Vor 35 Jahren
Panzer in Prag

7-8/03
 
 
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In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 besetzten Truppen des Warschauer Pakts die Tschechoslowakei. Vor allem im Stadtbild von Prag waren Massen von sowjetischen Panzern präsent. Konfrontationen zwischen Menschenansammlungen und Panzerbesatzungen prägten in den folgenden Tagen die Nachrichten. Im Wesentlichen blieb es aber bei Wortgefechten; tatsächlich war nur ein Minimum an militärischer Gewalt erforderlich, um das Kräfteverhältnis ganz schnell zu klären, und die Truppen des Warschauer Pakts hielten sich präzise und diszipliniert an dieses Minimum. Die Gesamtzahl an Toten in jenen Tagen wird mit etwa 50 angegeben.

Nicht sowjetische Besatzungsbehörden waren es, die nach dem 21. August das Ende des sogenannten Prager Frühlings durchsetzten; tatsächlich griffen die Truppen aus der Sowjetunion und den anderen "Bruderländern" überhaupt nicht direkt in die Innenpolitik der CSSR ein. Es waren auch nicht willfährige tschechoslowakische Politiker, die diese Arbeit übernahmen. Man behauptete zwar, daß eine Gruppe aufrechter Marxisten-Leninisten in der KPC um die Intervention des Warschauer Pakts gebeten habe - aber niemand von ihnen trat damals namentlich in Erscheinung. Maßgebliche Politiker des Prager Frühlings, an erster Stelle auch Parteichef Alexander Dubcek, blieben nach dem 21. August 1968 zunächst im Amt und führten selbst die Demontage ihrer Reformpolitik aus. Offenbar hatten sie immer noch die Hoffnung, Teile davon auch über die Militärintervention hinwegretten zu können. Dieser Versuch mißlang jedoch vollständig; er demonstrierte letzten Endes nur wieder einmal die Vergeblichkeit und Fragwürdigkeit, unter solchen Voraussetzungen unbedingt "mitgestaltend" auf seinem Posten auszuharren.

Prager Frühling

Alexander Dubcek, Leiter der slowakischen Parteiorganisation, war vom ZK in den ersten Januartagen 1968 anstelle von Antonin Novotny zum Ersten Sekretär der KPC gewählt worden. Diese Ablösung erfolgte ohne öffentliche Begründung; es hieß lediglich, daß künftig das Amt des Parteichefs von dem des Staatspräsidenten - das Novotny noch bis zum März 1968 beibehielt - getrennt werden solle. Es machte aber keine Mühe, Novotnys "Sturz" als Teil eines Richtungsstreits in der Parteiführung über Weg und Tempo der Reformpolitik zu entschlüsseln.

Grundsätzlich zweifelte offenbar nicht einmal die KPdSU-Führung an der Notwendigkeit, den schon seit den 50er Jahren amtierenden, als unflexibel geltenden Novotny abzulösen und einen Strukturwandel, besonders auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Planung und Leitung, durchzuführen. Bei der Reformpolitik ging es aus sowjetischer Sicht gleichzeitig darum, durch kalkulierte und begrenzte Maßnahmen von oben den "verschiedensten kleinbürgerlichen, reformistischen, nationalistischen und anderen, dem Sozialismus feindlichen Ansichten und Stimmungen" zu begegnen, die sich in der Tschechoslowakei seit Mitte der 60er Jahre ausgebreitet hatten. Die gemeinten Tendenzen waren vor allem unter den Schriftstellern und anderen Künstlern, unter den Journalisten, Studenten und einem Teil der Akademiker sehr stark.

Auf dem Kongreß des Schriftstellerverbands Ende Juni 1967 war starke Kritik an der Kulturpolitik der KPC, aber auch allgemein an der "Korrumpierung durch die Macht" sowie (im Zusammenhang mit dem israelisch-arabischen Juni-Krieg) an der Nahostpolitik der sozialistischen Staaten vorgetragen worden. Das ZK der KPC hatte sich Ende September 1967 mit diesen Vorgängen befaßt und eine Reihe scharfer Maßnahmen beschlossen: Die Hauptträger der Kritik (die einige Monate später als literarische Wortführer des Prager Frühlings Auferstehung feiern sollten) wurden aus der Partei ausgeschlossen; das Präsidium des Schriftstellerverbands wurde aufgelöst und seine Zeitschrift unter Regierungskontrolle gestellt. Bald aber wurde deutlich, daß es über dieses repressive Vorgehen in der Führung der KPC keine wirkliche Einigkeit gab. Schon im Oktober 1967 richtete Novotny gegen Dubcek, der damals noch Parteichef in der Slowakei war, den Vorwurf, er führe in seinem Landesteil die Beschlüsse nicht durch.

Wenige Wochen nach der Ablösung Novotnys wurden die im September 1967 beschlossenen Maßnahmen aufgehoben: Der Schriftstellerverband durfte sich ein neues Präsidium wählen, das vor allem in der Person seines Vorsitzenden Eduard Goldstücker, eines bekannten Kafka-Spezialisten, eindeutig als parteikritisch definiert war. Außerdem wurde dem Verband gestattet, eine neue Zeitschrift in eigener Verantwortung herauszugeben; das wurde die "Literarni Listy", sozusagen das künftige Zentralorgan aller Kräfte, die die Reformpolitik beschleunigen und radikalisieren wollten. Als sein Programm verkündete das Blatt den Übergang "von der totalitären Diktatur zur offenen Gesellschaft, zur Liquidierung des Machtmonopols und zur wirksamen Kontrolle der Machtelite durch freie Presse und öffentliche Meinung".

Es folgte eine Welle weiterer Rücktritte, Umbesetzungen und Neuernennungen. Besonders in den Bereichen Ideologie und Propaganda, Kultur sowie im Sicherheits- und Repressionsapparat fand ein massenhafter Austausch des Leitungspersonals statt. Abgelöst wurden im März/April 1968 u.a. die Führungen der Gewerkschaften, des Jugendverbands und des Dachverbands der Genossenschaften, der Innenminister und der Verteidigungsminister. Zugleich mit der Absetzung des "Chefideologen" Jiri Hendrich Anfang März wurde durch Beschluß des ZK-Präsidiums praktisch die Medienzensur abgeschafft.

Wichtige Veränderungen vollzogen sich auch in den Parteien der sogenannten Nationalen Front, die bis dahin ein ähnlich abhängiges und reduziertes Dasein gefristet hatten wie die Blockparteien in der DDR. Die katholische Volkspartei wählte ihren Vorsitzenden ab, beschloß die Ausarbeitung eines "christlich-sozialistischen Programms neuer Tendenz" und gab ihre Absicht bekannt, Kontakte zu allen christlich-demokratischen Parteien aufzunehmen. Auch die Sozialistische Partei tauschte ihre Leitung aus.

Anfang April 1968 nahm das ZK der KPC ein "Aktionsprogramm" als Grundlage der weiteren Reformpolitik an. Proklamiert wurde dort u.a. die Gewährleistung der Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, "um gesetzlich garantierte Möglichkeiten zu schaffen, freiwillige Organisationen, Interessengemeinschaften, Verbände usw. zu bilden (...), die keinen bürokratischen Einschränkungen durch monopolisierte Rechte irgendwelcher Organisationen unterliegen". Auch die Meinungsfreiheit sollte gesichert werden. "In der Presse muß es möglich sein, andere Ansichten als die offiziellen des Staates, der Parteiorgane und der Publizistik zu vertreten." Die BürgerInnen sollten ohne Einschränkungen ins Ausland reisen können. Die Nationale Front sollte zu einem echten Kontroll- und Beschlußinstrument anstelle eines bloßen Akklamationsorgans der KP werden. Den Unternehmen sollte "relative Unabhängigkeit von den Staatsorganen" eingeräumt werden, und die Gewerkschaften sollten zu wirklichen, selbständig agierenden Interessenvertretungen der Arbeiter werden.

Die "Bruderparteien" werden unruhig

Dieses Programm und überhaupt die Praxis der tschechoslowakischen Reformpolitik widersprachen so grundsätzlich den traditionellen Herschaftsmethoden aller "Bruderparteien", daß sie dort zwangsläufig größte Besorgnis hervorriefen. Am meisten sorgte sich, auch das durchaus nicht überraschend, die SED, die der KPC-Führung schon auf einem Treffen in Dresden im März 1968 ihren entschiedenen Widerspruch vorgetragen hatten. Nachdem SED-"Chefideologe" Kurt Hager diese Kritik Ende März auch öffentlich formuliert hatte, gab es in den Medien der CSSR einen Sturm der Empörung. "Wir regeln unsere Angelegenheiten selber", schrieb sogar das Zentralorgan der KPC. Die "unberechtigte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der CSSR", die zudem in einem beleidigenden Ton vorgetragen worden sei, wurde auch zum Anlaß eines offiziellen diplomatischen Protests. Der Streit mit den "Bruderparteien" war eröffnet.

Anfang Mai 1968 reiste Dubcek zu Gesprächen nach Moskau. Offiziell verlautete lediglich, man habe "in freimütiger kameradschaftlicher Atmosphäre" miteinander gesprochen, aber Dubcek ließ sich nach seiner Rückkehr in einem Interview immerhin den Hinweis entlocken, die sowjetischen Freunde hätten ihre Besorgnis geäußert, daß der Reform- und Demokratisierungsprozeß gegen den Sozialismus und gegen die Sowjetunion mißbraucht werden könnte. "Prawda" und "Iswestija" wurden wenige Tage später sehr viel deutlicher: Demokratisierung und Liberalisierung seien "raffinierte Losungen unserer Feinde aus dem imperialistischen Lager", um die führende Rolle der Partei und die Einheit der Werktätigen in den sozialistischen Ländern zu schwächen und zu zerstören. Die Parole der Nichteinmischung sei "eine Frucht der bürgerlichen Ideologie und gefährlich für das Schicksal des Sozialismus".

Vom 20. bis 30. Juni fanden Kommandostabsübungen des Warschauer Pakts u.a. auf dem Gebiet der CSSR statt, die erhebliche Beunruhigung in den tschechoslowakischen Medien hervorriefen. Willy Brandt, damals Bundesaußenminister, behauptete, ihm lägen Informationen vor, daß 10.000 bis12.000 Soldaten dauerhaft in der CSSR stationiert werden sollten.

2000 Worte

Am 27. Juni wurde in mehreren tschechoslowakischen Zeitschriften gleichzeitig der Artikel "2000 Worte" von Ludvik Vaculik veröffentlicht, der die Unterschriften von rund 70 weiteren bekannten Vorkämpfern des Prager Frühlings trug. Der Text enthielt zum einen eine vernichtende Kritik der Politik der KPC bis zur Einleitung der Reformpolitik. Er forderte zweitens eine Beschleunigung und Ausweitung des Reform- und Demokratisierungsprozesses: Kampagnen und Kampfmaßnahmen gegen alle Leute, "die ihre Macht mißbraucht haben"; Bildung von "Bürgerausschüssen" als faktisches oppositionelles Netzwerk; massive Einflußnahme auf die Bezirks- und Ortspresse, u.a. durch die Einsetzung von "Redaktionsräten"; Aufstellung eines eigenen "Ordnerdienstes" zum Schutz von Veranstaltungen.

Der Artikel nahm drittens zu den Vermutungen Stellung, "daß ausländische Kräfte in unsere Entwicklung eingreifen könnten". Für diesen Fall hieß es, man solle der Regierung "zu verstehen geben, daß wir notfalls mit der Waffe hinter ihr stehen werden, solange sie das tun wird, wofür wir ihr unser Mandat geben werden". Zugleich wurde gegenüber den sozialistischen Ländern versichert, daß die CSSR alle Verträge einhalten werde.

Die Führung der KPC wies die "Erklärung der 2000 Worte" noch am Tag ihres Erscheinens in scharfer Form zurück. Den Verfassern und Unterzeichnern wurden zwar "gute Absichten" zugestanden, aber das Manifest wurde zugleich als "ernste Gefährdung der neuen Politik" und objektiv provokatorisch kritisiert. Im gleichen Sinn äußerte sich am nächsten Tag Ministerpräsident Cernik in einer Regierungserklärung, die vom Parlament einstimmig gebilligt wurde.

Die KPdSU ließ sich mit einer öffentlichen Antwort bis zum 11. Juli Zeit. An diesem Tag veröffentlichte die "Prawda" einen Artikel, in dem der 2000-Worte-Artikel als "Beweis für das Aktivwerden der rechten und ausgesprochen konterrevolutionären Kräfte" in der CSSR bezeichnet wurde, "die offenkundig mit der imperialistischen Reaktion liiert sind". "Einzelne Funktionäre der CSSR" (die aber namentlich nicht genannt wurden) hätten mit zwiespältigen Erklärung die Gefährlichkeit der "2000 Worte" zu verkleinern versucht. Zugleich wurde an die KPC die Erwartung gerichtet, "den reaktionären antisozialistischen Kräften eine entschiedene Abfuhr zu erteilen".

Am 14. und 15. Juli 1968 trafen sich die Chefs der "Bruderparteien" ohne Beteiligung der Tschechoslowaken in Warschau, um einen Brief an das ZK der KPC abzusegnen: "Die Entwicklung der Ereignisse in Ihrem Lande beunruhigt uns zutiefst. Die vom Imperialismus unterstützte Offensive der Reaktion gegen Ihre Partei und gegen die Grundlagen der Gesellschaftsordnung der CSSR birgt nach unserer ernsten Überzeugung die Gefahr in sich, daß Ihr Land vom Wege des Sozialismus abgedrängt wird und folglich die Interessen des ganzen sozialistischen Systems bedroht werden." Die Gefahr einer Lostrennung der CSSR von der sozialistischen Gemeinschaft werde man nicht hinnehmen.

Das Präsidium des ZK der KPC antwortete am 18. Juli: Es gebe zwar negative Tendenzen in der CSSR, man verstehe auch die Besorgnis der "Bruderparteien", aber für die Bezeichnung der gegenwärtigen Lage als konterrevolutionär und für Warnungen vor einer unmittelbaren Gefährdung der sozialistischen Ordnung gebe es keine reale Ursache. Die "Brüderparteien" könnten den Interessen des Sozialismus am besten dienen, indem sie der Politik der KPC vertrauten und diese voll und ganz unterstützten.

Auf diesen Briefwechsel folgte am 29. Juli bis 1. August ein Spitzentreffen zwischen KPC und KPdSU in dem tschechoslowakischen Ort Cierna nad Tisou und am 3. August eine Konferenz aller "Bruderparteien" in Bratislava. Das offizielle Kommunique enthielt scharfe Worte gegen den westdeutschen Revanchismus, Militarismus und Neonazismus, war aber in praktischer Hinsicht absolut nichtssagend. Dubcek wandte sich anschließend in einer Rundfunk- und Fernsehansprache an die Bevölkerung: Es gebe "keinen Grund für Sorgen über unsere Souveränität". Die Gespräche hätten "weiteren notwendigen Raum für unseren sozialistischen Erneuerungsprozeß erschlossen". Außer dem veröffentlichten Kommunique seien keine anderen Beschlüsse gefaßt worden. "Sorgen in dieser Hinsicht sind wirklich unbegründet."

Zwei Wochen später rollten die Panzer über die tschechoslowakische Grenze. Dubcek stellte sich zur Verfügung, "um Schlimmeres zu verhüten" - so lange, bis von der Reformpolitik nichts mehr übrig war und man auf seine weitere Mitwirkung verzichten konnte. Im April 1969 wurde er als Parteichef abgesetzt, im September 1969 aus dem Parteipräsidium ausgeschlossen

Einbahnstraße - wenden verboten!

Die tschechoslowakische Reformpolitik wurde als Bemühen zu einem "Sozialismus mit menschlichen Antlitz" verklärt. Daß dies auch in Medien geschah, die zum Sozialismus ein absolut negatives und zur Menschlichkeit ein zumindest zwiespältiges Verhältnis hatten, mußte von vornherein Anlaß zu Zweifeln sein. Das Spiel wiederholte sich etliche Jahre später anläßlich der Gorbatschowschen Perestroika- und Glasnost-Versprechungen. Anscheinend war die Rettung des Sozialismus durch demokratische Erneuerung ein echtes Herzensanliegen der Politiker und Agitatoren des Kapitals.

Beide Versuche, das realsozialistische Staats- und Gesellschaftssystem zu reformieren, ohne es entscheidend zu beschädigen, unterlagen dem gleichen Irrtum: Daß es möglich sein könnte, sich irgendwo zwischen monopolistischem Führungsanspruch einer Partei und einem echten Parteien- und Meinungspluralismus dauerhaft einzurichten. Wenn man die freie Gründung von Organisationen zuläßt, wird man letzten Endes auch die Entstehung von Oppositionsparteien ertragen müssen. Diese wiederum machen letzten Endes nur in Verbindung mit freien Wahlen Sinn, die zumindest hypothetisch auch die Möglichkeit eines Wechsels enthalten müssen.

Dagegen stand das für allgemeinverbindlich erklärte Modell der Sowjetunion, das selbst vor minimalen Risiken, etwa auf dem Gebiet der politischen Meinungsfreiheit, zurückschreckte. Hierbei war auch zu beachten, daß Konzessionen, die vielleicht in dem einen Land zu verkraften gewesen wären, als Beispiel auf das Nachbarland verheerend wirken konnten - hier konkret auf die DDR bezogen. Nach der Methode "Das langsamste Schiff bestimmt das Tempo des Konvois" mußte sich das Ausmaß möglicher Reformen an dem Staat mit der prekärsten innenpolitischen Situation orientieren.

Gemäß der Doktrin des Warschauer Pakts gab es für jedes Land, das irgendwann einmal, unter welchen Voraussetzungen und auf welchem Weg auch immer, Teil der "sozialistischen Staatengemeinschaft" geworden war, unter gar keinen Umständen mehr die Möglichkeit eines Wechsels. Denn jeder Wechsel hätte, so wurde zumindest argumentiert, nicht nur eine Schwächung des sozialistischen Lagers insgesamt bedeutet, sondern auch über kurz oder lang das prekäre Gleichgewicht zerstört, auf dem der sogenannte Weltfrieden - das heißt die Abwesenheit direkter militärischer Konflikte zwischen NATO und Warschauer Pakt - beruhte. Daraus ergab sich nicht nur das Recht der "sozialistischen Staatengemeinschaft", gegebenenfalls mit einer Militärintervention die Notbremse gegen unerwünschte Entwicklungen zu ziehen, sondern sogar die Pflicht zu einem solchen Eingreifen, sobald dieses als letzte Möglichkeit angesehen wurde, das "Herausbrechen" irgendeines Staates aus dem Block zu verhindern.

Dieses Zwangsmodell machte den Sozialismus in allen Ländern, in denen er noch nicht an der Macht war, denkbar unattraktiv, denn die Menschen lassen sich nur sehr ungern für alle Zeiten die Entscheidung über einen Wechsel abnehmen. Die meisten kommunistischen Parteien in der kapitalistischen Welt, die noch über einen echten Massenanhang verfügten, waren bemüht, sich vom Vorgehen des Warschauer Pakts hinreichend zu distanzieren.

Hat die Militärintervention die Existenz des realsozialistischen Blocks um 20 Jahre verlängert? Oder trifft die gegenteilige These zu, daß 1968 die letzte Chance verpaßt worden sei, den Sozialismus aus eigener Kraft zu reformieren und damit seinen Zusammenbruch abzuwenden? Die Fragestellung ist hypothetisch, eine eindeutige Antwort nicht mehr möglich. Die Tatsachen deuten darauf hin, daß ohne jede gewaltsame Einmischung der "Bruderparteien" in der Tschechoslowakei eine pluralistische Parteienstruktur entstanden wäre, die bald auch zu freien Wahlen und vermutlich zu einem Wahlsieg der Opposition gedrängt hätte.

Die Führung der KPC war völlig uneinheitlich in ihren Absichten - wie die individuellen Entwicklungen nach dem August 1968 ganz klar zeigten - und verfügte über kein gemeinsames Konzept, keine gemeinsame Strategie und Taktik. Sie befand sich in der Notwendigkeit, sich einerseits das Vertrauen der tschechoslowakischen Massen, andererseits aber auch das der "Bruderparteien" immer wieder sichern zu müssen. Dieser Spagat war glaubwürdig überhaupt nicht zu leisten, sondern bedeutete, daß man nach beiden Seiten hin die Unwahrheit sagte und wider besseres Wissen sprach. Im Grunde folgten die maßgeblichen Führer der KPC kaum noch eigenen Plänen, sondern nur der Logik des größeren Drucks. Die "Bruderparteien" reagierten auf diese Situation, indem sie den Druck immer mehr steigerten, damit aber auch die Verhältnisse in der CSSR immer mehr polarisierten und radikalisierten. Aber sie hatten ihrerseits absolut kein Konzept, um die Zeit, die sie vielleicht durch die Militärintervention gewannen, für eine Neuorientierung ihrer Politik zu nutzen.

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel wurde von Kt. erarbeitet. 
Er erschien in analyse & kritik - Nr. 417 am 27.08.1998. 
Die Datei ist eine Spiegelung von http://www.akweb.de/ak_s/ak417/34.htm