Die Neue Rechte – antikapitalistisch und antiimperialistisch?
Auch ein Versuch zur linken Positionsbestimmung. Mit drei lustigen Aufgaben zum Selbermachen. 

Von Jörg Finkenberger[1]

7-8/03
 
 
trend
onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Für viele Linke scheint es noch nicht recht begreiflich zu sein, dass sie bei dem Unterfangen, die „Globalisierung“ zu kritisieren, Konkurrenz von Rechts bekommen haben. Ob NPD-Block auf Friedensdemo, ob 1. Mai der NPD in Frankfurt gegen den „Globalismus“ – die Aktivitäten vieler neo­nazistischer „Globalisierungsgegner“ stellen viele linke Aktive nach wie vor vor ein Rätsel. 

Waren Nazis nicht als reaktionär und antimodern identifiziert, und damit als systemkonform und systemerhaltend? Und wie passt denn das Bild vom ausländerjagenden Skinhead zur Propa­gierung von biologischem Landbau, internationaler Solidarität und Widerstand gegen den „Globalismus“? Sehen wir es uns an.

Das „Deutsche Kolleg“ – eine nationalrevolutionäre Theoriefabrik

Bereits seit 1964 bildet sich neben der Neuen Linken eine Neue Rechte heraus.[2] Dieses widerspruchs­volle Gebilde enthielt neben neokonservativen Tendenzen auch eine nationalrevoluti­onäre und militant antiamerikanische Komponente. 1964 wurden aus dem Nachlass der SRP so­wohl NPD als auch AUD gegründet. Die 1968er Bewegung marginalisierte die Neue Rechte zu­nächst. In den 1970ern stellte sie sich wieder her, und zwar sowohl neben der Neuen Linken (in den JN) als auch in ihren Nischen und Widersprüchen. Eine Schlüsselrolle spielte hierbei Henning Eichberg und seine Nationalrevolutionäre Aufbauorganisation (NRAO, SdV-NRAO, seit 1974), die den Kontakt zur Neuen Linken und zu Teilen der Anti-Atom- und Ökologie-Bewegung suchte und fand. Im Prozess der Bildung der Grünen und in der Friedensbewegung fischte Eichberg für seinen „grünen“ Nationalismus und für die nationale Identität jenseits der Westbindung. In der Tat gab es einen breiten Teil dieser Bewegung, die aus patriotischen Gründen mitmachte. Die Bewegung der 80er Jahre, die in der DDR zum Sturz der SED und zum Anschluss der DDR an die BRD führte, war nicht umsonst eine Ausläuferin der Friedensbewegung bzw. ihrer Vorläuferinnen seit 1968. 

In den 1980ern, nach dem Linksschwenk der Grünen, sammelten Eichberg und seine Leute linke und rechte Nationalisten aus Grünen, K-Gruppen und Neuer Rechter zum Nationalrevolutionären Koordinationsausschuss (oder –komitee; NRKA oder NRKK), der die Reste der Friedensbewegung ins nationale Fahrwasser lenken wollte. Die Idee einer deutschen Wiedervereinigung, der Abzug der „fremden“ Waffen und die Wiedererlangung nationaler Souveränität bildete das politische Hauptziel der Koordination. Aus diesen Tendenzen eines integralen Nationalismus und einer revo­lutionären Erneuerung Deutschlands kam der frühere 1968er Oberlercher nach 1990 zur NPD.  

1994 gründete er zusammen mit Uwe Meenen in Würzburg das „Deutsche Kolleg“.[3]  Es  gab sich den Auftrag, die Schulung der „Offiziere der revolutionären Streitmacht“ zu organisieren. Seit 2000 gehört auch Horst Mahler (Ex-RAF) zu den Köpfen des DK. Seitdem arbeitet das DK stark in der Öffentlichkeit. Bekannt geworden ist der Verein durch den Aufruf, bei seiner Reaktivierung 2000, in dem das Verbot der jüdischen Gemeinden in Deutschland gefordert wurde. Das DK veranstaltet Schulungen über Hegel, Marx u. a., die „dem ganzen Deutschen Volke“ offen stehen, und damit auch der „linken Reichshälfte“. Die Aktivierung einer nationalistischen Linken und die Eroberung des „linken“ Alltagsbewusstseins ist also erklärtes Ziel. Darauf hin ist auch die Theorieproduktion ausgerichtet. 

Interessant und wechselvoll sind die Beziehungen des DK zur Strömung um Worch, Steiner und Hupka. Diese, die sich von Michael Kühnen herleitet, begrüßte anfangs die Gründung des DK. Oberlercher trat als Redner bei der Gründung von Landesverbänden der Deutschen Alternative auf. Die Schulungsarbeit schien zu florieren. Ab 1993 öffnete sich die NPD für die ehemalige DA[4]. Michael Petri und Steffen Hupka überführten einen guten Teil des Nachlasses der Kühnen-Bewe­gung in NPD-Strukturen. Damit und mit der Gründung der „Deutschen Volksfront“ durch Uwe Meenen veränderte sich der Stellenwert des DK. Erst mit der Reaktivierung des DK nach dem Sommer 2000 baut das DK wieder feststellbar einen eigenen Flügel auf. Unter dem Druck der Verbotsdrohung stellte der Parteivorstand Steffen Hupka kalt. Das zweideutige Taktieren des NPD-Anwalts Mahler und seines Vertrauten Frank Kerkhoff (ebenfalls DK, Ex-KBW) führte zu erheblichen Kontroversen mit Hupka. Die veröffentlichten Pläne des DK zur Reform bzw. Neugründung der NPD stießen jedoch auf seinen Beifall. Inzwischen herrschen zwischen DK und den Kameradschaf­ten wohl gute geschäftliche Beziehungen. Inwieweit die fälligen Streitigkeiten um die Führung im Lager des nationalen Widerstandes ebenso eingegrenzt werden können, bleibt ein spannendes Thema in den nächsten Monaten.

Globalisierungskritik von Rechts

Grundidee des DK ist, dass die gegenwärtige Realität geprägt sei von der Durchsetzung des ameri­kanischen Imperialismus und Kapitalismus und den entsprechenden Ideologien. Dahinter wird als treibende Kraft das „jüdische Denken“ vermutet. Dessen Ausprägung sei namentlich die „Religion der Menschenrechte“. Die Idee, Menschen und nicht Völker könnten im internationalen Raum Rechte haben, gilt als ideologische Brechstange, die dem Imperialismus Zugriff auf die National­staaten verschafft, und damit als Angriff auf die Souveränität der „Völker“, mithin als „Völkermord“.

Dahinter steckt eine Absage an eine Grundlage der Neuzeit. Einzelne sollen nicht als Einzelne, als Menschen etwas gelten, sondern nur kraft ihrer Bindungen. Recht existiert, so das DK, nur als Staat, und dieser nur als das konkrete Dasein eines „Volkes“. Nur als einem „Volk“ zugehörig, einer Kultur und einer Geschichte (und einem „Boden“), haben Einzelne eine Bedeutung. Der uni­versale Geltungsanspruch der Menschenrechte, der das kulturelle Idyll des Völker-Zoos sprengt, wird denn auch auf den „Götter- und Völkermordkontrakt des jüdischen Volkes mit Jahwe“ zurück­geführt, das heißt auf den Monotheismus, die Idee überzeitlicher Werte und der Gleichheit der Menschen. Ob die historische Verortung des Monotheismus richtig ist, mag dahingestellt bleiben: Jedenfalls gilt der Angriff nicht allein der Moderne und ihrem Gleichheitsversprechen, sondern schon ihren frühgeschichtlichen Wurzeln; und er soll uns nicht nur hinter den Monotheismus zu­rückwerfen, sondern in eine andere Dimension weit jenseits von dem, was wir als Zivilisation ken­nen gelernt haben.

Die USA  gelten dem DK als erzböse und Urbild aller modernen Schrecken: „Die USA sind ein geschichtsloses Gebilde, ihr Kern besteht aus den Entwurzelten (Asozialen) Westeuropas, […]. Die Insassen der USA sind kein Volk […]. Sie sind eine Anhäufung von Individuen, sie fallen durch rohe und gewalttätige Gesinnung auf und kennen nur abstraktes Recht, das allein der Eigentumssiche­rung dient.“ Hier wird deutlich, wovon das antimoderne Ressentiment lebt: Bereits die Utopie von grenzenloser Freiheit, das pursuit of happiness, der bürgerliche Traum vom Individuum jenseits überkommener Bindungen gelten als Erbsünde der USA. Die Funktion des bürgerlichen Staates, nämlich das Eigentum und die Freiheit seiner BewohnerInnen zu schützen, ohne ihnen im übrigen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, gilt als Zeichen der Verderbtheit. Die Linke aber hatte zu Recht gerade darin den Vorteil der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber ihren Vorgängerinnen gesehen.

Der „Globalismus“ erscheint damit als Folge jener anfänglichen Weigerung einiger Verworfener, sich ihrer völkischen Bindung zu fügen. „Schon die Gründer des weißen Amerika […] waren daher Gesinnungsjuden, denen dann im 20. Jahrhundert richtige Juden mit leichter Hand die Macht über Amerika abnahmen.“ „Die blut- wie gesinnungsjüdische Macht schuf […] das judäo-amerikanische Imperium“. Es herrscht dank der Macht des „wurzellosen“ internationalen Finanzkapitals, der uni­versalistischen Menschenrechtsideolgie, des bürgerlichen Glücksversprechens und anderer moder­ner Greuel.

Diese Herrschaft des Wurzellosen, als die der „Globalismus“ erscheint, ist denn auch zu „been­den“: „Die USA müssen aufgelöst werde!“, und zwar in „echte Volkskolonien“ der europäischen Mutterländer. „Damit ist dann der blutigste Imperialismus der Weltgeschichte, das Anti-Imperium der Anti-Nation, abgewickelt“. Und deshalb sind alle Angriffe gegen die Anti-Nation „rechtens“, namentlich der des 11. 9. 2001: „Die militärischen Angriffe auf die Symbole der mammonistischen Geldherrschaft sind […] eminent wirksam und daher rechtens“. Denn „mit Allah ist Staat zu ma­chen, mit Jahwe nicht.“ Dennoch ist der entscheidende Schlag gegen das Anti-Imperium nicht der al Qaida vorbehalten, sondern anderen: den Führern des wiedererstandenen Deutschen Reiches.

Antiimperialismus und Viertes Reich

Was dem „US-Imperialismus“ gegenüber steht, sind die „Völker“. Dieser Begriff verweist einerseits auf das neurechte Konzept des „Ethnopluralismus“. Dieses Konzept dient seit den 1970ern als Begründung für einen modernisierten Nationalismus, der als „Befreiungsnationalismus“ daher kommt. Hier wird gelehrt, die „nationale Identität“ sei ein revolutionärer Faktor im Kampf mit dem Imperium. Nationale Souveränität sei nur herzustellen als Nebeneinander kulturell homo­gener, selbstbewusster Gebilde („Völker“). Hierbei dient kulturelle „Verschiedenheit“ als Mittel der Abgren­zung. Die Ethnopluralisten, in Deutschland gruppiert um die Zeitschrift „wir selbst“, predi­gen dabei die Vielfalt, aber eben vor allem in Polemik gegen den Globalismus und die nicht kul­turengebun­denen Verlockungen der Neuzeit, wie z.B. die Menschenrechte. Bei „wir selbst“ war Uwe Meenen  Anfang der 1990er Redakteur.

Andererseits verweist der Begriff „Völker“ nach eigenem Bekunden der Autoren auf die Terminolo­gie in den religiösen Schriften der Juden. „Völker“ sei hier die Übersetzung von „gojim“ (lat. gentes = dt. Heiden). Die jüdische Tradition vom auserwählten Volk sei, so suggerieren sie, die geistige Vorläuferin des eben „judäo-amerikanischen“ Globalismus. Für die „Völker“ in ihrem „Befreiungs­kampf“ gegen das Imperium postuliert das DK eine Führungsrolle des „Deutschen Volkes“. In Deutschland seien die „westlichen Werte und ihre Verwertung“ im Deutschen Idealismus Hegels zuerst aufgehoben worden. Deutschlands Niederlage und die Revolution 1918 habe die Welt und ihre „Völker“ dem Zugriff der „US-Ostküste“ ausge­setzt. 1933 habe Deutschland das erste Beispiel einer Nationalen Revolution gegeben. Erst durch die Wiederauferstehung Deutschlands als Reich werde dem Kampf der „Völker“ eine Führung gegeben.

Das trifft sich mit Gedanken, wie sie seit den 1990ern in der sog. „Mitte“ anzutreffen sind: Erst durch eine aktivere Rolle Deutschlands und Europas werde sich die „Globalisierung“, verstanden als Prozess amerikanischer Dominanz, „gestalten“ lassen. Die angeblich weniger aggressive Vor­gehensweise der EU-Kapitalismus wurde und wird von vielen Deutschlandfreunden ins Feld geführt, um für eine aggressivere Politik eben dieses Kapitals zu werben. Und die Linken haben es ja auch immer ge­schluckt. 

Das DK sieht als Voraussetzung des erfolgreichen Kampfes durchaus auch eine Einheitsfront mit Teilen der Linken als wünschenswert. Das antiimperialistische Konzept des DK verwendet denn auch bewusst linke Versatzstücke. Aber es kann sich wohl auch eines bestimmten Rückhalts sicher sein: das antiamerikanische Ressentiment vieler Linker wird auch in Zukunft viele Parallelen mit der Arbeit solcher Deutschlandfreunde bescheren.

Antisemitismus - die Deutsche Normalität[5] 

Man verstehe mich nicht falsch: ich will im Folgenden nicht die Realitäten des Kapitalismus, auch des amerikanischen, beschönigen. Aber wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass auf der Linken noch genügendes Bewusstsein davon vorhanden ist, dass es auch rückwärtsgewandte Kritik am Kapitalismus gibt.  

Wie uns Karl Marx gelehrt hat, produziert der Kapitalismus bei den an ihm Beteiligten Illusionen, d.h. falsches Bewusstsein. Auf der Oberfläche des kapitalistischen Prozesses erscheinen die Ver­hältnisse verkehrt. So erscheint Profit als Entgelt für den Beitrag des Kapitals zur Wertproduktion (welcher Beitrag allerdings null ist). Im Verhältnis des Zinskapitals scheint der Zins aber ohne Da­zwischentreten der Produktion aus dem Kapital selbst zu entspringen. Im Alltagsbewusstsein bildet sich das so ab, als ob im Gegensatz zur legitimen Bewegung des „produzierenden“ Kapitals das zinstragende Kapital nicht „produziert“, sondern lediglich Geschaffenes parasitär sich aneignet. Das Zinsverhältnis, als das auf die Spitze getriebene Kapitalverhältnis, führt den Widersinn der ganzen Produktionsweise deutlich vor Augen; da diese aber nicht durchschaut, sondern im Grund­satz akzeptiert wird, ist dem Oberflächenbewusstsein vor allem der Gedanke unheimlich, wie wenig gebunden, wie „wurzellos“ und wie wenig gemeinnützlich dieses zinstragende Kapital ist. Dabei ist dies nur das zu sich selbst gekommene Wesen des Kapitals selbst. 

Aus solchen Illusionen resultiert die in Deutschland so beliebte Unterscheidung in „raffendes“ und „schaffendes“ Kapital. Und diese wiederum verleitet dazu, Partei für das nationale und gegen das globalisierte Kapital zu ergreifen. Hinter dem nicht mehr begriffenem internationalen Kapital wird die Macht einer Verschwörung halluziniert, die für alles Schlimme in der Welt verantwortlich ist. Weil nicht begriffen wird, wie eine Gesellschaftsform Elend produziert, deren Grundlagen (Freiheit und Gleichheit des Austauschs von Waren in Privateigentum) doch so idyllisch sind, muss eine außerökonomische Macht dafür verantwortlich sein, dass alles so grauenhaft falsch läuft. Und da bietet sich Amerika an, das von Linken wie Rechten als Führungsmacht dieses „pervertierten“ Kapitalismus ausgemacht ist. Also müssen die USA von einer Verschwörung beherrscht sein. 

Ist das Welttheater erst einmal auf solche Weise für den Konflikt der Weltverschwörung gegen die „Anständigen im Land“ (die produktiven WarenbesitzerInnen) hergerichtet, geht alles wie von selbst: vom Verschwinden des „Mittelstandes“ bis hin zu Massaker an Schulen lässt sich alles als Amerikanisierung verstehen. Wie nahe dann Gedanken liegen, woher das kommt („jüdische Me­dienmacht“) oder wie dem abzuhelfen sei, ist absehbar.[6]

Drei Aufgaben zur Begründung eine linken Kapitalismuskritik

Vieles von dem, was wir beim DK sehen können, kennen wir aus der NS-Theoriebildung der Zwi­schenkriegszeit. Viele Vorstellungen aus dieser Richtung spielen aber auch bei Diskussionen auf der Linken eine Rolle. Oft sind, gerade in der Vulgärform, linke oder rechte Vorstellungen für viele von uns nicht unterscheidbar, weil ihnen der Unterschied nur undeutlich verfügbar ist und nicht in Gestalt einsatzbereiter Formulierungen. Anders gesagt: der Linken fehlt der Begriff ihrer kennzeich­nenden Besonderheiten, die sie von ihrem Gegenteil unterscheiden, in einem Besorgnis erregen­den Maße. Das bezieht sich auf die Weltpolitik genau so wie auf die Ausgestaltung einer Alterna­tive zur bestehenden Gesellschaftsordnung. Das könnte ein Grund sein, sich einmal mit der expli­ziten Formulierung dieses Gegenteils zu befassen. Möglicherweise muss heute eine Neuformulie­rung einer linken Position wieder mit der radikalen Kritik „linker“ Positionen beginnen. Dies wäre möglich anhand der Befassung mit den Konsequenzen, die von den entschiedensten Gegnern der Linken aus ihren Widersprüchen gezogen haben. 

Entschiedene linke Politik versteht sich als Politik der arbeitenden Klassen. Dies muss auch heißen: Politik vom Standpunkt der arbeitenden Klassen aus. „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein“ (Karl Marx). Die Interessen der arbeitenden Klassen selbst sind zu entwickeln und zu artikulieren, nicht die Botschaft vom Guten Menschen an die „Massen“ he­ranzutragen. Das können wir nur insofern, als wir selbst lohnabhängig Arbeitende sind. Hier zeigt sich unsere Schwachstelle bei der Organisation von eigentlichen ArbeiterInnen. Wir müssen die Wiedergewinnung der Industriearbeiterschaft als unsere erste Aufgabe begreifen. 

Wir kritisieren den Kapitalismus also nicht im Namen irgendeines Ideals oder einer Moral, sondern auf der Basis realer Interessen. Wir arbeiten für die Befreiung unserer Arbeit vom Kommando des Kapitals und für unsere Befeiung von der Arbeit. Schon Marx hat darauf hingewiesen, dass nur der Kapita­lismus imstande ist, diese Befreiung vorzubereiten. Denn als einzige Produktionsweise in der Über­lieferung lebt der Kapitalismus erstens von der ständigen Ausdehnung der Produktion und ermög­licht so die Ausdehnung der Produktion auf ein Niveau, das Freiheit denkbar (und organi­sierbar)  macht. Nur der Ka­pitalismus besteht zweitens förmlich darin, die gesellschaftlichen Ver­hältnisse beständig umzuwäl­zen. Deshalb war der Kapitalismus als einziges fähig, die alten feuda­len, vormodernen Bindungen der Menschen zu lösen. Indem er sie für den Markt verfügbar machte, entriss er sie ihren alten, aussichtlosen Knechtschaften. Keine andere Gewalt war fähig, die Finsternisse von Stamm, „Volk“, Sippe oder Kult aufzulösen und die Bindungen auf die, wie Marx ironisch bemerkt, „gefühllose baare Zahlung“ zu reduzieren.[7] Und schließlich entwickelte erst der Kapitalismus so­wohl die Bedürf­nisse der Menschen als auch ihre Fähigkeiten, vom Niveau der BarbarInnen zu den urba­nen, anspruchsvollen und komplizierten Wesen des 21. Jahrhunderts. 

Diese konkreten Erscheinungen der bürgerlichen Freiheit, also der Freiheit, als Gleiche am Waren­austausch (auch der Ware Arbeitskraft) teilzunehmen, und der Reichtum, der auf diese Weise pro­duziert wird, sind Elemente des bürgerlichen Glücksversprechens. Wir werden nicht umhinkommen, dieses ernstzunehmen. Bei allem Wissen um ihre unzureichende Erfüllung haben wir als Arbeits­grundlage nur diese Versprechen von Freiheit und Gleichheit und Wohlstand bzw. ihre Widerspie­gelung im Oberflächenbewusstsein unserer Leute.[8] Wem das zu wenig für politische Bewegung ist, soll erklären, was denn sonst die Leute in Osteuropa 1989/90 geritten hat als dieses Glücksver­sprechen. Die Antisemiten haben als Ansatzpunkte im Bewusstsein der Leute die oben genannten; wir haben die. 

Nur wenn dies hält, können wir eine freiheitliche, nichtnationalistische Perspektive gewährleisten. Aber die Arbeit kann hier nicht stehen bleiben. Von den Grundelementen der bürgerlichen Ideolo­gie und ihrem Glücksversprechen aus muss die Kritik des Kapitalismus entwickelt werden. Linien dafür zeichnen sich in alle Richtungen ab: die kapitalistische Produktionsweise ist erstens nicht in der Lage, ohne einen starken Reformismus ihre Freiheitspotentiale auszuschöpfen. Die Einrichtung von Verhandlungsgleichgewicht allein auf dem Arbeitsmarkt erfordert Sozialversicherungen, freie Gewerkschaften, gesetzliche Regulierungen. Die Reproduktion der gesellschaftlichen Arbeitskraft braucht Gesundheits- und Bildungssysteme, die unter dem Zugriff des Kapitals regelmäßig ver­kommen. Die Gewährleistung von Kapitalsbesitz durch Steuerverzicht in den letzten 25 Jahren schließt via Arbeitslosigkeit Millionen ArbeitskraftbesitzerInnen von Verkauf ihrer Ware faktisch aus. Die aus den beiden letzten Gründen unterbleibende Reichtumsproduktion steht einem entspre­chendem Wohlstandsverlust bei Infrastruktur, Industrie und Humandienstleistungen gegenüber (Unterinvestition, „Dienstleistungslücke“). Und was der weiteren schlimmen Dinge noch sind.  

Letztlich entstehen diese alle aus den selben Ursachen wie die Verheißungen des Kapitalismus. Und letztlich ist es diese Ambivalenz, die uns zu schaffen macht. Denn der Kapitalismus kann in unse­rem Sinne nur aufgehoben werden durch sein Produkt, durch die Macht  der selbstbewussten, un­abhängigen Arbeitenden, die ihre Ansprüche ans Leben nicht eingelöst finden und sich fähig füh­len, die Sache selbst zu organisieren. Das zeigt allerdings auch, wie sehr weit wir von alledem sind. Aber der vorgeschlagene Weg ist klargeworden: die Aufgabe heißt, die Elemente des bürgerlichen Glücksversprechens im Oberflächenbewusstsein aufzunehmen und kapitalismuskritisch zu radikali­sieren. Das ist die zweite Aufgabe

Mittlerweile dürfte klar sein, dass in einem solchen Modell jedenfalls kein Platz mehr ist für Teil­nahme am auch in der Neuen Mitte beliebten Jammern über Werteverfall, Kommerzialisierung der Kultur, Anonymität der Großstädte bzw. sog. Massengesellschaft, mangelnde Hilfs- oder Opferbe­reitschaft der Leute (jedenfalls vor der Flut), zuwenig Zusammenhalt und Füreinander-Einstehen[9], Egoismus allerorten und darniederliegender Nationalstolz. Zur Freiheit des Marktes gehört, keine Pflichten zu haben außer in Geld ausdrückbare, und keine Autorität zu respektieren als das eigene Bedürfnis.[10] Komplexe Phänomene wie „Auseinanderbrechen der Familien“, Hollywood oder Internati­onalisierung der Ökonomie sind nicht pauschal zu verdammen, sondern kritisch zu analy­sieren, inwiefern sie Gewinn an Freiheit, Reichtum  und Glück versprechen (und für wen) und in­wiefern sie andererseits neues Elend produzieren.  

Und  wenn es wahr ist, dass die Zusammenhänge der ökonomischen Prozesse durch Illusionen verdunkelt wird, die der Prozess selbst produziert, dann müssen wir unsere Kenntnis davon wieder vertiefen. Unsere Kenntnis der ökonomischen Theorie und unsere Kritik müssen vertieft werden. Bis zum Beweis des Gegenteils geht das immer noch nur aufgrund der Vorarbeiten von Karl Marx. Nur wenn wir damit lernen und vermitteln  können, wie bereits bei korrektem Ablauf der Dinge, ohne Dazwischengreifen einer Großen Verschwörung, der Kapitalismus ungeachtet seiner Versprechen Elend statt Reichtum produziert, besteht eine reale Chance. Die Kritik der ökonomischen Theorie muss aber nicht nur vermittelt, sie muss auch weiterentwickelt werden.  Das wäre die dritte Auf­gabe.

Anmerkungen

[1] Jörg Finkenberger ist Sprecher der DGB-Jugend Würzburg.
[2] Zu diesen Zusammenhängen vgl. Finkenberger, Neue Mitte und Deutsche Ideologie, Sozialismus 10/2001
[3] Im Folgenden als „DK“ abgekürzt. Im Internet einsehbar unter www.deutsches-reich.de. Ich zitiere im Folgen­den aus Texten auf diesem site. Ich verzichte aber darauf, Zitate im einzelnen nachzuweisen.
[4] Der ehemaligen Wahlpartei der Kühnen-Bewegung.
[5] Der Ausdruck stammt von dem gleichnamigen Buch, Hg. AK Kritik des deutschen Antisemitismus, ca ira, Freiburg 2001, das hiermit empfohlen sei.
[6] Es wurde darauf verzichtet, die Vorstellungen des DK von Ökonomie darzustellen. Wie es sich sein Reich einrichten will, ist aus den Papieren Oberlerchers ablesbar. Es ist auch so spannend nicht. Der Antikapitalis­mus besteht in Reglementierung, Regionalisierung, Garantien von Mindestbesitz, Reichsarbeitsdienst und im Übrigen Gewinnung der Herrschaft der Politik über die Ökonomie und Unterwerfung ausländischer Direktin­vestitionen unter strategische Planung des Reiches.
[7] Und, wie man jetzt sieht, ist auch nur das Interesse des Kapitals heute fähig, eine Diskussion über Ganztags­schule auf den Weg zu bringen: auch das ist teilweise Liquidation der „Familie“.
[8] Die Gewerkschaftsjugenden wissen das auch, und haben deshalb die Kampagne „Her mit dem schönen Leben“, www.hmdsl.de .  
[9] Was über den „Zusammenhalt“ gesagt ist, gilt übrigens auch für den „rheinischen Kapitalismus“. Und wenn Oskar Lafontaine die Verteidigung des Kündigungsschutzes sinngemäß damit begründet hat, dieses soziale Element gehöre zur Kultur des „rheinischen Kapitalismus“, deren Sinn für gesellschaftlichen Zusammenhalt mit „amerikanischen“ Zuständen des hire and fire nicht vereinbar wäre (also eine politische Frage zu einer kulturellen umdeutet), dann sagt das sehr viel aus über die SPD und über Attac.
[10] Damit ist der Gegensatz zum Kommunitarismus hinreichend präzisiert. Kommunitarismus geht von einem Katalog ethischer Vorstellungen und Gemeinschaftstugenden aus, mit denen man Kapitalismus eben nicht in unserem Sinne produktiv kritisieren kann. Es kann uns eben nicht um den „Zusammenhalt unserer Gesell­schaft“ gehen, der durch das „Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich“ bedroht wäre. Ich will nicht gesellschaftlichen Zusammenhalt mit dem deutschen Kapital organisieren, ich will mich von seiner Macht befreien. Und vor allem will ich mich nicht dahingehend belehren lassen, welche Pflichten ich gegen­über „meiner“ Gesellschaft hätte. Ich bin doch keine Ameise. Ich kann übrigens auch nur davor warnen, die Kommunitaristen als von Fall zu Fall „nützliche Idioten“ zu sehen. Wenn wir mit den Moralaposteln verwech­selt werden, schadet uns das. Die Leute wollen ihre Freiheit und ihr Glück und nicht von uns gesagt bekom­men, was sie tun und wie sie denken sollen. Die Ära der erhobenen Zeigefinger muss auch für die Linke, wie aller Asketismus, mal ein Ende haben. (Mal abgesehen davon, dass „Arm und Reich“ als Kennzeichnung der gesellschaftlichen Gegensätze uns weit hinter Marx zurückwirft.)

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns seinen Artikel am 11.8.03 zur Veröffentlichung.