begonnen hatte sich zu verlangsamen. Indem sie die „Marktorientierung“ des Bildungssystems bekämpften, haben die Jugendlichen das gesamte neoliberale Modell in Frage gestellt. Sie haben nicht nur die Privatisierung des Bildungssystems in Frage gestellt, sondern auch die ganze Gesellschaft. Die volle Auswirkung dieser Bewegung wird in Chile und im Kontinent erst später spürbar werden. Allerdings ist klar, dass die „sozialistische“ Regierung nicht dieselbe Ruhe haben wird, wie die vorherigen Koalitionsregierungen. Bachelet und ihre kapitalistische Koalition werden ohne Zweifel versuchen weitere neoliberale Reformen umzusetzen.

Sie werden dabei aber auf wesentlich größeren Widerstand von Seiten der Arbeiterklasse stoßen. Während der Schüler- und Studierendenproteste fielen Bachelets Umfragewerte von 67 Prozent Zustimmung im Mai auf 56 Prozent im Juni, nur drei Monate nachdem sie Präsidentin wurde. Das Festhalten an neoliberaler Politik durch die Regierung und die schnelle Entwicklung von Widerstand gegen Bachelet bestätigen, wie falsch es von der Kommunistischen Partei Chiles und einigen anderen, die behaupten marxistische Ideen zu verteidigen, war, Bachelet im zweiten Wahlgang zu unterstützen. Die Kommunistische Partei hat für diesen Fehler mit einer massiven innerparteilichen Krise bezahlt. Das CWI und seine Schwesterorganisation in Chile, Socialismo Revolucionario, haben stattdessen dafür argumentiert ungültig zu wählen und eine Kampagne zum Aufbau einer neuen Arbeiterpartei zu beginnen, die für sozialistische Politik kämpf. Die Krise der Kommunistischen Partei steht im Widerspruch zur Popularität des radikalen Kandidaten Tomás Hirsch, der in der Präsidentschaftswahl als Mitglied der „Humanistischen Partei“ für das linke Bündnis „PODEMOS“ antrat, und der in der zweiten Wahlrunde aufgrund von Bachelets neoliberaler Ausrichtung dazu aufrief ungültig zu wählen.

Staatsintervention

Der Aufstand gegen den Neoliberalismus hat einer neue Welle von radikalen, linkspopulistischen Regierungen in Venezuela, Argentinien und Bolivien den Weg geebnet. Dies ist ein Ausdruck des massiven Drucks der Massen und der tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise dieser Länder. Diese neuen Regierungen, die eine Politik von stärkerer Staatsintervention in der Wirtschaft unterstützen, stehen für wichtige Änderungen in der Weltsituation nach 1990.

Diese Maßnahmen haben in begrenzter Form auch teilweise Verstaatlichung beinhaltet. In Venezuela entstanden Joint Ventures zwischen staatlichen Gesellschaften und privaten Multis. In Argentinien hat die Regierung Kirchner die Kontrolle über die Verwaltung der Flughäfen wieder an sich genommen, 40 Prozent der privatisierten staatlichen Fluglinie Aerolineas Argentinas erworben, und über einen Staatsbetrieb auch den privatisierten Wasserversorger in der Hauptstadt Buenos Aires übernommen.

Die „Verstaatlichung“ der Öl- und Gasindustrie in Bolivien durch Morales ist jedoch bis dato die signifikanteste Entwicklung und hat eine große Opposition der herrschende Klasse hervorgerufen – besonders in Brasilien und Spanien, die den größten Teil dieser Industrien besitzen. In der Arbeiterklasse in ganz Lateinamerika hat diese „Verstaatlichung“ allerdings einen großen Eindruck hinterlassen und erfreut sich größter Popularität. Brasilien, die größte regionale Macht in Lateinamerika, hat sehr große Investitionen in Bolivien. 51 Prozent des Gasverbrauches kommen aus Bolivien, in der Großstadt Sao Paulo sogar 75 Prozent. Der brasilianische Konzern  Petrobras kontrolliert 46 Prozent von Boliviens Gasressourcen und 95 Prozent der Raffinerien. Sein Umsatz in Bolivien stellt 19 Prozent des Bruttoinlandsproduktes des Landes dar.

Diese Staatsintervention hat massiven Widerstand des Imperialismus und Teilen der nationalen kapitalistischen Klasse ausgelöst. Allerdings handelt es sich bei diesen Maßnahmen nur teilweise um wirkliche Verstaatlichungen. In einigen Fällen ist es nicht mehr als eine Form von Joint Venture. Sogar in Bolivien wurde von Morales nichts anderes getan, als Joint Ventures zu errichten, in denen der Staat 50 Prozent plus eine Aktie kontrolliert – und zwar in Betrieben die vor der Privatisierung 1996 ganz in Staatsbesitz waren. Damit steht er weit hinter der Verstaatlichung von Standard Oil 1937 oder Gulf Oil 1969 zurück.

Er erfüllt damit auch nicht die Forderungen der bolivianischen Massen, die die Verstaatlichung von Öl und Gas unterstützen. Diese Teilmaßnahmen sind völlig unzureichend um mit dem Kapitalismus zu brechen. Im Gegenteil, sie sind Teil einer Alternative die von Morales, Chavez und Kirchner propagiert wird – der Aufbau eines „Andenkapitalismus“ als Alternative zum neoliberalen Modell – ein Kapitalismus mit einem menschlicheren Antlitz.

Argentinien

In Argentinien versucht Kirchner zum traditionellen Peronismus zurückzukehren - zum Peronismus aus der Ära vor Carlos Menem - zu Staatsinterventionismus der durch eine starke, einflussreiche Gewerkschaftsbürokratie flankiert wird. Im Aufsichtsrat der neu verstaatlichten Wassergesellschaft sitzen Repräsentanten der peronistischen Gewerkschaften. Im Bereich des Flugwesens bekleidet Ricardo Ciielli, ein einflussreicher Gewerkschaftsführer, den Posten des Vize-Staatssekretärs im Zuständigkeitsbereich „Transporte Aerocomercial“.

Jedoch ist diese Rückkehr zum Staatsinterventionismus nicht dasselbe wie die Maßnahmen, die von der peronistischen Regierung nach dem zweiten Weltkrieg eingeführt wurden. Damals sorgte der Fleischexport in ein hungerndes Europa dafür, dass sich die herrschende Klasse ein Polster bilden konnte, mit dem wichtige Reformen finanziert wurden und von denen die Arbeiterklasse profitierte. Daraus bezog die populistisch- nationalistische peronistische Bewegung ihre Massenunterstützung von der sie jahrzehntelang profitierte. Obwohl er zurzeit breite Unterstützung genießt, hat Kirchner nicht dieselbe komfortable Ausgangsposition und auch nicht die Mittel um nachhaltige Reformen zu garantieren.

Die Medien berichteten von einem jährlichen Wachstum von mehr als 9 Prozent über die letzten vier Jahre. Die Millionen haben davon aber nicht profitiert, 58 Prozent der argentinischen Kinder leben immer noch in Armut. Die restaurierte ehemalige Hafengegend von Buenos Aires, Puerto Madero, ist voll von teuren Cafés und begehrten Appartements. Aber sogar hier zeigt die Eröffnung einer Suppenküche die Ungleichmäßigkeit des Booms und entblößt die Tatsache, dass die Kluft zwischen arm und reich - trotz wachsender Wirtschaft - sich ausgeweitet hat. Es ist ein labiler Boom, getragen von der Bauwirtschaft und dem Wachstum von Agrarexporten beispielsweise nach Chile. Tritt die Weltwirtschaft in Stagnation oder Rezession, brechen auch diese ein. Kirchner kombiniert seine Politik von mehr Staatsintervention mit Angriffen und Repression gegen Belegschaften und Arbeitslosen, die in Kämpfe involviert sind.

Regionaler Konflikt

Das Aufkommen dieser radikalen populistischen Regierungen hat die Konflikte zwischen diesen Regierungen und dem Imperialismus sowie auch mit den neoliberalen Regierungen in anderen lateinamerikanischen Ländern verstärkt. Venezuela, Bolivien und Argentinien, mit der Unterstützung von Kuba, bilden momentan eine Kerngruppe von Ländern, die mit den Interessen des Imperialismus und anderen Regionalmächten wie Brasilien, Kolumbien und Chile in Konflikt geraten sind.

Die Konflikte spiegeln die unterschiedlichen nationalen Interessen der einzelnen herrschenden Klassen wieder. Während diese Kerngruppe, angeführt von Venezuela, auf eine größere regionale Integration spekulieren, und Handelsverbindungen mit anderen Ländern als die USA bilden wollen (wie z.B. Europa, China und Russland), favorisieren Chile, Brasilien, Kolumbien und vor allem Mexiko stärkere Kooperation und Integration mit der US-Wirtschaft. Aber sogar diese Entwicklungen sind widersprüchlich. Während der US-Imperialismus beim Gipfel der Amerikas im Jahr 2005 hinsichtlich seines Vorschlags mit der Freihandelszone FTAA fortzufahren eine Niederlage einstecken musste, haben viele lateinamerikanischen Länder versucht eigene bilaterale Abkommen mit den USA abzuschließen.

Zur selben Zeit wurden nationalistische Tendenzen durch eine Serie von Konflikten zwischen einzelnen Ländern über Handelsabkommen und Grenzziehungen verstärkt. Argentinien steht in Konflikt mit Uruguay, Bolivien mit Brasilien und Chile, Peru wiederum mit Chile. Dies hat dazu geführt, dass sich die nationalistische Züge in den radikalen populistischen Bewegungen in einigen Ländern verschärft haben. Das spiegelt zum einen die antiimperialistische Stimmung, die in ganz Lateinamerika existiert wieder, aber auch die Versuche der herrschenden Klassen nationalistische Gefühle innerhalb des Kontinents zu schüren. Das ist eine potentielle Gefahr für die Massen, die die Arbeiterklasse, die Stadt- und die Landarmut durch den Aufbau einer starken sozialistischen und internationalistischen Alternative zum Kapitalismus und Imperialismus überwinden muss.

Die teilweise Verstaatlichung von Petrobras hat in der brasilianischen herrschenden Klasse einen Schock ausgelöst. Sie versuchten daraufhin eine nationalistische Stimmung gegen Bolivien zu erzeugen. Die Presse malte das Bild einer kurz bevorstehenden Bedrohung der Gasversorgung an die Wand. Lula protestierte gegen die „Art und Weise“ wie Morales die Öl- und Gasbetriebe, die Petrobras gehörten „verstaatlicht“ hatte. Morales erklärte, dass er eine „politische Geste erbringen musste um eine Destabilisierung zu verhindern – Bolivien hatte in vier Jahren vier Präsidenten“. Wenn Morales nicht Schritte gegen Petrobras und Repsol unternommen hätte, dann wäre es zu einer frühzeitigen Konfliktsituation mit den Lohnabhängigen und den BäuerInnen gekommen, die ihn an die Macht gebracht haben. Obwohl Morales gezwungen war, eine Teil- Verstaatlichung von Öl und Gas durchzuführen, hat er zur selben Zeit die Armee benützt um die Flughäfen zu besetzen, als die ArbeiterInnen der bankrott gegangenen bolivianischen Fluglinie Lyoyd Aero Boliviano deren Verstaatlichung forderten.

Die Massenarmut in Angriff nehmen

Chavez und Morales haben einige begrenzte, sehr willkommene Reformen durchgeführt. Das betrifft besonders den Gesundheits- und Bildungsbereich sowie die Ausgabe billigen Essens. In Venezuela geschieht das durch die Einrichtung von „missiones“ die eine gewisse Erleichterung für Teile der ärmsten Schichten der Gesellschaft gebracht haben. In Bolivien ist der Mindestlohn um 13 Prozent von 440 Bolivianos (55 US-Dollar) auf 500 Bolivianos (63 US-Dollar) angehoben worden, das ist aber noch weit weniger als die vor den Wahlen versprochenen 1500 Bolivianos (192 US-Dollar).

Immer noch erhalten fast 30 Prozent der Stadtbevölkerung weniger als den Mindestlohn. Die Entsendung von kubanischen Ärzten nach Bolivien hat es ermöglicht 7000 Graue-Star-Operationen in zwei Monaten durchzuführen. Und zwar unter den ärmsten Schichten der Bevölkerung, die sich niemals die 500 bis 700 Dollar leisten können, die in den Privatkliniken von La Paz dafür verlangt werden.

Während diese Reformen zwar freudig begrüßt werden, haben sie dennoch nicht die Massenarmut bekämpfen können. Der Kapitalismus verurteilt 67,3 Prozent der bolivianischen Bevölkerung zu einem Leben in Armut. Dasselbe Problem existiert in Venezuela, wo zu der weiterhin bestehenden Armut noch ein Anwachsen von Bürokratie und Korruption kommt, bedingt durch den ausgedehnten Staatssektor der ohne eine wirklich demokratische Arbeiterkontrolle- und Verwaltung geführt wird.

Während die Chavez-Regierung vom steigenden Ölpreis am Weltmarkt bis jetzt profitiert, kann dieses Polster in den nächsten Monaten und Jahren schwinden, was eine tiefe soziale und politische Krise auslösen wird. Wenn die Arbeiterklasse nicht die notwendigen Schritte ergreift um ihre eigenen unabhängigen Organisationen zu bilden und eine Arbeiter- und Bauernregierung zu etablieren, kann die Bedrohung durch die Konterrevolution und einen Sturz von Chavez wieder akut werden.

In Bolivien hat Morales noch weniger Raum für Manöver. Dies liegt an der  weitaus tieferen sozialen und wirtschaftlichen Krise, der grassierenden Armut und der starken Tradition von unabhängigem revolutionärem Kampf der Arbeiterklasse und der Bauern. Obwohl Chavez die Sympathie der Masse der Arbeiterklasse auf seiner Seite hat, führt die Tatsache dass er nicht mit dem Kapitalismus bricht, die um sich greifende Korruption und wachsende Bürokratie sowie das Fehlen von Arbeiterkontrolle und –Verwaltung dazu, dass viele ArbeiterInnen in Lateinamerika seiner Regierung gegenüber skeptisch sind.

Eine Umfrage der brasilianischen Tageszeitung „O Estado“, die auf seine Popularität in Bolivien hinwies, ergab, dass nur 14 Prozent der BrasilianerInnen ein positives Bild von Chavez haben. Lediglich zehn Prozent meinten, dass sein „Bolivarianisches Modell“ nachahmenswert sei. Gleichzeitig hat dieselbe Umfrage festgestellt, dass 60 Prozent die Verstaatlichung natürlicher Ressourcen und 78 Prozent Maßnahmen, wie staatliche Kontrolle über die multinationalen Konzerne und Banken sowie über Preise unterstützen.

Der Aufstand der Massen gegen den Neoliberalismus und die sich auf dem  ganzen Kontinent entwickelnde Krise, verlangen nach eigenen politischen und sozialen Organisationen der Arbeiterklasse und der armen Landbevölkerung. Solche brauchen ein Programm, dass mit dem Kapitalismus bricht und den Imperialismus herausfordert. Die Errichtung von Arbeiter- und Bauernregierungen mit revolutionärem sozialistischem Programm ist dringend nötig. Solch ein Programm muss bei der Verstaatlichung der großen Betriebe, Banken und multinationalen Konzernen in jedem Land ansetzen, und einer wirklichen Landreform, wo diese nötig ist. Nur dann wird es möglich sein, den Kapitalismus zu besiegen und mit dem Aufbau einer geplanten Wirtschaft zu beginnen, die sich nach den Bedürfnissen der Massen richtet.

Solch ein Programm kann sich auch nicht auf ein Land beschränken. Die aktuelle Energiekrise auf dem Kontinent zeigt die Notwendigkeit von regionaler Integration und Planung der Wirtschaft. Chavez hat zur Bildung einer lateinamerikanischen Öl- und Gasgesellschaft, der „Petrosur“, aufgerufen. Aber wie wird das auf kapitalistischer Basis möglich sein? Um ein solches Vorhaben zu ermöglichen, müsste die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung die Kontrolle und Verwaltung der Wirtschaft und der Gesellschaft übernehmen. Nur dann könnten die riesigen Ressourcen des Kontinents im Sinne der Bedürfnisse der Massen eingesetzt und geplant werden, anstatt jener der herrschenden Klasse und des Imperialismus. Der Aufbau einer freiwilligen, demokratischen sozialistischen Föderation lateinamerikanischer Staaten ist die einzig wirkliche Alternative zu Kapitalismus und Imperialismus und der einzige Weg um die Armut und Ausbeutung, die den Kontinent plagen, auszumerzen. Ein Schritt in diese Richtung wäre die Errichtung einer demokratischen sozialistischen Föderation von Venezuela, Kuba und Bolivien auf der Basis der Bildung von demokratischen Arbeiter- und Bauernregierungen in diesen Ländern. Das ist der Weg um mit der Einigung des Kontinents und der Planung der Ressourcen und der Wirtschaft zu beginnen, als einer Alternative zu den kapitalistischen Handelsblöcken und Abkommen die derzeit entstehen.

Editorische Anmerkungen

Tony Saunois ist Lateinamerika-Sekretär des Komitees für eine Arbeiterinternationale. Er hat im Frühjahr 2006 Brasilien und Chile besucht.

Den Text erhielten wir von Sascha Stanicic (SAV) zur Veröffentlichung.