Auf dem Weg zur Klassenmedizin?
Ein Interview mit Nadja Rakowitz

von Peter Nowak
7/8-06

trend
onlinezeitung

Die Medizinsoziologin Nadja Rakowitz vom Zentrum für Gesundheitswissenschaften an der Universität Frankfurt/Main warnt im Gespräch mit Telepolis vor dem Mythos der Kostensteigerung im Gesundheitswesen.

Über die Gesundheitsreform wird auch nach der Koalitionsrunde heftig gestritten. Was ist der Kern dieser Auseinandersetzung?

N.R.: Die Vorschläge der Regierungsparteien sind im Kern ein neoliberales Projekt, weil das erklärte Ziel lediglich die Senkung der Lohnnebenkosten ist. Es geht also darum, die Arbeitgeber bzw. das Kapital finanziell zu entlasten und die Kosten den Versicherten bzw. Patienten aufzubürden. Bei der sogenannten Kostenexplosion handelt es sich aber um einen zählebigen Mythos. Schon in den 70er Jahren warnte der Spiegel vor einer Explosion der Kosten im Gesundheitswesen - und seitdem ist die Debatte fast die gleiche. Dabei zeigen alle Statistiken, dass die Ausgaben der GKV seit 30 Jahren Jahren durchschnittlich 6 – 7 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Die Ausgaben steigen also bloß parallel zum Bruttosozialprodukt. Von steigenden Kosten kann höchstens die Rede sein bei den Beitragszahlern und noch mehr: bei den Patienten. Die sind aber nicht gemeint, wenn in der Öffentlichkeit von der "Kostenexplosion" gesprochen wird.

Heute kommt der demographische Faktor hinzu.

N.R.: Das ist ein weiterer Mythos. Er argumentiert, dass alte Menschen häufiger krank seien. Das stimmt allerdings so nicht unbedingt, sondern nur für die unteren sozialen Schichten und nicht für die Menschen aus den Oberschichten, die können sehr gesund sehr alt werden. Es wäre hier also eher über die Lebens- und d.h. vor allem Arbeitsbedingungen der Menschen zu diskutieren, anstatt über ihr bloßes Alter. Außerdem zeigen empirische
Studien aus verschiedenen Ländern, dass das Lebensalter nicht generell ein Kostenfaktor ist. Ein weiteres gewichtiges Argument gegen das demographische Argument ist die historische Entwicklung. Die Gesellschaft in Deutschland hat zwischen 1900 und 2000 einen viel größeren demographischen Wandel hinter sich gebracht, als er für die nächsten 50 Jahre prognostiziert wird. Im Jahr 1900 kamen auf eine 65-jährige Person 12 Erwerbstätige, 2000 waren es nur noch 4. Ein erheblicher Teil dieses Wandels fand erst in den 50er und 60er
Jahren statt. Trotzdem wurde in dieser Zeit der Sozialstaat aus- und nicht abgebaut - allerdings unter anderen ökonomischen Bedingungen: Vollbeschäftigung, Reallohnzuwächse etc. Das zeigt, dass es den Sachzwang Demographie so nicht gibt. Das Problem muss als soziales und ökonomisches diskutiert werden.

Sind die Unterschiede zwischen SPD und Union taktisch oder gibt da noch unterschiedliche Positionen?

N.R.: Es geht bei den Differenzen vor allem um die Fragen der Steuerfinanzierung. Die SPD plädiert für eine stärkere Einbeziehung der Steuern. Doch selbst dadurch würde eine soziale Schieflage nicht aufgehoben, weil heute das Steueraufkommen zum großen Teil von den
Lohnabhängigen aufgebracht wird. Man darf nicht vergessen, dass die aktuelle Gesundheitsreform einen Vorläufer hat. Schon die rot-grüne Bundesregierung hat eine Gesundheitsreform auf dem Weg gebracht, die die Unternehmen um 0,9 %-Punkte beim Beitragssatz entlastet. Diese Regelung trat im Juli 2004 in Kraft. Diese massive Entlastung der Kapitalseite ging weitgehend ohne Proteste von Seiten der Gewerkschaften über die Bühne. Aber auch beim Zustandekommen dieser Reform spielten die Gewerkschaften nicht
gerade die Rolle des Kritikers. Es gab ein regelrechtes Stillhalteabkommen zwischen dem DGB und den Mitgliedsgewerkschaften, weil man der SPD nicht "in den Rücken" fallen wollte.

Fortschrittliche Mediziner warnen vor einer neuen Klassenmedizin durch  die aktuelle Gesundheitsreform. Ist das Panikmache oder Realität?

N.R.: Empirische Untersuchungen zeigen ganz klar, dass soziale Ungleichheit und Krankheit zusammenhängen. Z.B. leben Menschen mit Abitur im Durchschnitt 3 Jahre länger. Die Regelungen der letzten Gesundheitsreform wirkten sich tendenziell verschärfend auf das Verhältnis von Ungleichheit und Gesundheit aus. Und Gesundheitsreformen, deren oberster Zweck die Entlastung der Arbeitgeber ist, zeigen meines Erachtens deutlich den Klassencharakter solcher Politik. Die Klassenfrage ist also nicht bloß eine
zwischen gesetzlich und privat Versicherten.

Sie wenden sich gegen eine Politik der Sachzwänge. Wo sind die Alternativen?

N.R.: Es ist eine Frage der sozialen Kräfteverhältnisse. Wenn es massenhaft Druck auf der Straße gäbe, wäre eine andere Politik durchaus auch im Gesundheitswesen möglich. Es gibt verschiedene Alternativkonzepte. Die Gewerkschaften haben Konzepte einer Bürgerversicherung in der Schublade. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Gewerkschaften diese Konzepte zur Zeit nicht forcieren. Auch die Attac-Kampagne „Gesundheit ist keine Ware“ scheint zur Zeit eher zu versanden. So haben wir es hier mit der paradoxen Situation zu tun, dass es keinen nennenswerten gesellschaftlichen Widerstand
gegen die neoliberale Gesundheitsreform gibt, obwohl in weiten Kreisen der Bevölkerung - das ist zumindest mein Eindruck - die Meinung verbreitet ist, Gesundheit müsse ein letztes Refugium darstellen, welches nicht völlig der kapitalistischen Logik unterworfen werden soll.

Wie könnten Eckpunkte einer fortschrittlichen Gesundheitsreform aussehen?

N.R.: Auf finanzieller Seite könnte es sicher eine konsequente Bürgerversicherung kombiniert mit der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze und der privaten Versicherungen als Vollversicherung sein. Doch vor allem dürfen die strukturellen Probleme nicht vernachlässigt werden. Da wären die pharmazeutische Industrie eben so in den Blick zu nehmen wie die Hersteller der medizinischen Geräte und deren Verteilung. Die Medizin in Deutschland ist sehr gerätefixiert und dies wird durch die doppelte Facharztschiene strukturell gefördert. Die Nachfrage nach alle diesen Leistungen. wie Röntgen, ist allzuoft angebotsinduziert, d.h. von den interessierten Ärzten veranlasst, nicht weil die Patienten eine "Freibiermentalität" haben. Es gibt in Deutschland sowohl eine sehr hohe Ärztedichte als auch eine überproportional hohe Rate an solchen technischen Leistungen, die ja nicht nur gesundheitsförderlich sind. Auch die Strukturen der Ärzte wie die Kassenärztliche Vereinigung, aber auch die Hierarchien im Krankenhaus dürfen bei einer grundsätzlichen Reform nicht ausgespart werden. Warum nicht mal wieder über das "klassenlose Krankenhaus" nachdenken? Doch solche Maßnahmen wären gegen die starken Lobbyverbände nur durch einen massiven Druck von unten durchzusetzen, der zur Zeit nicht in Sicht ist. Im Moment werden diese Strukturen eher in eine andere - noch viel problematischere Richtung - aufgeweicht: nämlich durch eine Unterwerfung des Gesundheitswesens unter die kapitalistische Logik z.B. in Gestalt von Medizinischen Versorgungszentren und Krankenhäusern, die privates Eigentum
von Großkonzernen sind, und wir können uns sicher sein, dass dies die Verhältnisse im Gesundheitswesen dramatisch zuungunsten der Armen, Schwachen und Kranken verändern wird.
 

Editorische Anmerkungen

Das Interview erhielten wir von Peter Nowak zur Veröffentlichung.