Die antinationale Nicht-Revolution 
Eine kritische Würdigung
 

Von Tilman Vogt

7-8/03
 
 
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Die Situation war bezeichnend: Im gut gefüllten Audimax der Münchener Universität eröffnete " der "spiritus rector der antinationalen Bewegung" (Die Zeit), Hermann Gremliza, den im Vorfeld als neue linke Gretchenfrage inthronisierten ("Wie hält's Du's mit SPOG ?") Kongress "Spiel ohne Grenzen. Gewollt erhaben verlas er eine aufgewärmte Collage aus alten konkret-Kolumnen, was dann mit dem selbststilisierenden Eigenzitat ("Dies schrieb ich `89 !") des zwar wegweisenden, aber auch dementsprechend bekannten Textes "Ami stay here" seinen Höhepunkt fand. 

Was da auf den ersten Blick als eitle Selbstüberhöhung daherkommt, offenbart sich bei genauerer Betrachtung als ernstzunehmendes Menetekel, was sich bald zum handfesten Desaster entwickeln könnte: Die antinationale Kritik ist am Stagnieren und somit, wie in der Politik üblich, am Beginn ihres Endes angelangt. Der gesamte Kongress bot kaum neue Erkenntnisse oder Impulse: Man wusste bereits davor, dass Rainer Trampert Imperialismus definieren kann, man wusste, dass ein großer Teil (je nach Gusto: alle) der Anti-Globals reaktionär-völkisch ist, ebenso wusste man, dass das Buch Empire eher als Zitatsammelsurium denn als eigenständiges und bündiges Konzept angesehen werden muss. Der ursprüngliche Angriffspunkt wird zur Litanei und letztendlich zum einschläfernden gegenseitigen Vorlesen der eigenen Bücher.

Die Problematik dabei ist weniger, dass das Feld der Globalisierungskritik schon vor dem Kongress zu Genüge beackert war, sondern dass die hervorgebrachte Ernte nicht hingehend eines neuen (Anti-) Politikansatzes weiterverarbeitet wurde: So machen wohl die meisten der knapp 400 Zuhörer Gremlizas flapsig-indifferente Aussage, er sei Kritiker und nicht Stratege, für
sich geltend. Bei vielen von ihnen kann man sich vorstellen, wie sie nach absolviertem SPOG-Lehrgang, mit gestärktem Arsenal in ihre Schulen/Unis/Autonomen Zentren zurückfahren, um dort in jeder Diskussion heroisch einsam den radikalst kritischen Querulanten zu mimen.
Man braucht nicht viel Phantasie, um in jenen wackeren Geisteskämpfern von heute die potentiellen Gemeinschaftskundelehrer der nächsten Generation zu sehen, die die jetzigen Schüler als ewig besserwisserische Alt-68er so verabscheuen. Eben diese Alt-68er zeichnen sich dadurch aus, dass sie den destruktiv-kritischen Kernpunkt ihres früheren Engagements konsequent in ein sozialpädagogisches konstruktives Denken umgewandelt haben, damit ihr systemkonformes Wirken das Kartenhaus der Lebenslüge nicht zu offensichtlich zusammenpurzeln lässt. So wurde früher antiautoritäre Konfrontation in einen der Entfremdung entgegenwirkenden Produktivitätsfaktor transformiert. Welch Frevel, sollten grundlegende
antinationale Ansätze in 20 Jahren beispielsweise dadurch missbraucht werden, nostalgischen Kleinbürgern die letzte Anhänglichkeit an die Nation zu Gunsten eines neuen europäischen Großmachtgebildes theoretisch plausibel auszutreiben.

Das gefährliche ist dementsprechend weniger der Verlust der Anhängerschaft, sondern die Vernichtung und Ummodelierung der Kritikansätze. So werden Pohrt, Poliakov und Postone in 20 Jahren aus den linken Regalen und Diskursen ebenso verschollen sein, wie es heute mit Krahl, Agnoli und Böckelmann geschehen ist.

Dem endlich entgegenzuwirken, wäre Aufgabe einer Linken, die ihr Dasein nicht als philosophisch-meditativen Selbstzweck betrachtet: Was an dem Münchener Kongress so frustrierte, war, dass die ohnehin schon extrem marginalisierte kritische Linke zum ersten Mal nach den Erfahrungen des 11. Septembers zusammentraf, und anstatt die Gelegenheit zu nutzen und sich über revolutionäre Perspektiven auszutauschen, einfach ein allseits akzeptierter Wettbewerb ausgerufen wurde, wer die ohnehin schon gar nicht mehr anwesenden Anti-Globals am konsequentesten und polemischsten abwatschte. In vielen Veranstaltungen verkam der Kongress zum reinen Identitätsaffirmationsseminar, was von der Kritik dann ebenso weit entfernt ist, wie McDonald's-smashende Globalisierungsgegner oder am Lagerfeuer klampfende Hippies.

Was sich heutzutage hingegen als linksradikaler und vernehmbarer Ausbruchsversuch aus der Selbstbespiegelung in die Öffentlichkeit offenbart, ist mehr als obskur: So sammelt man Geld, um den IDF dann stolz eine Panzertankklappe finanzieren zu können (für Israel wäre es sinnvoller, einfach mal Urlaub in Tel Aviv zu machen) oder kauft in Army-Stores (wo sonst nur Skins ihre Bomberjacken holen) mit Stars & Stripes besäte US-Devotionalien. In seinem links-pädagogischen Sendungsbewusstsein beschwört man inbrünstig die nächste "Atempause für Israel" und verweist bezüglich der akuten Bedrohungslage auf die Dringlichkeit der
bürgerlich-kommunistischen Einheitsfront. Die Frage dabei ist: Kann man sich ehrlich vorstellen, dass Situation innerhalb des jetzigen Systems wirklich besser wird? Mit welchem Feldzug wird die völkische Konterrevolution denn geschlagen sein, dass man sich der Waffe der Kritik, gemünzt auf den Kapitalismus, wieder bemächtigen soll? Ging es den Israelis während der Besatzung besser, wird es ihnen besser gehen, wenn einmal ein Staat Palästina existiert?

Wer seine gesamte Reflexionskraft in realpolitischen Weissagungen zermürbt, der muss sich nicht wundern, wenn er eines Tages bürgerliche Ideologie (wenn auch mit marxistischer Geschichtsphilosophie angereichert) reproduziert. Jedem, dem die Parole "Kapitalismus führt zum Kommunismus, Kapitalismus muss her!" dubios erscheint, sollte sich überlegen, ob mit der materialistischen Kritik nicht genug Rüstzeug gegeben ist, um auch den Antisemitismus am gewissenhaftesten zu bekämpfen, ohne unablässig das kleinere Übel des Kapitalismus
propagieren zu müssen.

Leider sieht es düster aus um das Geschäft dieser Kritik: Von Warenform und Wert wissen viele Antinationale nur aus Postones Text "Antisemitismus und Nationalsozialismus", die Debatte um
Klassenbewusstsein oder Spontaneität der Massen wird bei den meisten nur ein spöttisches Lächeln verursachen, denn: Man ist ja "Kritiker" und kein Stratege…

Dabei wer es höchste Zeit, die antinationalen Ansätze in eine umfassendere Kapitalismuskritik zu verweben, um so die Inhalte jenseits vom Füllen diverser Zeitschriften nutzbar zu machen. Weiterführend wäre es unabdingbar, den die gesamte Totalität umfassenden Begriff mit der Realität aktiv zu konfrontieren, so auf seine Wahrhaftigkeit zu überprüfen und damit in ein Engagement zu überführen, das sich seit langem wieder einmal als revolutionär bezeichnen lassen könnte. Durch den Ausbruch aus der linken Selbstbeschäftigung könnte einerseits die mittlerweile wohnlich eingerichtete Marginalität überwunden werden. Andererseits könnte dem Verlust der Inhalte entgegengewirkt werden, indem man die Gesellschaft unaufhörlich mit ihnen penetriert und sie dadurch entwickelt. Freilich wird es dabei vielerlei stürmische Kontroversen geben, nur sind diese allemal besser, als das stille Aussterben oder Degenerieren der vernichtenden Kritik am Konzept der Nation, welche Rosa Luxemburg zum ersten mal in ihrer Lenin-Demontage "Zur russischen Revolution" anklingen ließ.

Es gilt die simple und doch so schwere menschliche Minimalforderung Marxens "alle Verhältnisse umzuwerfen…"(aber das kennen wir ja) zum ureigensten Kern seiner Denk- und Handlungsaktivität zu machen und seine unmittelbaren Lebensverhältnisse nicht auszusparen.

In dieser Periode, wo wir von diesem Anspruch meilenweit entfernt scheinen, ist das wichtigste Problem nicht diese oder jene Detailfrage oder Taktik (Gremliza würde sagen "Strategie") sondern die Aktionsfähigkeit und revolutionäre Tatkraft der Massen überhaupt. Diese in Verbindung mit antistaatlichen und antinationalen Momenten wäre das Wesentliche und Bleibende einer neuen radikalen Bewegung. In der Linken kann das Problem nur gestellt werden. Es kann nicht in der Linken gelöst werden, es kann nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden. Und in diesem Sinn gehört die Zukunft überall den "Antinationalen".

Editorische Anmerkungen:

Der Autor nahm als Referent am SPOG-Kongress teil und schickte uns im Anschluss daran seinen Aufsatz mit der Bitte um Veröffentlichung.