Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
7/8-06

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III. MITTELALTER Zur Kapitelübersicht

1. Die Kirche.

Wunderbar war der Siegeszug des christlichen Glaubens in den ersten Jahrhunderten. Das religiöse und sittliche Gemütsleben der niedrigsten Schicht eines kleinen und verachteten Volkes, die wenigen Ideen, die ursprünglich aus dem Wirken armer Fischer und Handwerker ausstrahlten, übten einen unwiderstehlichen Zauber auf alle, die mit ihnen in enge Berührung kamen. Das Christentum war die Forderung der Sozialethik, aber auch die Sprache einer Seele, die das Eitle und Nutzlose imperialistischer Gewalt und Machtentfaltung erkannte und sie von sich warf, um ewige Werte zu sammeln. Und die Sprache wurde von den Seelen verstanden, die unter dem wirtschaftlichen und geistigen Druck römischer Herrschaft, römischer Raffgier gelebt und gelitten haben. Die Taten der letzten republikanischen Imperatoren und der neuen Cäsaren, der Prokonsuln und der Finanzleute bildeten damals den Gipfelpunkt alles dessen, was mit staatlich-mechanischen, grobmaterialistischen Mitteln geleistet werden konnte. Und doch sehnten sich Vergil und Seneca und Tacitus nach einem Leben der Einfachheit und primitiven Tugend. „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?" In diesen, den Imperialisten und Reichtumsanbetern ewig unverständlichen Worten drückte Jesus die neue Erkenntnis aus, die im Seelenleben der Besten des weiten Römischen Reiches aufzudämmern begann. Und sie suchten die kleinen Gemeinden, auf, die die neue Erkenntnis verbreiteten. Arme und Reiche, Niedrige und Hohe, Unfreie und Freie sammelten sich um die neue Lehre. Und mit dem Wachsen der Gemeinden änderte sich ihre Verfassung, ihre Anschauung und ihre Haltung gegenüber der Außenwelt.

Die Differenzierung in solchen Bewegungen entspringt sowohl den verschiedenen geistigen Bedürfnissen wie den gegensätzlichen materiellen Interessen derjenigen, die sich ihnen anschließen. Viele schlössen sich der Botschaft und der Lehre Jesu an, weil sie vor allem eine gerechtere Wirtschaftsordnung, eine Befreiung vom äußeren Druck anstrebten; andere wieder nahmen sie an, weil sie in seelischer Not waren: sie hatten die alte Religion, die alte Lebensauffassung verloren; eine peinvolle Leere war in ihrem Herzen entstanden und sie suchten sie auszufüllen. Zur ersteren Kategorie gehörten die einfachen, jüdischen, hellenischen und römischen Leute, meistens ungebildete Handwerker und Sklaven, die nach sozialer Gerechtigkeit dursteten. Zur ändern Kategorie gehörten die jüdischen, hellenischen und römischen Gebildeten, deren Geist und Seele mit der alten Religion und Sittlichkeit und Weltanschauung zerfallen waren und nach neuen Wahrheiten suchten; wirtschaftliche und politische Erwägungen kamen bei ihnen kaum in Betracht. Ihre Bildung und höhere soziale Stellung erhob sie bald zu Führern, Lehrern und Erklärern der neuen Lehre. Ihrem ganzen Bildungsgange und Gemütsleben nach mußten sie die neue Lehre weniger nach der sozialwirtschaftlichen Seite hin als nach der religiös-philosophischen ausbauen und befestigen. Bei der ersteren Kategorie war das kommunistische Lebensideal, die sozialethische Praxis die Hauptsache. Bei der anderen Kategorie handelte es sich in erster Linie um die richtigen Glaubenssätze, um die philosophische und rechtliche Begründung der Lehre. Die Mitglieder der ersten Kategorie dachten vor allem an einen Kampf gegen die Mächtigen und Reichen; die Mitglieder der ändern Kategorie zielten auf eine Polemik gegen Juden und Heiden ab, auf eine wissenschaftliche Rechtfertigung der neuen Lehre. Die ausgesprochensten Vertreter dieser Kategorie sind Paulus und Augustinus mit ihrer streng legalistischen (auf äußere Gesetzlichkeit und staatliche Ordnung) hinzielender Geistesrichtung, während die griechischen Kirchenväter zwar die eigentlichen philosophischen Begründer der christlichen Theologie waren, aber die freiheitlich-seelischen Momente und die hellenisch kommunistischen Traditionen hochhielten und verteidigten, wenn auch oft genug nur theoretisch.

Hieraus entsprangen Gegensätze, die sich schon in den Urgemeinden bemerkbar machten.

Dann kamen die Krisen, die sich aus dem Wachstum der Gemeinden ergaben. Große Organisationen verlangen einen komplizierteren Apparat als kleine. Ferner, ziffernmäßig starke Parteien müssen früher oder später mit den äußeren Mächten in Berührung kommen, wobei sie entweder von ihnen beeinflußt werden oder sie beeinflussen jene, oder sie wirken aufeinander und modifizieren sich gegenseitig.

Bis etwa um die Mitte des 2. Jahrhunderts war die Verfassung der christlichen Gemeinden rein demokratisch und gleichheitlich. Der Zusammenhalt war sehr innig. Gütergemeinschaft oder eine von Herzen kommende sozialethische Praxis ließ in der Regel keine scharfen wirtschaftlichen Konflikte in den Gemeinden aufkommen. Es ist bezeichnend, daß die ersten Ämter in den christlichen Gemeinden die der Diakonie waren und Armen- und Krankenpflege betrafen. Sämtliche Mitglieder, soweit sie hierzu die Fähigkeiten besaßen, konnten zum Priesteramt gewählt werden. Sie wurden die Ältesten (presbyteroi, hiervon: Priester) genannt; das angesehenste Mitglied der Ältesten oder des Vorstandes wurde Aufseher (episcopos, hiervon: Bischof) genannt. Die Gemeinden jener Zeit kannten noch nicht den Unterschied zwischen Klerus (Auserwählten) und Laien (Plebejern). Erst mit dem numerischen Wachsen der Kirche und deren Aufgaben: Erziehung und Leitung der Massen von neuen Mitgliedern, sowie mit dem immer umfangreicheren Ausbau der einfachen christlichen Lehren zu einem theologischen System, wurde aus dem Klerus ein besonderer Stand, eine geistliche Bürokratie, die mit um so größerer Macht bekleidet wurde, als das Christentum zu Ansehen und Einfluß im Staate gelangte. Der Klerus stand dann als Macht da; er wurde von Steuern und Kriegsdiensten befreit, von der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit entbunden; er erhielt die Aufsicht über die sittliche Lebensführung der Laien, ebenso das Recht, Schenkungen und Erbschaften anzunehmen. Die urchristlichen Presbyter verwandelten sich in eine Hierarchie, in eine heilige Herrschaft mit Vorrechten und besonderen Befugnissen; aus den kleinen, verfolgten Gemeinden der armen Fischer und Handwerker, der Stillen und Entsagenden wurde eine machtvolle, reichbegüterte Staatskirche mit zahllosen Priestern in Dörfern und Städten, mit Bischöfen in größeren Städten, Metropoliten oder Erzbischöfen in den Provinzialhauptstädten, schließlich dem Bischof von Rom als Papst. Aus einer religiös-sozialethischen Gemeinschaft wurde eine politisch-wirtschaftliche Machtorganisation größten Umfangs, die — im Gegensatz zu den urchristlichen Gemeinden — für sich das Recht in Anspruch nahm, auch die Todesstrafe über diejenigen Christen verhängen zu lassen, die sich weigerten, die kirchlichen Dogmen anzuerkennen(1). Die Kirche wurde nach und nach sehr reich. Ihr Einkommen floß aus dem Zehnten, aus Schenkungen und Erbschaften. Ursprünglich als Armengut für soziale Zwecke gedacht und verwandt, fiel das Vermögen dann zu drei Vierteln der Hierarchie und dem Kultus zu und nur ein Viertel den Armen. Schließlich wurde es gänzlich Kirchengut und es wuchs und wuchs mit der Entfaltung der mittelalterlichen Zustände. Die Kirche wurde zur Herrin eines großen Teiles des Grund und Bodens. Zu Ende des siebenten Jahrhunderts besaß sie in Gallien schon ein Drittel alles Grund und Bodens und im achten Jahrhundert war der kirchliche Grundbesitz im Frankenreiche schon so bedeutend, daß die Karolinger einen großen Teil für Staats- und Militärzwecke beschlagnahmten (Schmoller, Die soziale Frage, 1918, S. 102.

Parallel mit dieser materiellen Anpassung ging eine geistige Anpassung an die Außenwelt. Der ursprüngliche Enthusiasmus verflüchtigte sich; die Aufopferungsfähigkeit wurde seltener; die Hingabe und die Entsagung machten dem Almosengeben Platz; an Stelle der vom Herzen kommenden Solidarität traten pflichtgemäße, vorgeschriebene Leistungen für die Gemeinde; die Priester und Kirchenvorsteher mieden nicht mehr den Umgang mit den staatlichen Behörden, sondern kamen mit ihnen in Berührung und bewunderten im stillen die Kultur und die Bildung der klugen und guten Heiden. Der Zustrom von Mitgliedern aus den verschiedensten Schichten der römischen Gesellschaft zur neuen Religion wirkte ebenfalls zersetzend auf die urchristliche Lebensführung. Im dritten Jahrhundert fand man schon Christen in den verschiedensten Berufen: in den römischen Legionen, am Hofe der Cäsaren, in der Beamtenwelt, im Geschäftsleben, in der Gelehrtenwelt. Das Christentum drang in alle Poren der römischen Gesellschaft ein und brachte von dort die verschiedensten Empfindungen, Ansichten und Traditionen in die Kirche zurück. In diesem Prozeß der Wechselwirkung zwischen Kirche und Welt, in dieser Kette von Kompromissen büßte das Urchristentum vieles von seinem alten Geiste und seiner alten Stärke ein. Die zeitweiligen Verfolgungen und Martyrien säuberten die Kirche von den unsicheren Kantonisten, Kompromißlern und Geschäftschristen (2), aber die Stürme waren bald vorüber und die Verweltlichung des Christentums nahm ihren Fortgang zum tiefen Schmerze der alten Genossen und der in den Überlieferungen des Urchristentums lebenden Frommen. Sie lasen die Bergpredigt, schöpften Kraft aus den Taten der Urgemeinden und wurden mit der Gegenwart unzufrieden. Zurück zu Jesus, zur Entsagung, zur Gütergemeinschaft oder zur apostolischen Armut! Hinweg von den Einflüssen der Weltlichkeit und des Staates, die die wahre Lehre untergraben und das Christentum verfälschen.

Aus diesem Unbehagen, das sich hier und da zur Opposition steigerte, wurde vorerst das Mönchtum oder der klösterliche Kommunismus, später aber das Ketzertum geboren. Mönchtum und Ketzertum entstammen derselben Wurzel, nur isolierte sich ersteres von der Kirche, ohne sie zu bekämpfen, während letzteres die Kirche umwälzen, reformieren wollte und deshalb zu deren Machthabern in einen scharfen Gegensatz geriet. Die Mönchsorden handelten, wie bereits bemerkt, nach Art der Utopisten, die allen Kampf verurteilen, den Staat in Ruhe ließen und nur hinter dem Rücken des Staates eine neue Gesellschaft aufzubauen suchten; die Ketzer handelten wie die modernen Sozialisten, die auf eine Umwälzung und eventuelle Abschaffung des Staates hinarbeiten. Die Klöster wurden in der Folge als Freunde und Bundesgenossen der Kirche behandelt; die Ketzer aber wurden als Rebellen dem Untergange durch Feuer und Schwert geweiht.

2. Die Germanen.

Als die Römer in der letzten Hälfte des letzten Jahrhunderts vor Christus und im ersten Jahrhundert nach Christus mit den germanischen Stämmen in unmittelbare oder mittelbare Berührung kamen, fanden sie in den Gebieten jenseits des Rheins soziale Zustände, die ihnen teils fremd, teils als naturrechtliches Ideal vorkamen: Etwas vom ursprünglichen Naturrecht schienen sie dort gefunden zu haben. Das gilt insbesondere vom römischen Geschichts-
 

Schreiber Tacitus, aber auch Julius Cäsar war nicht ohne naturrechtliche Kenntnisse, nur wogen bei ihm militärische und staatsmännische Erwägungen vor. Cäsar war der erste große römische Feldherr und Staatsmann, der aus eigener Anschauung die sozialen Zustände der germanischen Stämme beschrieb. In seinem Bericht über den von ihm geführten gallischen Krieg (58—51 v. Chr.) schildert er die Germanen, da er auch mit ihnen in kriegerische Verwicklungen geriet. Er berichtet:

„Der Stamm der Sueven ist bei weitem der größte und kriegerischste von allen Germanen. Sie haben, wie es heißt, hundert Gaue; aus jedem lassen sie alljährlich tausend Mann Bewaffnete, um Krieg zu führen, aus ihrem Gebiete ausziehen. Die übrigen, welche zu Hause geblieben sind, ernähren sich und jene. Diese wiederum stehen zur Abwechslung das Jahr danach unter den Waffen; jene bleiben zu Hause. Es wird weder der Ackerbau noch Geschick und Übung im Kriege je außer acht gelassen. Indessen Privatländereien und gesonderte Äcker gibt es bei ihnen nicht, und es ist nicht erlaubt, länger als ein Jahr auf ein und derselben Stelle behufs ihrer Erbauung zu bleiben. Auch bildet das Getreide keinen großen Teil ihrer Nahrung: den größten bilden Milch und Fleisch; auch sind sie viel auf der Jagd. Dies nährt, durch die Art der Speise, und die tägliche Übung, und die Ungebundenheit des Lebens (indem sie, von Kind auf an keine Pflicht und Zucht gewöhnt, durchaus gar nichts wider ihren Willen tun) die Kräfte und macht sie zu Menschen von ungeheurer Körpergröße... Kaufleuten gestatten sie mehr deshalb den Zugang, um Gelegenheit zu haben, was sie im Kriege erbeuteten, zu verkaufen, als daß sie nach der Einfuhr von irgend etwas Verlangen trügen" (Gallischer Krieg, IV, i).

Er berichtet weiter:

„Der größte Teil der Nahrung der Germanen besteht in Milch, Käse und Fleisch. Auch hat keiner ein bestimmtes Maß Ackerland oder eigenen Grundbesitz, sondern die Obrigkeit und die Fürsten (Führer oder Häuptlinge) weisen immer auf ein Jahr den Geschlechtern und den Sippschaften, die unter sich zusammengetreten sind, Ackerland an und verpflichten sie, das Jahr danach anderswohin überzusiedeln. Dafür bringen sie viele Gründe bei: damit sie nicht durch stete Gewohnheit befangen, den Kriegseifer gegen Ackerbau vertauschen; damit sie nicht weiten Grundbesitz zu erwerben suchten und die mächtigeren die niederen aus ihren Besitzungen verdrängten; damit sie nicht mit zu großer Sorglichkeit zum Schutz gegen Kälte und Hitze bauten; damit nicht etwa Geldgier aufkäme, woraus Parteiung und Zwietracht entstehe; damit sie das niedere Volk in guter Stimmung erhielten, wenn jeder sähe, daß sein Besitz mit dem der Mächtigsten gleichstände" (Cäsar, Gallischer Krieg, VI, 22).

In diesen Schilderungen eines sehr intelligenten Augenzeugen treten uns die germanischen Stämme zwar nicht mehr im Zustande des unverkümmerten Urkommunismus entgegen, aber die naturrechtlichen Kennzeichen der urkommunistischen Sippen- und Stammesorganisation treten noch sehr deutlich hervor: Gleichheit und Freiheit, Einfachheit und Tüchtigkeit. Die Spaltung der Stammesgenossen in Mächtige und Niedrige kann keine ökonomische gewesen sein, denn Cäsar gibt zu, daß Besitzgleichheit herrschte. Die Klassifizierung in Mächtige und Niedrige war allem Anscheine nach auf die Grade der persönlichen Tüchtigkeit zurückzuführen: die Germanen werteten einander nicht nach der Größe des Besitzes, sondern nach dem Grade der Tüchtigkeit in Verwaltung und Krieg. Dies gilt übrigens nicht von den Germanen allein, sondern von allen in der Sippen-und Stammesorganisation lebenden Völkerschaften. Das war eines der Kennzeichen der Urgesellschaft.

Etwa anderthalb Jahrhunderte nach Cäsar schrieb Tacitus (geb. 54, gest. 117) seine „Germania", die ebenfalls eine der Quellen der Geschichte der deutschen Urzeit bildet. Er berichtet über den Zustand der Germanen (Germania, 26):

„Die Ländereien werden je nach der Zahl der Bebauer wechselweise von allen insgesamt in Besitz genommen, die sie dann unter sich nach Rang und Würde verteilen. Erleichtert wird die Verteilung durch die weite Ausdehnung der Ebenen. Die Felder bewirtschaften sie jährlich wechselnd; und dennoch ist Land übrig((3)."

Zu Tacitus' Zeiten war die Zersetzung der urkommunistischen Zustände der Germanen viel weiter fortgeschritten als zu Zeiten Cäsars. Der Kontakt mit den Römern und den linksrheinischen Gebieten war lebhafter. Vorerst wurde von einzelnen Kriegern die gemachte Beute an fremde Händler verkauft. Und je mehr die Germanen mit der römischen Kultur in Berührung kamen, desto rascher verschwand der Urkommunismus, desto schneller zersetzte sich die Stammesgemeinschaft, und Handel und Privatwirtschaft fanden Eingang.

Am frühesten entstand Sondereigentum an beweglichen Dingen und an Vieh, dann an Haus und Hof, schließlich wurde auch die Feldmark geteilt; nur Weide und Wald blieben im Gemeinbesitz des ganzen Gaues und wurden Allmende (Allgemeines) genannt. Im Englischen nennt man noch heute die Wiesen „commons" oder Gemeinschaftliches.

Die Verwaltung war noch zu Tacitus' Zeiten bei den Germanen demokratisch und auf gemeinschaftlichem Prinzip aufgebaut. Die Einheit war nicht die Einzelperson oder der einzelne Bürger, sondern die Sippe (gens), die von ihrem Oberhaupte geleitet wurde. Sie war durch Blutsverwandtschaft und urzeitliche Tradition zusammengehalten. Die Sippe schützte jeden ihrer Genossen. Ihr gehörte auch der Grund und Boden. Das Heer beruhte auf der Sippe. Eheschließungen wurden von den beiderseitigen Sippen geordnet. Das Individuum ging gänzlich in der Sippe auf. Nachdem die Germanen seßhaft geworden waren, bildeten mehrere Sippen einen Gau, der zwar einen räumlichen Verband bedeutete, also einem neuzeitlichen Bezirk oder Kreis ähnlich war, aber es war doch immer noch die Blutsverwandtschaft und Stammeszugehörigkeit, die ausschlaggebend war und nicht der Raum, auf dem sie wohnten. Und das ist einer der Unterschiede zwischen Sippenorganisation (oder gentilizischer Organisation) der alten Zeit und der staatlichen Organisation der späteren Zeit. Die Urgesellschaft ist blutsverwandtschaftlich organisiert und bildet eine Gemeinschaft; die spätere Gesellschaft ist räumlich organisiert und ihre rechtliche Organisation ist der Staat.

Man darf sich auch durch die Worte: Könige, Fürsten und Behörden, die wir in den römischen Berichten über die germanische Urzeit finden, nicht zur Annahme verleiten lassen, daß diese Worte die gleichen Begriffe in sich bargen wie heute. Könige, Fürsten und Behörden waren damals nur die gewählten Führer des freien Volkes; sie waren gemeinschaftlich-demokratische Verwaltungspersonen oder leitende Genossen der Sippe und Gaue. Sie wurden in Versammlungen gewählt, die an bestimmten Tagen — am Neumond und Vollmond — stattfanden und über alle wichtigen Angelegenheiten, auch über Krieg und Frieden entschieden. Volle, demokratische Selbstverwaltung, freiwillige Sippen- und Stammesdisziplin war das Rückgrat des gesellschaftlichen Lebens der Germanen der Urzeit.

Andererseits darf nicht vergessen werden, daß die germanische Urgesellschaft eine sehr niedrige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungsstufe darstellte. Die Landwirtschaft war noch sehr primitiv und durch allerlei urkommunistische Traditionen, die jede persönliche Initiative ausschlössen, gehemmt. Sie war deshalb wenig ergiebig. Die Technik steckte in ihren Anfängen; das Eisen galt noch als eine Kostbarkeit. Die einzigen Handwerker waren der Schmied und der Töpfer. Städte gab es nicht, oder nur unter den linksrheinischen Germanen. „Die Stadt der Ubier" (Köln am Rhein), von der Cäsar oft erzählt, war eine römische Gründung. Die Macht der höheren wirtschaftlichen und technischen Kultur Roms erwies sich schließlich stärker als die militärische Überlegenheit der Germanen.

Die germanischen Stämme zerbrachen zwar das Römische Reich, aber sie konnten sein Erbe nicht antreten, sondern unterlagen schließlich seiner höhern Kultur. Auf der Höhe ihres Sieges über das Römische Reich blickten die Germanen, verblüfft und verwirrt, auf die umfassende staatliche Organisation, auf die Technik, auf das ganze Wirtschafts- und Geistesleben der römischen Welt und wußten mit ihr nichts anzufangen.

Das ganze Vordringen der Germanen nach dem Westen war von keinem Plane geleitet und konnte es auch nicht sein. Große historische Unternehmungen sind überhaupt nicht das Ergebnis bewußt entworfener Projekte, sondern die Folge elementarer Bewegungen. Erfolge in derartigen Ereignissen haben nur diejenigen Völker, die, wenn einmal die Bewegungen eingetreten sind, die Männer und die geistigen Kräfte besitzen, die Geschehnisse zu ihren Gunsten zu lenken, sie zu meistern und ihren Zwecken dienstbar zu machen.

Ihrer ganzen Entwicklungsstufe nach konnten die germanischen Stämme wohl große Krieger erzeugen, aber keine organisatorischen und geistig überlegenen Kräfte, die imstande gewesen wären, die Römer, die Erben der ganzen antiken staatsmännischen und geistigen Kultur, in den Hintergrund zu drängen und ein germanisches Weltreich zu gründen. Die Sippenorganisation ist dezentralistisch; sie hat weder die Übersicht noch die Mittel, die zur Verwaltung weiter Gebiete nötig sind.

Die vorwärtsdrängende Kraft war die Völkerwanderung. Sie entstand entweder infolge starker klimatischer Veränderungen in Mittelasien oder infolge der chinesischen Expansionsbestrebungen im zweiten Jahrhundert, die den mittelasiatischen Völkerschaften nicht mehr gestatteten, ihr Leben in der Heimat zu fristen. Von den Steppen Asiens schoben sich nomadenhafte oder seßhafte Stämme gegen den Westen vor. Eine Völkerwelle drückte auf die andere, bis sie auf Ost- und Westgoten am unteren Dnjepr und an der unteren Donau stießen. Die Goten waren der nach Osten vorgeschobenste Stamm der Germanen. Sie setzten sich in Bewegung, zogen westlich und südwestlich und drückten auf ihre slawischen Nachbarn und auf das Römische Reich. Hinter ihnen drängten die Hunnen, deren Züge jedoch nur eine Episode bildeten. Nach den Goten zogen die Vandalen, Sueven, Burgunder, Franken, Alemannen gegen Rom; im Jahre 410 nehmen die Westgoten Rom. Aber keiner der germanischen Stämme entwirft einen umfassenden politischen Plan zur Beherrschung des Römischen Reiches. Ihre Dezentralisation und Zersplitterung gestattet ihnen nur, sich Stücke aus dem Reiche auszuschneiden und wenig dauerhafte Staaten zu gründen, so die Westgoten in Südgallien und Spanien (415—711), die Vandalen in Nordafrika (429—534), die Ostgoten in Italien (493—553), die Langobarden in Italien (568—774). Die größte staatsgeschichtliche Tat war die der Franken, die das Frankenreich gründeten, das die meisten Romanen und Germanen vereinigte, aber trotz zeitweiliger Entfaltung ungeheurer germanischer Tatkraft nicht von Dauer war und bei weitem nicht die Einheit und die Verwaltungstalente des Römischen Reiches besaß. Es entstand zu Ende des 5. Jahrhunderts und zerfiel 843 (durch den Vertrag von Verdun). Seine überragende Gestalt war Karl der Große (768—814). Überall aber bezahlten die germanischen Stämme ihre Siege mit dem Untergange ihrer alten Stammesorganisation, ihrer Überlieferungen und Gebräuche, kurz: mit der Unterwerfung unter die römischen Kulturverhältnisse. Die Klassenteilung, Wirtschaftsweise, Lebensführung Roms wurden von den germanischen Siegern nach und nach angenommen.

Aber auch die römischen Kulturzustände litten stark unter den Wirren der Völkerwanderung, den Einbrüchen und Kriegen der Germanen und Hunnen, sowie den germanischen Reorganisationsversuchen. Die Städte nahmen an Bevölkerungszahl erheblich ab; der Rückgang und die Verödung der Städte bedeuteten die Rückbildung der gewerblichen Technik, des Handels und des Verkehrs. Westeuropa fiel in die Naturalwirtschaft zurück, aber sie wurde nicht mehr auf Grundlage gemeinsamer Arbeit und demokratischer Verwaltung betrieben, sondern auf Grundlage des Feudalismus und der Bauernwirtschaft und im Rahmen des Obrigkeitsstaates.

Die gesellschaftliche Reorganisation Europas im Mittelalter war das Ergebnis eines geschichtlich vollzogenen Kompromisses zwischen germanischem Gemeinschaftsrecht und römischem Privateigentumsrecht.

Im frühen Mittelalter war der demokratische und kollektive Charakter der Wirtschaft nicht gänzlich verdrängt, denn die Naturalwirtschaft verhinderte noch die Entfaltung der egoistischen Triebe des Sondereigentums. Die Struktur der germanisch-romanischen Gesellschaft war vom 5. bis zum 10. Jahrhundert etwa folgende:

Es bestanden Dorfverfassung und Grundherrschaft (Fronhof). Die Bodenwirtschaft, damals die hauptsächliche Lebensquelle, wurde von Bauern betrieben, die auf Besitzungen wohnten, welche imstande waren, eine Familie von 5—18 Personen zu ernähren. Jede Besitzung umfaßte den Hof, das naheliegende Gartenland als festes Eigentum, dann hatte sie ein erbliches, unkündbares Nutzungsrecht an einem Teile des im Gemenge gelegenen Ackerlandes, das nach gemeinsamen traditionellen Regeln bebaut wurde, schließlich das Benutzungsrecht von Wald und Weide, von Fischwasser und Jagd (Allmende). Diese bäuerliche Besitzung wurde Hufe genannt und umfaßte etwa 15—18 Hektar. Sie war teils Privateigentum, teils markgenossenschaftliches Eigentum. Aber der Bauer war nicht mehr nach außen hin frei. Er hatte dem Grundherrn Spann- und Handdienste zu bestimmter Zeit zu leisten. Außerdem war es nicht sicher, wer der eigentliche Herr des Gemengelandes und der Allmende sei. Die Bauern nahmen an, daß sie als Markgenossen die Eigentümer dieser Ländereien seien, andererseits erhoben die Grundherren kraft des Feudalrechts den Anspruch auf alle in ihren Domänen gelegenen Ländereien. Die Frage wurde schließlich durch die Macht entschieden, und die größeren Machtmittel besaßen die Feudalherren. Hieraus entsprangen später die Bauernkriege. Länger als im germanisch-romanischen Kulturkreis erhielten sich die urkommunistischen Zustände bei den Schotten, Iren und den Ostslawen.

Handwerk und Kunst waren die Anhängsel des Fronhofes (der Grundherrschaft). Erst nach und nach lösten sich die Handwerker vom Fronhof ab und zogen zusammen mit den Kaufleuten in die entstehenden Städte, wo sie sich in Gilden und Zünfte organisierten.

3. Wesen des mittelalterlichen Kommunismus.

Der Kommunismus des Altertums, wie er uns in den hellenischen Spekulationen und Experimenten gegenübertritt, hatte vornehmlich staatliche und materielle Zwecke im Auge. Platos Streben bezweckte, einen tüchtigen athenischen oder gar hellenischen Staat zu errichten; die Spartaner in ihrer Blütezeit verfolgten eugenisch-soziale Zwecke: eine Gemeinschaft von Herrenmenschen zu erzeugen; die griechischen Schlaraffenträumer sehnten sich nach einem mühelosen Leben; Vergils Sinn war auf einen friedvollen, sorgenlosen Zustand, auf die Wiederkehr des saturnischen Zeitalters gerichtet. Von Seneca gilt dasselbe.

Was den Zweck anbetrifft, gleicht der antike Kommunismus dem modernen. Der Sinn beider ist im großen und ganzen aufs Irdische gerichtet. Es ist deshalb für die modernen Menschen so leicht, sich in der Antike zurechtzufinden, viel leichter als im mittelalterlichen Empfinden und Denken. Das antike und moderne Geistesleben ist wesentlich europäisch, vernunftmäßig, logisch, wissenschaftlich-kritisch; hingegen hat das mittelalterliche Geistesleben einen starken orientalischen, seelischen, irrationalen, mystischen Einschlag. Das religiöse Denken des Orientalen(4) kümmert sich kaum um logische Widersprüche und geschichtliche Anachronismen. Es nimmt keinen Anstoß daran. Den historischen Stoff sucht es nicht, kritisch zu prüfen, nach Raum und Zeit zu ordnen, unter eine allgemeine Theorie einheitlich zusammenzufassen; es hält ihn vielmehr für eine Oberfläche, unter der göttliche Geheimnisse zu entdecken seien; es nimmt die heiligen Schriften nicht wörtlieh, sondern erklärt sie allegorisch, sinnbildlich(5). Der Okzidentale sucht nach Tüchtigkeit, der Orientale nach Heiligkeit; jener strebt nach materiellen Erfolgen, dieser nach ewigen Werten, deshalb fällt er jenem politisch und wirtschaftlich so leicht zum Opfer.

Der mittelalterliche Kommunismus ist eine gesellschaftlich-sittliche Erhebung gegen die Zunahme der Privatwirtschaft und der weltlichen und kirchlichen Gewalt, die das Naturrecht, das Urchristentum und das germanische Gemeinschaftsrecht immer mehr verdrängten. Seine Geschichte ist in hohem Maße von religiös-philosophischen Gedanken und von religiös-sittlichen Beweggründen beherrscht. Die kommunistische oder besitzlose Lebensführung soll das Mittel sein, die Selbstsucht zu bezwingen, das Böse zu meistern und die soziale Gerechtigkeit zu begründen.

Der opferreiche Kampf um Kommunismus und soziale Gerechtigkeit wird genährt von religiösen Kräften, theologischen Auseinandersetzungen und den chiliastischen Überlieferungen. Diesen mystischen Kommunisten und Sektierern steht die Kirche im schroffsten Gegensatz gegenüber, sie bekämpft sie mit Feuer und Schwert. Denn sie sieht durch sie ihre weltliche Herrschaft, die mit den gleichzeitigen herrschenden weltlichen Mächten schon oft in Konflikte kommt, gefährdet. Dagegen unterstützt die Kirche die gleichfalls von kommunistischen Tendenzen ausgehenden Bestrebungen der Mönche, da sie von den weltlichen Bestrebungen isoliert und leicht kontrollierbar, sich auf die Klöster beschränken, oder, wie im Falle der Franziskaner (wie wir sehen werden mit Ausnahmen) sich mit Ausübung privater Wohltätigkeit und Armenpflege begnügen. Marx hat im Kommunistischen Manifest auf die religiösen Utopisten des beginnenden XIX. Jahrhunderts ein Wort geprägt, das sinngemäß auf alle von der Kirche ausgehenden „sozialen" Be-

strebungen Anwendung finden kann: „Nichts leichter, als dem christlichen Asketismus einen sozialistischen Anstrich zu geben, hat das Christentum nicht auch gegen das Privateigentum, gegen die Ehe, gegen den Staat geeifert? Hat es nicht die Wohltätigkeit und den Bettel, das Zölibat unddieFleischesertötung, das Zellenleben und die Kirche an ihrer Stelle gepredigt? Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der Pfaffe den Ärger des Aristokraten einsegnet."

4. Die klösterlich-kommunistischen Niederlassungen.

Unzufrieden mit der Verweltlichung, Veräußerlichung und Mechanisierung des Christentums durch den kirchlich-staatlichen Apparat, oder angewidert von dessen Verwandlung in eine wirtschaftlich-politische Machtorganisation mit antikommunistischen Bestrebungen, begannen in der letzten Hälfte des dritten Jahrhunderts ernste Christen sich von der Welt zurückzuziehen, auf alle irdischen Güter Verzicht zu leisten und ihr Leben in der Einsamkeit(6), in Nachdenken und Askese zuzubringen. Nach der Verbindung der Kirche mit dem Kaiser Konstantin, nach der Erklärung des Christentums zur Staatsreligion wurde die mönchische Bewegung lebhafter. Unter den mönchischen Pionieren ragt der aus Oberägypten stammende heilige Antonius (geb. 250, gest. 356) hervor, der als Sohn reicher Eltern sich um das Jahr 270 entschloß, seine Güter zu verschenken und in evangelischer Armut als Einsiedler in der ägyptischen Wüste zu leben. Sein Schüler Pachomius, ein Kopte, vereinigte die Einsiedler um das Jahr 320 und gründete auf der Nil-Insel Tabenna die erste klösterlich-kommunistische Kolonie oder wie sie auf griechisch so ausdrucksvoll heißt: Koinobion (von koinos, gemeinsam, bios, leben = gemeinschaftliche Lebensführung). Sie war eine aus mehreren Häusern bestehende Niederlassung, der ihr Gründer feste Regeln gab: Verzicht auf Privatbesitz, tägliche Handarbeit, gemeinsame Mahlzeiten, Gehorsam gegen den Leiter (den Abt), Askese (Entsagung).

In den ersten Jahrhunderten der Zönobien-geschichte (Klostergeschichte) gehörten die Mönche und Nonnen nicht zum Klerus, sondern waren Laien und konnten auch aus den Zönobien austreten. Viele lebten in der Ehe. Die Klöster waren damals nur fromme kommunistische Niederlassungen. Zu Ende des vierten Jahrhunderts wurde die Ehe schon als ein niederer Stand des christlichen Lebens betrachtet. Aber noch im sechsten Jahrhundert war das Eheleben unter den Zönobiten (Mönchen, Klosterinsassen) keine seltene Ausnahme. Erst später wurde die Ehelosigkeit zur unbedingten Regel des Mönchtums. Die Hochschätzung der Askese, sowie die Gefahr der Sprengung der kommunistischen Einrichtungen durch Familienvermehrung führten schließlich zu Ehelosigkeit, zur Regel des Zölibats.

Der Grundgedanke der klösterlich-kommunistischen Niederlassung war doch, sich von allen sozialen Gebilden und geistigen Richtungen fernzuhalten, die die Menschen an die Weltlichkeit und an das Böse knüpfen. Und das waren: Sondereigentum, Habsucht, Familie, Staat, Standesunterschiede, Herrschaftsverhältnisse, Zwang und Gewalt.

In Nordafrika, wo die kommunistischen Traditionen noch sehr wirksam waren, fand das Zönobien-system oder die Gründung von klösterlich-kommunistischen Kolonien rasche Verbreitung. Von dort übernahm es der Orient, Palästina, Syrien, Armenien, Kappadozien. Der Zudrang zu den Zönobien (Klöstern) war im Osten so lebhaft, daß Kaiser Valens (375—378) dagegen einschritt, jedoch ohne Erfolg. Und auch unter christlichen Schriftstellern erhoben sich Stimmen gegen die neue Bewegung, in der man — nicht ohne Unrecht — einen Protest gegen die Kirche witterte. Aber da die Zönobiten (klösterliche Kommunisten) im allgemeinen die Kirche in Ruhe ließen und da die kirchlichen Autoritäten selber erkannten, daß die neue Bewegung eine gefährliche Tendenz des urchristlichen Idealismus auf friedliche und harmlose Weise ablenkte, wurde sie gebilligt. Die vornehmsten Kirchenlehrer, Athanasius an der Spitze, stimmten ein und fanden schon in den Prophetenschulen des Alten Testaments, in den ägyptischen Therapeuten (einer Art Essäer), über die Philo berichtet, sowie in der Gütergemeinschaft der ersten Christengemeinden und in anderen Zügen der apostolischen Zeit Vorbilder des Mönchtums (Hasse-Köhler, Kirchengeschichte, 1864, I, 233). Christen aus allen Schichten der Bevölkerung, insbesondere aus den arbeitenden Klassen, strömten den Zönobien (Klöstern) zu. Zu Zeiten des Augustinus waren es in Afrika meistens Unfreie und Freigelassene, Bauern und Handwerker und sonstige Leute „von plebejischen Beschäftigungen", die sich den Zönobien anschlössen (zitiert bei Gieseler, Lehrbuch der Kirchengeschichte, 4. Auflage, I. Band, 2. Abt., Seite 252). Man darf annehmen, daß die arbeitenden Klassen damals überall das größte Kontingent zu den Zönobien lieferten. Augustinus stand zwar allen Volksbewegungen mißtrauisch gegenüber, aber er förderte das Zönobiensystem, um die Zirkumzellionen, die rebellisch-kommunistische Landbevölkerung Nordafrikas, zu zähmen. Die Kommunisten in den Zönobien schienen ihm weniger gefährlich als die außerhalb. Augustinus war ein großer Kirchenfürst und christlicher Staatsmann, hart und aufrichtig gegen sich, hart und rücksichtslos gegen Antidogmatiker und Rebellen. Nichts für sich, alles für die heilige Kirche, in der er das Gottesreich erblickte. Wenn Augustinus von der heiligen Kirche spricht, hört man alle Glocken Roms und Byzanz' läuten. Seine Vorliebe für die Zönobien und sein Kampf gegen die Zirkumzellionen erinnern an die Haltung der modernen sozialistenfeindlichen Staatsmänner, die sich bereit erklären, den Sozialisten besondere Inseln und Ländereien anzuweisen, damit sie dort ihre Experimente machen(7).

Das Zönobiensystem dehnte sich nach dem Abendlande aus, wo es zuerst Befremden und Widerwillen erregte. Die zönobitischen Niederlassungen fanden jedoch eifrige Förderer in den Kirchenvätern Am-brosius und Hieronymus, die dem Geiste des Naturrechts noch nicht entfremdet waren und die kommunistischen Auffassungen hochhielten.

Auf den Inseln der westitalienischen und der dalmatinischen Küsten entstanden zönobitische Institutionen (Klöster), ebenso in Südgallien. Die Neugründungen waren jedoch nicht einheitlich geregelt, und die Genossen zeigten auch weniger Disziplin, weniger Hingabe an das Ideal als im Morgenlande. Diesen Mängeln und Schwächen steuerte der große abendländische Zönobienpionier Benedikt von Nursia (geb. 480, gest. 543), der Gründer des nach ihm benannten Benediktinerordens. Auf dem Berge Cassino in Kam-panien (Italien) legte er ein Zönobium an, gab ihm im Jahre 529 eine Regel (Statuten), die mit der Zeit von sämtlichen Zönobien angenommen wurden. Drei Punkte zeichnen seine Regel aus: i. Handarbeit: die zönobitische Niederlassung soll möglichst durch eigene, gemeinschaftliche Arbeit alle Lebensmittel erzeugen, die sie nötig hat; 2. Verschärfung der Keuschheit: die Heiraten der Mönche sollen ungültig sein; 3. Verbot, die zönobitische Kolonie (das Kloster) wieder zu verlassen, nachdem die Aufnahme endgültig beschlossen war.

Die gute Disziplin und die gemeinschaftliche Arbeit wirkten Wunder. Sie haben zum Wiederaufbau West- und Mitteleuropas nach den Verheerungen der Völkerwanderung und der Kriege viel beigetragen. Verwüstete Gegenden, neu erschlossene Ländereien wurden urbar gemacht. Später wurden die zönobitischen Niederlassungen zu Stätten des Unterrichts, zu Archiven des antiken und mittelalterlichen Schrifttums. Manche beschäftigten sich mit dem Abschreiben der lateinischen Schriftsteller oder verfaßten Chroniken.

Die zönobitischen Produktionsgemeinschaften erwiesen sich als eine überlegene Wirtschaftsform, sowohl gegenüber der Latifundienwirtschaft und dem Kolonat des untergehenden Römerreichs wie gegenüber der Feudalwirtschaft des Frankenreichs. „Kein Wunder", schreibt Kautsky, „daß sich das Klosterwesen in der christlichen Welt rasch verbreitete und daß es zum Träger der Reste der römischen Technik, der römischen Kultur überhaupt wurde. Ebensowenig werden wir uns darüber wundern, wenn nach der Völkerwanderung den germanischen Fürsten und Grundherren die Klöster als die geeignetsten Einrichtungen erschienen, um eine höhere Produktionsweise in ihren Gebieten heimisch zu machen, und daß sie die Gründung von Klöstern ebenso begünstigten, ja oft veranlaßten... Während südlich der Alpen der Hauptzweck darin bestand, Zufluchtsstätten für Proletarier und mißhandelte Bauern zu sein, wurde nördlich der Alpen ihre Hauptaufgabe die Förderung der Landwirtschaft, der Industrie, des Verkehrs." (Vorläufer des neuen Sozialismus, 2. Auflage, i. Band, Seite 175—76.)

Reichtum, Bildung und Macht wurden nunmehr dem Mönchtum zuteil, ebenso die Freundschaft der kirchlichen und weltlichen Fürsten. Die Mönche hörten nach und nach auf, Genossen einer produktiven Gemeinschaft zu sein, und wurden zu Herren fremder Arbeit. Der Verkehr mit dem Klerus und den Feudalherren nahm den Mönchen die zönibiti-schen Tugenden der Entsagung, der Einfachheit und der Weltfremdheit. Die Äbte waren oft Gäste in den Palästen und Schlössern des Adels. Die Weltlichkeit zog in die Klöster ein und verwischte das Grenzgebiet zwischen Mönchtum und Klerus. Die asketischen Gestalten des frühen Mönchtums wurden seltener, an ihrer Stelle sah man wohlbeleibte, wohlgepflegte mönchisch gekleidete Männer, die fröhlich in die Welt blickten. Die Klöster füllten sich nicht mehr mit Personen aus den arbeitenden und unterdrückten Klassen, sondern mit Sprößlingen des Adels und im allgemeinen der höheren Stände.

Im Laufe des achten Jahrhunderts gerieten die Abteien vielfach in die Hände von Adeligen. Sie gaben den Ton an, der keineswegs in zönobitischem Sinne sein konnte. Die mit dieser Entwicklung unzufriedenen Mönche wurden um so strenger in ihrer Entsagung und Selbstkasteiung, oder sie versuchten, eine Reform des Mönchtums durchzusetzen. Ein derartiger Versuch ward von Benedikt von Aniane (774 bis 821) unternommen, der jedoch keine dauernde Wirkung zeitigte. Ähnlich erging es den meisten Reformversuchen jener Zeit. Die alte Benediktinerregel verfiel der Vergessenheit und „wo vollends ein Kloster in die Hände eines Laienabtes überging, zogen mit ihm oft Kriegsleute ein, die in den Gebäuden mit Weib und Kind hausten und den der Andacht und der Beschaulichkeit geweihten Ort durch Würfeln, Gelage und Jagd entweihten" (Hellmann, Frühes Mittelalter, in Weltgeschichte, herausgegeben von Hartmann, 1920, Seite 91). Das neunte Jahrhundert war überhaupt eine Zeit des sittlichen Verfalls. Das Frankenreich war politisch in voller Auflösung. Die Karolinger starben ab. Die Slawen, die Normannen, die Madjaren und die Araber brachen in die verschiedenen Teile des in sich gespaltenen Reiches ein; der Adel kämpfte gegen das Königtum; die Bischöfe, zum größten Teil den adeligen Geschlechtern entnommen, sanken zu politischen Agenten ihrer Familien herab. Um das Jahr 900 schienen Krone, Papsttum, Klerus und Mönchtum entartet.

Ein einigermaßen erfolgreicher Versuch, das Mönchtum zu reformieren, ging von dem im Jahregio gegründeten Kloster Cluny (Burgund) aus. Die Regel war im Sinne der Benediktiner gehalten, nur wurde sie strenger gefaßt. Sie forderte unbedingten Verzicht auf eigenen Besitz, jeden Einspruch ausschließenden Gehorsam und strenge Askese. Cluny bewirkte zwar durch seinen Ernst eine Reform der Klöster, wenigstens für ein oder zwei Jahrhunderte, aber es zog das Mönchtum in den Strudel der europäischen Politik, indem der Stifter von Cluny das Kloster unter den unmittelbaren Schutz des Papstes stellte. Die Verbindung des Mönchtums mit der Kurie wurde von großer politischer Bedeutung von dem Augenblicke an, als die Statthalter Christi den Kampf um die Oberherrschaft der Welt mit dem Kaisertum aufnahmen und ein Gregor VII., ein Charakter von heroischem Ausmaß, an die Spitze der Kirche trat.

Wie wenig dauerhaft die vielgerühmte cluniazensische Reform des Klosterwesens war, zeigen auch die Verordnungen der Pariser Synode vom Jahre 1291 zur Verbesserung des sittlichen Zustandes der Klöster. Unter diesen Verordnungen finden wir: i. Kein Mönch darf Eigentum haben... 3. Die Bischöfe müssen alle verdächtigen Türchen und Räume in den Klöstern vermauern... 10. Kein Mönch darf sein Schlafgemach außerhalb der allgemeinen Schlafhalle (Dormitorium) haben. Verboten ist ferner alles Streiten im Kapitel', aller Lärm im Kloster, der Besuch von Frauenspersonen, alle unerlaubten Spiele, Vogelfang, Jagd usw.... 21. Es dürfen nicht zwei Mönche in einem Bette liegen, sondern jeder einzeln und in der vorgeschriebenen Kleidung." Den Mönchen wird ferner verboten, Klostergüter selbständig zu pachten und mit den erzeugten Waren Terminhandei zu treiben (Hefele, Konziliengeschichte, 2. Auflage, 5. Band, Seite 867—869). Daß derartige Verordnungen nötig waren, beweist doch die Fruchtlosigkeit der früheren Reformversuche. Kein Wunder, daß der um jene Zeit wirkende Franz von Assisi keine Neigung zeigte, einen Klosterorden zu gründen.

Die weitere Entwicklung des Mönchtums gehört jedoch in ein späteres Kapitel.

Inzwischen halten wir an dem Ergebnis unserer bisherigen Untersuchung fest: die Germanen und das Christentum waren die lebendigen Kräfte, die auf den Trümmern des Römischen Reiches den Wiederaufbau Europas bewerkstelligten. Beide gingen von  Gemeinschaftsrecht und Demokratie aus, aber beide j wurden von den römischen privatrechtlichen und cäsaristischen Überlieferungen sowie von der wirtschaftlichen Entwicklung beeinflußt, so daß der Wiederaufbau ein Kompromiß zwischen Gemeinschaftsrecht und Privatrecht darstellte, wobei letzteres immer mehr an Raum gewann. Das römische Erbe hatte noch eine andere Wirkung: sowohl das germanische Kaisertum wie das römische Papsttum betrachteten sich als Universalmächte und traten in einen feindlichen Wettbewerb gegeneinander ein. Weltlicher und geistlicher Imperialismus rangen vom neunten bis zum vierzehnten Jahrhundert um die Weltherrschaft. Diese beiden Grundtatsachen: die Entwicklung vom Gemeinschaftsrecht zum Privateigentumsrecht, sowie der Kampf zwischen kaiserlichem und päpstlichem Imperialismus bilden den Kern der Geschichte des Mittelalters. Schließlich: die Proteste gegen diese Entwicklungen und die Versuche, zu den alten Zuständen des Urchristentums und der Germanen zurückzukehren, bilden die Grundlagen der mönchischen und ketzerisch-sozialen Bewegungen.

Anmerkungen

1) „Die Christen vergaßen bald die Grundsätze religiöser Duldsamkeit, welche sie unter den früheren Verfolgungen so laut geltend gemacht hatten." Man verlangte Verbote gegen das Heidentum, beschränkende Gesetze gegen das Judentum, die Todesstrafe gegen Ketzer. Der erste Ketzer, der dieser Strafe verfiel, war der Gnostiker Priscillian, der im Jahre 385 in Trier hingerichtet wurde. Die Hinrichtung wurde allgemein verabscheut. Indessen, Augustinus war schon der Ansicht, daß körperliche Strafen gegen Ketzer erlaubt und zweckmäßig seien. Leo der Große (Mitte des 5. Jahrhunderts) billigte selbst die Hinrichtung von Ketzern (Gieseler, Kirchengeschichte, 4. Aufl., i. Band, 2. Abt., Seite 237 ff.).

2) „Seit die kirchlichen Amter nicht mehr Gefahren und Verfolgungen, sondern Ehre und Macht verhießen, drängte sich alles zu denselben hin, und alle Künste, unwürdige Schmeichelei und niedrige Ränke wurden aufgeboten, sie zu erlangen und von niedrigen Stellen in höhere aufzusteigen. Sittlich Unwürdige drangen in den Klerus ein." Gieseler, Kirchengeschichte, 4. Aufl., i. Band, 2. Abt., Seite 308.

3) Nach Karl Marx ist dieser Satz (arva per annos rautant et superest ager) zu übersetzen: „sie wechseln die Felder jährlich und es bleibt noch Gemeinland übrig" (Marx-Engels, Briefwechsel, Bd. IV, S. 29).

4) Die Begriffe Orientale und Okzidentale werden hier nicht im geographischen, sondern im unterschiedlich geistigen Sinne aufgefaßt, da mir für die Unterscheidung zwischen religiösem und wissenschaftlichem Denken andere Bezeichnungen fehlen.

5) Als Beispiel darf das „Hohe Lied Salomonis" angeführt werden: die stark sinnliche Liebe des Mannes zum Weibe, die dort überschwenglichen Ausdruck findet, wird von Theologen aufgefaßt als „das Verlangen der Kirche nach ihrem Bräutigam, Christo".

6) Mönch kommt vom griechischen monachos = Einsiedler.

7) Wir werden später auf diese wichtige Frage noch zurückkommen. Denn mit dem Aufblühen des Zonobiensystems (Klosterwesens) hören die kommunistischen und chiliastischen Bewegungen in den Ländern plötzlich auf. Erst mit dem Niedergang des Mönchtums und den Versuchen, es zu reformieren, beginnt die spätmittelalterliche Ketzergeschichte; die kommunistischen und chiliastischen Elemente beginnen außerhalb der Kirche und im Gegensatz zu ihr zu wirken.
 

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S.148-170

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html